Raum und Geometrie
Unterpunkt zu: Bildsyntax
Glossar-English:Space and Geometry
Raum als Grundkategorie der BildmorphologieDie Menge der syntaktischen Komponenten wahrnehmungsnaher Zeichen kann im Prinzip in zwei Gruppen aufgeteilt werden: Einerseits gibt es eine abstrakte relationale Basisstruktur. Sie spannt meist mehrere koordinierte Dimensionen auf, in welche die Elemente der zweiten Gruppe eingeordnet werden können. Letztere bilden Systeme perzeptueller Markerwerte, die es überhaupt erst erlauben, die zugrunde liegende Basisstruktur wahrnehmen zu können. In den Worten Kants formt die Basisstruktur eine reine Anschauung.[1] Bei Bildern ist die Basisstruktur der zweidimensionale Raum, wohingegen die Markerwerte im Wesentlichen aus Farben und Texturen bestehen, die die rein räumliche Struktur sichtbar machen. Aus diesem Grunde heißt über Bilder zu sprechen auch, über Raum zu sprechen. Die Regeln, die unser Sprechen über Raum organisieren (zumindest sofern dieses Sprechen als rational kontrolliert verstanden wird), sind mindestens schon seit der neolithischen Revolution mit der Einführung von Architektur, Ackerbau und den dazu benötigten aufeinander abgestimmten räumlichen Aktivitäten im Fokus der Aufmerksamkeit. Heute beeinflussen vor allem die Kalkülisierung der Geometrie im antiken Griechenland und ihre algebraische Reformulierung im 16. Jhd. die Konzeption des reinen Raums, der auch der Bildsyntax zugrunde liegt.[2]
Geometrische Kalküle als Formalisierung von RaumEin geometrischer Kalkül ist im Grunde genommen eine Menge von Regeln, die zuallererst die Möglichkeiten festlegen, über sogenannte geometrische Entitäten ganz im Abstrakten – d.h. ohne Bezug auf Konkreta mit kontigenten nicht-geometrischen Eigenheiten – zu reden. Diese Regeln bilden die begrifflichen Bestimmungen einer Menge räumlicher Begriffe. Die Begriffe für elementare geometrische Entitäten werden im Wesentlichen durch die Relationen bestimmt, in die sie miteinander eintreten können. Diese werden üblicherweise unterteilt in Beziehungen von Kontakt und Nachbarschaft (topologische Relationen),[3] Beziehungen, die Abstand und Ausdehnung betreffen (metrische Relationen)[4] und Beziehungen hinsichtlich Richtung und Orientierung (direktonale oder projektive Relationen).[5] Über geometrische Begriffe zu verfügen hat vor allem drei Auswirkungen:
Der Standardansatz zu geometrischen Kalkülen ist (1) Euklids axiomatisches System, das auf dem Begriff eines unausgedehnten aber eindeutig lokalisierten »Punktes« beruht: Dieser Begriff ist allerdings ziemlich abstrakt und verhältnismäßig weit entfernt von der konkreten Erfahrung mit Raum. (2) Eine Familie von Non-Standard-Geometriekalkülen, die im Wesentlichen erst im 20. Jhd. entwickelt wurde und kognitiven Prinzipien mehr gerecht zu werden versucht, bietet eine Formalisierung von Geometrie ohne dieses Problem und mit interessanten Eigenschaften für die Bildmorphologie: Mereogeometrien. Euklidische GeometriekalküleVor mehr als 2000 Jahren wurde das erste axiomatische System der Geometrie von Euklid vorgeschlagen.[9] Ausgehend von einer Menge grundlegender Postulate (sog. ‘Axiome’) können in diesem System Schlussfolgerungen gezogen werden, um formal (d.h. nur mittels logischer Deduktion) Theoreme über geometrische Objekte und deren Eigenschaften und Relationen zu beweisen. Die Diskussion dieses Ansatzes insbesondere über die Unabhängigkeit der fünf Grundpostulate hat tatsächlich in der Folge zu verschiedenen Varianten solcher geometrischer Kalküle geführt, die den Bereich der synthetischen Geometrie bilden.[10] Im 17. Jhd. entwickelte Descartes ([Descartes 1637a]Literaturangabe fehlt. Alle geometrischen Objekte werden wesentlich betrachtet als Mengen individueller Orte, genannt ‘Punkte’, die, wie Euklid sich ausdrückte, das sind, „was keine Teile hat“. Punkte können in einer oder mehreren Dimensionen organisiert sein – abhängig von der Menge der unabhängigen (‘orthogonalen’) Koordinatenachsen, die mit den Hauptrichtungen assoziiert sind. Jede Achse organisiert die Punkte zudem gemäß den reellen Zahlen. Daher sind die Euklidischen Punkte notwendig in einem Kontinuum angeordnet. Mit den Regeln des Geometriekalküls werden räumliche Homogenität (Invarianz gegenüber Translation des Koordinatenursprungs) und Isotropie (Invarianz gegenüber Rotation der Koordinatenachsen) erreicht, die letztlich die Basis bilden für die syntaktische Dichte des Bildraumes. Allerdings führt die übliche euklidische Formalisierung der Geometrie auch zu der unerwünschten Folge, dass die grundlegenden Pixeme notwendig unausgedehnte Punkte sind – ein hochabstrakter, von der Erfahrung weit entfernter Begriff also. Jede ausgedehnte Region – und damit letztlich auch jedes Pixem – muss dann aus einer unendlich großen Menge elementarer geometrischer Objekte bestehen, ganz im Gegensatz zur Gestalt-Konzeption der (Raum-)Wahrnehmung. Mereogeometrische KalküleEinige Nichtstandard-Kalküle des Raumes liefern einen interessanten Ausweg aus diesem Dilemma: Mereogeometrien sind das Ergebnis eines formalen Ansatzes zur Geometrie, die im Wesentlichen im 20. Jhd. entwickelt wurden, und die versuchen, den fundamentalen kognitiven Prinzipien gerecht zu werden. Wenn ein Punkt, wie Euklid dachte, das sein soll, „was keine Teile hat“, dann sollten Teil-Ganzes-Beziehungen offensichtlich als zentrale Elemente der Geometrie betrachtet werden. Zumindest für eine Begründung des Bildraumes wären zudem geometrische Entitäten mit Teilen die natürlicheren Kandidaten für die logischen Grundbausteine geometrischer Kalküle. Im Gegensatz zu den Geometriekalkülen im Stile Euklids ist die Familie der mereogeometrischen Kalküle auf dem Begriff einer Region aufgebaut, einer ausgedehnten Einheit, die unterscheidbare echte Teile haben mag oder auch nicht. Diese Regionen werden in der Mereogeometrie oft auch ‘Individuen’ genannt, da sie als unhintergehbare Grundelemente des Kalküls gelten.[12] Sie haben keine unmittelbaren Form- oder Positionseigenschaften:[13] Lediglich die Beziehungen zu anderen Individuen, die insbesondere ihre Teile sein können oder von denen sie ein Teil sind, bestimmen Form, Ausdehnung und relative Lage: Die Form etwa ist determiniert durch die Relationen zwischen den Teilregionen eines Gebiets. Während in Euklidischen Geometrien zunächst die unendlich große Menge des Kontinuums von Koordinaten eingeführt wird, die die potentiellen Punkte bestimmen, von denen einige dann als relevant ausgewählt werden (in aller Regel sind das für praktische bedeutsame Fälle immer noch unendlich viele), beginnen mereogeometrische Kalküle mit einer (für gewöhnlich endlichen) Anzahl relevanter Regionen (‘Individuen’).[14] Ein solches Individuum kann man sich – den wahrnehmungspsychologischen Prinzipien der Gestaltschule folgend – sehr wohl auch als eine visuelle Gestalt vorstellen: Man muss zunächst das wahrgenommene Ganze betrachten und sollte die Begriffe der perzeptuellen “Atome” erst danach als Instrumente zum Erklären der Gestalten einführen, nicht umgekehrt. Schließlich sehen Menschen – und das gilt insbesondere auch für die Bildwahrnehmung – keine unendlich großen Mengen null-dimensionaler Punkte, sondern ausgedehnte Gestalten. Der abstrakte Begriff einer räumlichen Einheit ohne Ausdehnung ist sekundär und zu dem Zweck konstruiert, einige Aspekte des Erfahrungsraums zu erläutern, während er an anderer Stelle zu ernsthaften Problemen führt. Da Raum traditionell durch Punkt-basierte Geometriekalküle begriffen wurde, ist immerhin zu bemerken, dass die Eigenschaften des Euklidischen Raumes (d.h. des durch Euklidische Kalküle beschriebenen Raumkonzepts) im Großen und Ganzen durchaus zu unseren allgemeinen Vorstellungen von Raum passen. Daher sollte es auch nicht überraschen, dass die meisten mereogeometrischen Kalküle zu Systemen führen, die dem Euklidischen Raum äquivalent sind (vgl. [Borgo & Masolo 2010a]Literaturangabe fehlt.
Geometriekalküle und bildmorphologische StrukturenDie Forschung zu mereogeometrischen Kalkülen stützt in der Tat einen irritierenden bildmorphologischen Befund: das Fehlen von Einschränkungen für die Wahl der morphologischen Primitive. In beiden Bereichen (Mereogeometrie und Bildmorphologie) kommt man leicht zu äquivalenten Formalismen obwohl man von ganz unterschiedlichen Voraussetzungen ausgegangen ist. Daher darf die Wahl der Primitive nicht nur von rein formalen Eigenschaften abhängen, sondern muss von Argumenten und Beobachtungen aus anderen, insbesondere kognitiven, evolutionären, mentalen und wahrnehmungspsychologischen Perspektiven unterstützt werden. Die Entwicklung der geometrischen Kalküle bis hin zu den Mereogeometrien führt zu geometrischen Ansätzen, die, indem sie unterschiedliche Primitive ausnutzen, ganz zwanglos verschiedene formale Systeme mit äquivalenter Ausdrucksstärke hervorbringen. Einerseits führt die Suche nach der Grundlegung von Pixemen (als Primitive wie als Prototypen) direkt zu einer Debatte, die der Diskussion über die fundamentalen geometrischen Entitäten entspricht. Andererseits legt der Wunsch, mit einem Computerprogramm komplexe Bilder zu erzeugen oder zu verstehen, (zumindest in der Theorie) die Existenz einer begrenzten Zahl von Basispixemen nahe, die in einem formalen Kalkül bei beschränkter Komplexität beliebig kombinierbar sein sollen (⊳ Bildverarbeitung, digitale).[15] Pixeme als geometrische EntitätenIm Kontext der morphologischen Struktur von Bildern beschreibt der geometrische Kalkül, wie wir (rational) über die Basisstruktur der Bildebene und den darin enthaltenen Pixemen reden. Eine Basisstruktur, die den Regeln, wie sie vom Kalkül vorgeschrieben sind, nicht erfüllt, führt zu syntaktisch unkorrekten Bildern. Mit einem punkt-basierten Kalkül werden Pixeme verstanden als (unendliche) Mengen von Punkten, die durch Gestalt-organisierende Prozesse auf den visuellen Markerwerten (⊳ Farbe als bildsyntaktische Kategorie) bestimmt sind. Die unendlich vielen Punkte, die jedes Pixem enthält, sind letztlich Orte, die lediglich potentiell von Interesse sein könnten: Sie mögen morphologisch relevant werden, wenn man den gerade betrachteten Bildträger mit einem anderen Bildträger vergleicht. Entsprechend kommt in Euklidischen Kalkülen ein Begriff der Auflösung nicht vor: Der hypothetische Auflösungsfaktor ist hier immer unendlich – entsprechend einer Gottesperspektive auf Raum. Bei einem mereogeometrischen Kalkül sind Pixeme “Individuen”, also primitive Entitäten des Kalküls. Wenn wir davon ausgehen, dass die Gestalt-Prinzipien, die visuelles Wahrnehmen organisieren, genau solche Regionen bestimmen, die syntaktisch relevant sind, können diese Pixeme also ganz zwanglos als etwas in der Wahrnehmung Gegebenes aufgefasst werden. Es besteht keine Notwendigkeit, weitere Punkte zu betrachten. Punkte, Auflösung und MikroskopierungWährend Mereogeometrien mit reinem Raum beschäftigt sind, muss Bildmorphologie weitere Faktoren berücksichtigen, wie »Granularität« (welche sehr grundlegende Eigenschaften, wie Kontakt zwischen Entitäten, und damit die Topologie an sich, beeinflusst). In der Tat kann in der Mereogeometrie der Begriff einer kleinsten Region durchaus eingeführt werden: Sie werden in den Kalkülen für gewöhnlich ‘Punkte’ genannt, könnten aber ebenso gut als ‘Pixel’ bezeichnet werden. Ein solcher Punkt, der sich offensichtlich deutlich vom Euklidischen Punktbegriff unterscheidet, ist im wesentlichen definiert über eine Region, die keine echte Teilregion im Kalkül aufweist (d.h.: es werden keine solchen Teile betrachtet!).[16] Wenn der Begriff »Punkt« auf mereogeometrische Weise eingeführt wird, ist es bei der Betrachtung eines konkreten Falles – bei Betrachtung eines endlichen Raumbereichs – nicht notwendig, unendlich viele solcher Punkt-Regionen zu berücksichtigen. Lediglich “relevante” Punkte müssen instantiiert werden. Das bedeutet zugleich, dass ein solcher Kalkül den Raum stets mit endlicher Auflösung erfasst. Allerdings haben N. Asher & L. Vieu ([Asher & Vieu 1995a]Literaturangabe fehlt. Die leere Bildfläche und MaximalpixemeIm Gegensatz zu den Räumen der Standardgeometrien ist der Bildraum stets nach außen beschränkt: Die Bildebene besteht aus einem einzigen Maximalpixem, das kein Teil eines anderen Pixems des Bildes ist – Fernande Saint-Martin verwendet hierfür den Ausdruck ‘basic picture plane’ ([Saint-Martin 1987a]Saint-Martin, Fernande (1987).Sémiologie du langage visuel. Montréal: Presses de l’Université du Quebec, Englisch: Semiotics of Visual Language. Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press.. Eintrag in Sammlung zeigen).[17] Die für mereogeometrische Kalküle zentrale Unterscheidung des abgeschlossenen, d.h. seine Grenze mit umfassenden Individuums gegenüber dem Teilindividuum, das dem Ersteren ganz entspricht ohne aber die Grenze selbst zu beinhalten, liefert einen unmittelbaren Ansatz für die Unterscheidung des Rahmens vom eigentlichen Bild (⊳ Rahmung, Rahmen). Wird die übliche rechteckige Grundform der Bildfläche gewählt, ergeben sich bei mereogeometrischer Betrachtung zudem insbesondere vier Individuen, die als (mereogeometrische) Punkte zu betrachten sind: die vier Ecken. Dabei dürfte die “energetische Aufladung” der Eckregionen, auf die etwa Saint-Martin in ihrer bildmorphologischen Abhandlung hinweist (s. Abb. 1), mit der Konstruktion des Punktkonzeptes innerhalb der meisten mereogeometrischen Kalküle zusammenhängen: Im mereogeometrischen Kalkül von Tarski etwa werden Punkte als Klasse aller im Kalkül betrachteten konzentrischen Kreise eingeführt ([Tarski 1929a]Literaturangabe fehlt.
Weitere AspekteBildsemantische Aspekte der GeometrieDie in geometrischen Kalkülen gefassten Raumkonzepte spielen natürlich auch eine wichtige Rolle in der Bildsemantik: Die Projektion einer dreidimensionalen Szene auf eine zweidimensionale Bildfläche gehorcht Regeln, die sich insbesondere (wenn auch nicht ausschließlich) aus den Kalkülen der projektiven Geometrien ergeben. Auf diese Zusammenhänge wird im Lemma Perspektive und Projektion näher eingegangen. Zeit als RaumPhysikalisch wird auch die zeitliche Erstreckung und Anordnung als weitere (vierte) geometrische Dimension gefasst. Dies spielt in der Bildphilosophie entsprechend bei Film, Video, Fernsehen und anderen Bewegtbildformaten eine Rolle. Im strengen physikalischen Sinne wird allerdings die zeitliche “Raumrichtung” von den räumlichen Dimensionen oft dadurch hervorgehoben, dass sie als imaginäre Achse eines vierdimensionalen komplexen Vektorraumes angesetzt wird, oder umgekehrt die eigentlichen Raumanteile als imaginäre Dimensionen die Zeit als einzige reellwertige Dimension ergänzen (sog. ‘Quarternionen’).[18] Auch in der Computergraphik werden solche Quarternionen zur Berechnung von Transformationen von 3D-Modellen verwendet. Insbesondere Drehungen im Raum lassen sich auf diese Weise besonders einfach formal behandeln. Siehe auch:
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Anmerkungen
[Asher & Vieu 1995a]:
Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Aurnague & Vieu 1993a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Borgo & Masolo 2010a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Descartes 1637a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Goodman 1968a]: Goodman, Nelson (1968, 2. rev. Aufl. 1976). Languages of Art. Indianapolis: Hackett, dt.: Sprachen der Kunst. Suhrkamp 1998. [Herskovits 1986a]: Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [54], Tobias Schöttler [7] und Emilia Didier [1] — (Hinweis) |