Russisch: 'obraz': Unterschied zwischen den Versionen
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− | Der zentrale Bild-Begriff der russischen Sprache ist ‘образ’ (‘obraz’).<ref>Ei­nen Über­blick über die­sen und an­de­re Bild­be­grif­fe bie­ten: <bib id='Ivanov 1985a'>Iva­nov 1985a</bib>, <bib id='Vasmer 1986a'>Vas­mer 1986a</bib>, <bib id='Cernych 2001a'>Čer­nych 2001a</bib> und <bib id='Cyganenko 1989a'>Cy­ga­nen­ko 1989a</bib>.</ref> Die seman­tische Komple­xität und die sprach­imma­nente Spezi­fik dieses Begriffs lässt seine direk­te Über­tragung ins Deutsche als ‘Bild’ oder ‘sinnli­che Gestalt’/‘Form’ nur als behelfs­mäßig und eigent­lich als inad­äquat erschei­nen. Inner­halb der russi­schen Sprach­dyna­mik ist der Begriff tenden­ziell melio­rativ, trotz aller Viel­schich­tigkeit und seman­tischen Dialek­tik dieses Begriffs: Die Nähe zum Ursprüng­lichen, Wahren und Sakra­len zeichnet dieses Bild-Konzept aus. Bele­gen lässt sich diese Tendenz bereits an der zweiten Grundbe­deutung des Ausdrucks: ‘Obraz’ meint auch eine mani­feste Abbil­dung des Heili­gen in der [[Ikone|Iko­ne]]. Eine Iko­ne erhielt ursprüng­lich nicht bloß stellver­tretend einen Heilig­keitssta­tus, sondern sie war durch das Darge­stellte selbst heilig. Die Rele­vanz des Begriffs »obraz« kann für die russi­sche Kultur im Ganzen und für die russi­sche Philo­sophie im Beson­deren kaum über­schätzt werden.<ref>Auch für die rus­si­sche Kunst- und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft ist die­ser Be­griff von ent­schei­den­der Be­deu­tung. Vgl. bei­spiels­wei­se den obraz-Be­griff bei Gustav Špet, Ale­xan­der Po­teb­nja, Vik­tor Šklov­skij. In die li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Ter­mi­no­lo­gie wur­de der Aus­druck 1838 von Vis­sa­rion Be­lin­skij (in sei­nem Auf­satz «Fon­vi­zin i Za­gos­kin» in der Zeit­schrift «Mos­kovs­kij nab­lju­da­ | + | Der zentrale Bild-Begriff der russischen Sprache ist ‘образ’ (‘obraz’).<ref>Ei­nen Über­blick über die­sen und an­de­re Bild­be­grif­fe bie­ten: <bib id='Ivanov 1985a'>Iva­nov 1985a</bib>, <bib id='Vasmer 1986a'>Vas­mer 1986a</bib>, <bib id='Cernych 2001a'>Čer­nych 2001a</bib> und <bib id='Cyganenko 1989a'>Cy­ga­nen­ko 1989a</bib>.</ref> Die seman­tische Komple­xität und die sprach­imma­nente Spezi­fik dieses Begriffs lässt seine direk­te Über­tragung ins Deutsche als ‘Bild’ oder ‘sinnli­che Gestalt’/‘Form’ nur als behelfs­mäßig und eigent­lich als inad­äquat erschei­nen. Inner­halb der russi­schen Sprach­dyna­mik ist der Begriff tenden­ziell melio­rativ, trotz aller Viel­schich­tigkeit und seman­tischen Dialek­tik dieses Begriffs: Die Nähe zum Ursprüng­lichen, Wahren und Sakra­len zeichnet dieses Bild-Konzept aus. Bele­gen lässt sich diese Tendenz bereits an der zweiten Grundbe­deutung des Ausdrucks: ‘Obraz’ meint auch eine mani­feste Abbil­dung des Heili­gen in der [[Ikone|Iko­ne]]. Eine Iko­ne erhielt ursprüng­lich nicht bloß stellver­tretend einen Heilig­keitssta­tus, sondern sie war durch das Darge­stellte selbst heilig. Die Rele­vanz des Begriffs »obraz« kann für die russi­sche Kultur im Ganzen und für die russi­sche Philo­sophie im Beson­deren kaum über­schätzt werden.<ref>Auch für die rus­si­sche Kunst- und Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft ist die­ser Be­griff von ent­schei­den­der Be­deu­tung. Vgl. bei­spiels­wei­se den obraz-Be­griff bei Gustav Špet, Ale­xan­der Po­teb­nja, Vik­tor Šklov­skij. In die li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­li­che Ter­mi­no­lo­gie wur­de der Aus­druck 1838 von Vis­sa­rion Be­lin­skij (in sei­nem Auf­satz «Fon­vi­zin i Za­gos­kin» in der Zeit­schrift «Mos­kovs­kij nab­lju­da­tel'») als ei­ne ein­heit­li­che Über­set­zung der He­gel­schen kunst­phi­lo­so­phi­schen Be­grif­fe »Bild« und |
»Ge­stalt« ein­ge­führt. Auf Be­lin­skij geht auch die For­mel „poė­zija est' myš­lenie v obra­zach“ („Poe­sie ist Den­ken in Bil­dern“) zu­rück, die im Kon­text der Re­zep­tion He­gels zu se­hen ist.</ref> An dieser Stelle sei nur beispiel­haft auf Pavel Floren­skijs Schrift «Namen» verwie­sen (<bib id='Florenskij 2007a'>Floren­skij 2007a</bib>). | »Ge­stalt« ein­ge­führt. Auf Be­lin­skij geht auch die For­mel „poė­zija est' myš­lenie v obra­zach“ („Poe­sie ist Den­ken in Bil­dern“) zu­rück, die im Kon­text der Re­zep­tion He­gels zu se­hen ist.</ref> An dieser Stelle sei nur beispiel­haft auf Pavel Floren­skijs Schrift «Namen» verwie­sen (<bib id='Florenskij 2007a'>Floren­skij 2007a</bib>). | ||
Version vom 18. Juni 2014, 11:43 Uhr
Unterpunkt zu: Bildtermini anderer Sprachen
‘Obraz’: Vorläufige BestimmungDer zentrale Bild-Begriff der russischen Sprache ist ‘образ’ (‘obraz’).[1] Die semantische Komplexität und die sprachimmanente Spezifik dieses Begriffs lässt seine direkte Übertragung ins Deutsche als ‘Bild’ oder ‘sinnliche Gestalt’/‘Form’ nur als behelfsmäßig und eigentlich als inadäquat erscheinen. Innerhalb der russischen Sprachdynamik ist der Begriff tendenziell meliorativ, trotz aller Vielschichtigkeit und semantischen Dialektik dieses Begriffs: Die Nähe zum Ursprünglichen, Wahren und Sakralen zeichnet dieses Bild-Konzept aus. Belegen lässt sich diese Tendenz bereits an der zweiten Grundbedeutung des Ausdrucks: ‘Obraz’ meint auch eine manifeste Abbildung des Heiligen in der Ikone. Eine Ikone erhielt ursprünglich nicht bloß stellvertretend einen Heiligkeitsstatus, sondern sie war durch das Dargestellte selbst heilig. Die Relevanz des Begriffs »obraz« kann für die russische Kultur im Ganzen und für die russische Philosophie im Besonderen kaum überschätzt werden.[2] An dieser Stelle sei nur beispielhaft auf Pavel Florenskijs Schrift «Namen» verwiesen ([Florenskij 2007a]Florenskij, Pavel (2007).Imena. Sankt Peterburg: Azbuka-klassika. Eintrag in Sammlung zeigen).
‘Obraz’: Etymologie und SemantikDer Ausdruck ist alt- und gemeinslawischen Ursprungs und seit dem 11. Jahrhundert nachweisbar. Der Wortstamm ist auf das Verb ‘rezat'’ (‘schneiden’, ‘eine Grenze ziehen’) zurückzuführen. ‘Rezat'’ meint ‘schneiden’, ‘in kleinere Einheiten (‘raz’) teilen und dadurch Vielheiten schaffen’. Der Prozess des Schneidens oder der Prägung gibt dem Gegenstand Form, Gestalt. Demnach meint ‘obraz’ zunächst die einheitliche Gestalt eines Gegenstandes, die ihn begrenzt und damit bestimmt und unterscheidbar macht. Als etwas Gestaltetes kann es auch ein Vollkommenes sein – so wie auch im Griechischen ‘eikon’, ‘typos’ und ‘morphe’. Sergej M. Ėizenštein ([Ėizenštein 1975a]Literaturangabe fehlt. (1) Als etwas visuell oder, allgemeiner, sinnlich Erfahrbares meint ‘obraz’ eine äußere Erscheinung, Darstellung oder Verkörperung von etwas Nicht-Sichtbarem oder nicht unmittelbar Zugänglichem und in diesem Sinne eine Einheit von Form und Inhalt, von Sinnlichkeit und Sinn. ‘Obraz’ meint die sinnliche Erscheinungsweise des Nichtsinnlichen. Als solche Erscheinung ist ‘obraz’ tendenziell auch sinnbildlich. Der mimetische Bedeutungsaspekt tritt eher bei etymologisch verwandten Bild-Termini in den Vordergrund (z.B. ‘izobraženie’, ‘otobraženie’, die ‘Abbild’, ‘Illustration’ bedeuten). Dementsprechend meint ‘obraz’ im künstlerischen oder literarischen Kontext die Veranschaulichung eines allgemeineren (gedanklichen) Zusammenhangs in einer individuellen Erscheinung oder Figur. Für eine solche sinnliche Darstellung ist Lebendigkeit und Dynamik charakteristisch. Als statisch kann dieses Bild-Konzept nicht begriffen werden, wie es dagegen etwa bei den Wörtern ‘kopija’ (dt. ‘Kopie’) oder ‘otobraženie’ (dt. ‘Widerspiegelung’, ‘Abbild’) der Fall ist. Der dynamische Aspekt findet sich auch in der Bedeutung von ‘obraz’ als ›menschliche Gestalt‹. Die Ganzheitlichkeit und Dynamik eines obraz lässt sich in einem Erkenntnisprozess nicht vollständig schematisch zerlegen. Jederzeit bleibt ein Bedeutungsüberschuss, eine Vielschichtigkeit, die nicht in einer feststellenden mimetischen Beschreibung zu erfassen ist. (2) Das, was sich in einer konkreten sinnlichen Erscheinung zeigt, ist ein Typ, ein allgemeinerer Charakter, ein Maß. Auch dies bringt ‘obraz’ zum Ausdruck. Als ein idealtypisches Bild oder Ebenbild verweist ‘obraz’ auf ein Erstes (‘čelovek kak obraz i podobie Boga’: dt. ‘der Mensch als Ebenbild Gottes’). (3) Das ideale Bedeutungsmoment ist es auch, das die Dynamik dieses Bild-Konzepts garantiert. Das Ideale wird implizit als ein Ziel begriffen, aus dem heraus die Form und die Handlungsweise, die Ordnung und die Tradition (‘obraz žizni’: dt. ‘Lebensweise’; ‘obraz mysli’: dt. ‘Denkungsart’) entsteht. Das Derivat ‘obrazec’ (dt. ‘Vorbild’, ‘Maß’) untermauert die teleologische Nuancierung der Semantik von ‘obraz’.[3] (4) ‘Obraz’ meint auch ein/e lebendige/s anschauliche/s mentale/s Vorstellung/Bild von etwas. Das etymologisch verwandte Wort ‘voobraženie’ bedeutet ‘Einbildungskraft’, ‘Vorstellungsvermögen’. Überwiegt das Fließende, Bewegliche und Austauschbare bei einem obraz, so handelt es bei den Vorstellungen um (fiktive) Phantasiebilder. Wird dagegen das Wesentliche in einem obraz hervorgehoben, so ist es eine künstlerische Erfassung der Realität und eine zwischen dem Subjekt und der Realität vermittelnde Leistung, die das Reale (oder das Wahre) in einer neuen Form, in einem obraz, zur Erscheinung bringt. Betrachtet man die von ‘obraz’ abgeleiteten Bezeichnungen (‘bezobrazie’: dt. ‘Häßlichkeit’, ‘moralische Verwerflichkeit’; ‘preobraženie’: dt. ‘Verklärung’, ‘Verwandlung’), so wird offensichtlich, dass ‘obraz’ nicht eine beliebige äußere Form meint, sondern als eng verknüpft mit Schönem, Gutem und Wahrem zu denken ist. Das Böse ist demgegenüber als gestaltlos (d.h. als bez-obraznoe) zu verstehen.
Weitere Bild-TerminiAußer ‘obraz’ existieren noch viele andere Bild-Ausdrücke in der russischen Sprache. Neben den schon erwähnten ‘kopija’ und ‘otobraženie’ sei hier nur noch ein weiteres Wort zusätzlich angeführt: ‘kartina’. Die Bedeutungssphären der beiden Bezeichnungen ‘obraz’ und ‘kartina’ verhalten sich komplementär zueinander. Wenn ‘obraz’ eher mit dem englischen ‘image’ vergleichbar ist, dann entspricht die Bedeutung von ‘kartina’ eher ‘picture’. Die materielle und künstliche Beschaffenheit eines Objekts tritt bei diesem Bild-Begriff deutlicher in den Vordergrund. In Abgrenzung zu ‘obraz’ vermittelt ‘kartina’ einen tendenziell statischen Gesamteindruck über eine Reihe von Gestalten. |
Anmerkungen
[Černych 2001a]:
Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Cyganenko 1989a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Ėizenštein 1975a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Florenskij 2007a]: Florenskij, Pavel (2007). Imena. Sankt Peterburg: Azbuka-klassika. [Ivanov 1985a]: Ivanov, Vjačeslav (1985). Einführung in allgemeine Probleme der Semiotik. Tübingen: Narr Verlag, Herausgegeben und eingeleitet von W. Eismann. [Vasmer 1986a]: Vasmer, Max (1986). Ėtymologičeskij slovar' russkogo jasyka. Perevod s nemezkogo jasyka O. N. Trubačeva. V četyrëch tomach. Moskva: ??, 2. Ausgabe. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [33], Maria Wargin [18] und Dimitri Liebsch [15] — (Hinweis) |