Sehen: Unterschied zwischen den Versionen

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(Der GesichtssinnDer folgende Beitrag stellt einige Argumenten aus dem Buch Schürmann 2008 vor.)
 
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==Der Gesichtssinn<ref>Der fol&shy;gen&shy;de Bei&shy;trag stellt ei&shy;ni&shy;ge Ar&shy;gu&shy;men&shy;ten aus dem Buch <bib id='Schürmann 2008a'>Schür&shy;mann 2008</bib> vor.</ref>==
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Die Spezifik des Gesichtssinnes besteht in seiner Nähe zu Prozes&shy;sen des Verste&shy;hens, Denkens und Ausle&shy;gens. Sehen ist eine Tätig&shy;keit von [[Auge]] und Gehirn und wirft damit bewusst&shy;seinstheo&shy;reti&shy;sche Fragen auf.
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Zwei entschei&shy;dende Posi&shy;tionen der Philo&shy;sophie des 20. Jahrhun&shy;derts behan&shy;deln das Verhält&shy;nis von Visu&shy;ellem und Menta&shy;lem als ein praktisch untrenn&shy;bares Bezie&shy;hungsge&shy;füge, das in der theore&shy;tischen Beschrei&shy;bung jedoch ausein&shy;ander divi&shy;diert wird. Ludwig Wittgen&shy;stein und Martin Heideg&shy;ger kommen dabei zu weitge&shy;henden Über&shy;einstim&shy;mungen in ihren Ausfüh&shy;rungen dessen, was ein sinnvol&shy;ler Gebrauch des Wortes ‘Sehen’ sein kann.
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In seiner ununterbrochenen Bezie&shy;hung zum Menta&shy;len bezieht das Sehen sich nicht nur auf raumzeit&shy;lich Anwe&shy;sendes, sondern auch auf sinnlich Abwe&shy;sendes. Bereits einfa&shy;che wahrneh&shy;mungspsy&shy;cholo&shy;gische Expe&shy;rimente<ref>Ei&shy;nen um&shy;fang&shy;rei&shy;chen Über&shy;blick da&shy;r&shy;über gibt <bib id='Goldstein 1997a'>Gold&shy;stein 1997</bib></ref> zeigen, dass man eine Quali&shy;tät des [[Vorstellung|Vorstel&shy;lens]] im Sehen anneh&shy;men muss, um etwa ergän&shy;zendes Sehen erklä&shy;ren zu können. Je höher der Vorstel&shy;lungsgrad eines einzel&shy;nen Wahrneh&shy;mungsak&shy;tes ist, umso mehr sieht man, dass Kant Recht hatte, als er die [[Einbildungskraft|Einbil&shy;dungskraft]] eine „Ingre&shy;dienz der Wahrneh&shy;mung“ (<bib id='Kant 1968a'>Kant 1968</bib>: S. 89ff.) nannte. Wenn Vorge&shy;stelltes, Erwar&shy;tetes, Ergänz&shy;tes oder Gedeu&shy;tetes in die Wahrneh&shy;mungspra&shy;xis hinein&shy;spielen, bedeu&shy;tet das, dass sich etwas sinnlich Nicht-Gegen&shy;wärti&shy;ges ins Sichtba&shy;re einmischt.
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Was Wittgen&shy;stein unter den Begrif&shy;fen [[Weltbild, Lebensform|»Lebens&shy;form« und »Weltbild«]] beschrie&shy;ben hat, das fraglos Gege&shy;bene einer Kultur- und Sprachge&shy;meinschaft, „das Hinzu&shy;nehmen&shy;de“ (<bib id='Wittgenstein 1971a'>Wittgen&shy;stein 1971</bib>: S. 572) und das, was „jenseits von berech&shy;tigt und unbe&shy;rechtigt“ (<bib id='Wittgenstein 1984a'>Wittgen&shy;stein 1984</bib>: § 359) als ausge&shy;macht und sicher gilt, wirkt sich nicht nur auf den Sprachge&shy;brauch, sondern auch auf die Wahrneh&shy;mungsmög&shy;lichkei&shy;ten einer Zeit aus. Die Gesamt&shy;heit gelten&shy;der Normen und herrschen&shy;der Über&shy;zeugun&shy;gen, Sitten und Wertvor&shy;stellun&shy;gen, die die Praxis einer Kultur und Gesell&shy;schaft prägen, bilden deren Weltbild im Sinne eines „System[s] von Geglaub&shy;tem“ (A.a.O.: § 144) aus.
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Weltbilder im Sinne einer norma&shy;tiven “Hinter&shy;grundstrah&shy;lung” des Sprechens, Wahrneh&shy;mens und Handelns sind zugleich Voraus&shy;setzun&shy;gen und Produk&shy;te perzep&shy;tiver Welter&shy;schließung. Man könnte statt von ‘Weltbil&shy;dern’ auch von ‘Weltan&shy;schauungen’ reden<ref>Vgl. K. Jas&shy;pers, der Welt&shy;an&shy;schau&shy;un&shy;gen nach sinn&shy;lich-räum&shy;li&shy;chen, see&shy;lisch-kul&shy;tu&shy;rel&shy;len und me&shy;ta&shy;phy&shy;si&shy;schen Vor&shy;kom&shy;mens&shy;wei&shy;sen un&shy;ter&shy;schei&shy;det <bib id='Jaspers 1994a'>Jas&shy;pers 1994</bib></ref>, die in Einstel&shy;lungen, Verhal&shy;tenswei&shy;sen und norma&shy;tiven Orien&shy;tierun&shy;gen einer Kultur&shy;gemein&shy;schaft präsent sind.
  
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=====Der Gesichtssinn<ref>Der folgende Beitrag stellt einige Argumenten aus dem Buch <bib id='Schürmann 2008a'>Schürmann 2008</bib> vor.</ref>=====
 
Die Spezifik des Gesichtssinnes besteht in seiner Nähe zu Prozessen des Verstehens, Denkens und Auslegens. Sehen ist eine Tätigkeit von Auge und Gehirn und wirft damit bewusstseinstheoretische Fragen auf.
 
Zwei entscheidende Positionen der Philosophie des 20. Jahrhunderts behandeln das Verhältnis von Visuellem und Mentalem als ein praktisch untrennbares Beziehungsgefüge, das in der theoretischen Beschreibung jedoch auseinander dividiert wird. Ludwig Wittgenstein und Martin Heidegger kommen dabei zu weitgehenden Übereinstimmungen in ihren Ausführungen dessen, was ein sinnvoller Gebrauch des Wortes Sehen sein kann.
 
In seiner ununterbrochenen Beziehung zum Mentalen bezieht das Sehen sich nicht nur auf raumzeitlich Anwesendes, sondern auch auf sinnlich Abwesendes. Bereits einfache wahrnehmungspsychologische Experimente<ref>Einen umfangreichen Überblick darüber gibt <bib id='Goldstein 1997a'>Goldstein 1997</bib></ref> zeigen, dass man eine Qualität des Vorstellens im Sehen annehmen muss, um etwa ergänzendes Sehen erklären zu können. Je höher der Vorstellungsgrad eines einzelnen Wahrnehmungsaktes ist, umso mehr sieht man, dass Kant Recht hatte, als er die Einbildungskraft ein ‚Ingredienz der Wahrnehmung’ (<bib id='Kant 1968a'>Kant 1968</bib>: 89ff.) nannte. Wenn Vorgestelltes, Erwartetes, Ergänztes oder Gedeutetes in die Wahrnehmungspraxis hineinspielen, bedeutet das, dass sich etwas sinnlich Nicht-Gegenwärtiges ins Sichtbare einmischt.
 
Was Wittgenstein unter den Begriffen Lebensform und Weltbild beschrieben hat, das fraglos Gegebene einer Kultur- und Sprachgemeinschaft, „das Hinzunehmende“ (<bib id='Wittgenstein 1971a'>Wittgenstein 1971'</bib>: S. 572) und das, was „jenseits von berechtigt und unberechtigt“ (<bib id='Wittgenstein 1984a'>Wittgenstein 1984</bib>: S. 359) als ausgemacht und sicher gilt, wirkt sich nicht nur auf den Sprachgebrauch, sondern auch auf die Wahrnehmungsmöglichkeiten einer Zeit aus. Die Gesamtheit geltender Normen und herrschender Überzeugungen, Sitten und Wertvorstellungen, die die Praxis einer Kultur und Gesellschaft prägen, bilden deren Weltbild im Sinne eines „System[s] von Geglaubtem“ (A.a.O.: § 144) aus.
 
Weltbilder im Sinne einer normativen Hintergrundstrahlung des Sprechens, Wahrnehmens und Handelns sind zugleich Voraussetzungen und Produkte perzeptiver Welterschließung. Man könnte statt von Weltbildern auch von Weltanschauungen  reden<ref>Vgl. K. Jaspers, der Weltanschauungen nach sinnlich-räumlichen, seelisch-kulturellen und metaphysischen Vorkommensweisen unterscheidet <bib id='Jaspers 1994a'>Jaspers 1994</bib></ref>, die in Einstellungen, Verhaltensweisen und normativen Orientierungen einer Kulturgemeinschaft präsent sind.
 
 
=====Wittgensteins Aspektsehen=====
 
Mit dem vielzitierten Beispiel einer gezeichneten Gestalt, deren Konturen wahlweise einen Hasen- oder einen Entenkopf<ref>Wittgenstein kannte diese Figur aus den Arbeiten des amerikanischen Psychologen Joseph Jastrow, der seine Überlegungen dazu bereits 1899 veröffentlichte.</ref>  sehen lässt, hat Wittgenstein das so genannte Aspektsehen beschrieben, das er „halb Seherlebnis, halb ein Denken“ (<bib id='Wittgenstein 1971a'>Wittgenstein 1971</bib>: S. 525) nannte. Aspektsehen ist ein semantisches ‚Sehen-als’; ich sehe dabei etwas-als-etwas, nämlich die Strichfigur als Hasen resp. als Ente. Beide Bedeutungen sehe ich nicht ‚in die Strichfigur hinein’, wie ich etwa Geographien in Wolkenformationen hineinsehen kann, denn ich kann die Strichfigur nicht als etwas Amorphes wahrnehmen ohne entweder die eine oder die andere Figur darin zu erkennen. Vielmehr hat das Sehen des Bildes zwei Möglichkeiten: H oder E. Die Amphibolie von einem ins andere ist konstitutiv für das Aspektsehen. Es weist darin eine bedenkenswerte Übereinstimmung mit dem Darstellungssehen auf. Wenn man etwas Dargestelltes im Darstellenden sieht, Greta Garbo als Mata Hari etwa, hält sich das Sehen inmitten einer Differenz auf, die auch für das Aspektsehen charakteristisch ist. Das Gesichtsbild ändert sich nicht, wohl aber unsere Auffassung von ihm.
 
[[Kippbild|Kippfiguren]] sind daher weit über ihren Status als wahrnehmungspsychologische Experementierfelder hinaus interessant für das Verhältnis von Sehen und Deuten, Wahrnehmen und Vorstellen. Wittgenstein fragt sich: „Sehe ich jedesmal wirklich etwas anderes, oder deute ich nur, was ich sehe, auf verschiedene Weise? Ich bin geneigt, das erste zu sagen. Aber warum?“ (Ebd.: $ 340) 
 
Der Zuschreibungsakt ist phänomenal kein von der Perzeption unterscheidbarer Vorgang. Das aber wäre notwendig, um einen eigenständigen Wahrnehmungszustand von einer schlussfolgernden Denkoperation unterscheiden zu können<ref>In seinem Kommentar zu Wittgensteins Überlegungen schreibt Thorsten Jantschek, Deuten sei das Bilden einer Annahme über das Gesehene hinaus, aber wenn es so einfach wäre, müsste man das Gesehene unabhängig von seiner Deutung beschreiben können.(<bib id='Jantschek 1997a'>Jantschek 1997</bib>) Es gibt aber kein Bild unabhängig von seiner Auffassung als Hase oder Ente. Weiter führt uns demnach die „Einsicht, daß Denken und Sehen (immer schon) aufeinander bezogen sind und daß diese Beziehung im Sehen-als zutage tritt“. Ebd.: 319.</ref>. Das Aspektsehen ist daher ein gutes Beispiel für die Untrennbarkeit von Wahrnehmung und Sinnbildung: Ob ich die Konturen der Strichfigur als Umrisse eines Hasens oder einer Ente sehe, ist keine Frage einer nachträglichen Urteilsfindung, sondern mit dem visuellen Erfassen ist sogleich der Eindruck dieser oder jener Figur gegeben. Es ähnelt auch darin dem Bildersehen. Wir „sehen sie, wie wir sie deuten.“ (<bib id='Wittgenstein 1971a'>Wittgenstein 1971</bib>: S. 519).
 
Das Beispiel macht insofern nur auf besonders griffige Weise deutlich, dass Sehen oft bedeutet, Perspektiven einzunehmen, aus denen heraus etwas als x und nicht als y erscheint. Dinge haben und veranlassen verschiedene Ansichten, was sie sind oder nicht sind, ist notwendig perspektivisch bedingt und auffassungsabhängig.
 
Im Unterschied zu arbiträr vielen Sichtweisen sind Hasen- und Entenkopf aber beide gleichermaßen gegebene Sehmöglichkeiten und als solche keineswegs beliebig.
 
Indem Wittgenstein nun nach einem Kriterium sucht für das, was ‚eigentliches Sehen’ genannt werden könnte, gerät er an die Grenzen des Sprachgebrauchs: „,Das ist doch kein Sehen!’ – ‚Das ist doch ein Sehen!’ – Beide müssen sich begrifflich rechtfertigen lassen. [...] Inwiefern ist es ein Sehen?“<ref>Ebd.: 324f.</ref> Die Schwierigkeiten sind solche der Beschreibungssprache, denn um diese Form des Sehens-als zu beschreiben, muss man so etwas wie eine erste Ebene basaler Sinneswahrnehmung zugrunde legen, auch wenn die Pointe des Aspektsehens gerade darin liegt, dass Visuelles und Mentales nicht getrennt voneinander vorkommen. Sie sind gewissermaßen zugleich getrennt und ungetrennt, weil man einerseits Akte responsiver Kenntnisnahme von Akten logischen Schließens oder narrativen Deutens generell unterscheiden kann, andererseits aber kein sinnliches Rohmaterial perzipiert, sondern eine je bedeutungshaft organisierte Wahrnehmung hat.
 
Thomas Kuhn hat abrupte Paradigmenwechsel innerhalb der Wissenschaftsentwicklung als Sehen-als bezeichnet. Nach einer wissenschaftlichen Revolution werde die Welt ‚als etwas anderes gesehen’. „Was in der Welt des Wissenschaftlers vor der Revolution Ente (sic) waren, sind nachher Kaninchen.“ (<bib id='Kuhn 1973a'>Kuhn 1973</bib>: S. 123) Anderssehen heißt in diesem Zusammenhang folglich im Rahmen anderer Theoriegebäude sehen<ref>Judith Genova versteht Wittgensteins ganzes Philosophieren als methodisch praktiziertes Aspektsehen, um anders als gewöhnlich wahrnehmen zu können; <bib id='Genova 1995a'>Genova 1995a</bib></ref>.
 
 
=====Heideggers Auslegen=====
 
Martin Heidegger hat die Untrennbarkeit von Denken und Sehen als Auslegen erläutert. Heidegger schreibt, die Auffassung, „zunächst ist ein pures Vorhandenes erfahren, das dann als Tür, als Haus aufgefaßt wird [...] wäre ein Mißverständnis der spezifischen Erschließungsfunktion der Auslegung“ (<bib id='Heidegger 2006a'>Heidegger 2006</bib>: S. 150).. Bereits das ‚schlichte Sehen’ trage diese „Auslegungsstruktur [...] ursprünglich in sich“, alles andere sei verständnisloses „Anstarren“ (ebd.: S. 149). Ein ‚als-freies’ Erfassen sei weder eine ursprüngliche Form von Wahrnehmung, noch ein sinnvoller Gebrauch des Begriffs Sehens, sondern eine leere Abstraktion bzw. eine künstlich abgeleitete Privationsform verstehender, auslegender Weltwahrnehmung. Auslegung sei nicht das nachträgliche Verleihen einer Bedeutung über ‚an sich’ Bedeutungsloses, sondern lege die Bewandtnisganzheit des Weltverstehens aus.
 
Wie jede Welterschließung ist das Auslegen ein Verstehensprozess von zirkulärer Voraussetzungshaftigkeit: Die Auslegung von etwas-als-etwas gründet in einem Vorgriff auf eine bestimmte Grundbegrifflichkeit, für die sie sich endgültig oder vorbehaltlich immer schon entschieden hat. „Auslegung ist nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen.“ (ebd.: S.150)‚Vorverstehen’ bezeichnet die hermeneutische Struktur einer jeweiligen kulturell und historisch bedingten Disposition des Verstehenden. Wenn man sich auf etwas ‚Gegebenes’ berufe, so sei dieses (in Heideggers Beispiel der auszulegende Text) „nichts anderes als die selbstverständliche, undiskutierte Vormeinung des Auslegers“(ebd.).
 
Durchaus vergleichbar also mit dem Weltbild bei Wittgenstein entscheidet in der hermeneutischen Konzeption das Vorverstehen darüber, wie und als was etwas Sichtbares gesehen werden kann. Das Sichtbare ist stets nur unter den Bedingungen der „Vor-Struktur des Verstehens und der Als-Struktur der Auslegung“ (ebd.) sichtbar. Die Als-Struktur ist ebenso dem Bewusstsein geschuldet, das gerichtet ist und etwas-als-etwas wahrnimmt, wie auch dem Sichtbaren selbst, das sich stets als-etwas zeigt, nämlich im Lichte einer Situation und vor dem Hintergrund unsichtbarer Rahmenfaktoren, wie sie durch Geschichte, Kultur und Gesellschaft konstituiert werden.
 
Welche Sicht ich einnehmen kann, hängt von Hinsichtnahmen des Vorverstehens ab: Die Umsicht des Besorgens, die Rücksicht der Fürsorge stellen weit entfernt davon, nur bildhaften Ausdrücke zu sein, existentielle Sichtweisen dar, Synthesen von Denken und Anschauung. Was Heidegger als auslegendes Sehen bezeichnet, ist eine Form aisthetischer Welterschließung, die in hermeneutischen und interpretativen Vollzügen besteht, in denen man Bekanntes auf Neues appliziert, es in einen Horizont einordnet, Gegenwärtiges vernimmt und durch Hinzuerfundenes ergänzt. Es ist insofern rezeptiv und projektiv zugleich.
 
  
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==Wittgensteins »Aspekt&shy;sehen«==
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Mit dem vielzitierten Beispiel einer gezeich&shy;neten Gestalt, deren Kontu&shy;ren wahlwei&shy;se einen Hasen- oder einen Enten&shy;kopf<ref>Witt&shy;gen&shy;stein kann&shy;te die&shy;se Fi&shy;gur aus den Ar&shy;bei&shy;ten des ame&shy;ri&shy;ka&shy;ni&shy;schen Psy&shy;cho&shy;lo&shy;gen Jo&shy;seph Jas&shy;trow, der sei&shy;ne Über&shy;le&shy;gun&shy;gen da&shy;zu be&shy;reits 1899 ver&shy;öf&shy;fent&shy;lich&shy;te.</ref> sehen lässt, hat Wittgen&shy;stein das so genann&shy;te ''Aspektsehen'' beschrie&shy;ben, das er „halb Seher&shy;lebnis, halb ein Denken“ (<bib id='Wittgenstein 1971a'>Wittgen&shy;stein 1971</bib>: S. 525) nannte. Aspekt&shy;sehen ist ein seman&shy;tisches “Sehen-als”; ich sehe dabei etwas-als-etwas, nämlich die Strichfi&shy;gur als Hasen resp. als Ente. Beide Bedeu&shy;tungen sehe ich nicht “in die Strichfi&shy;gur hinein”, wie ich etwa Geogra&shy;phien in Wolken&shy;forma&shy;tionen hinein&shy;sehen kann, denn ich kann die Strichfi&shy;gur nicht als etwas Amor&shy;phes wahrneh&shy;men, ohne entwe&shy;der die eine oder die ande&shy;re Figur darin zu erken&shy;nen. Vielmehr hat das Sehen des Bildes zwei Möglich&shy;keiten: ''H'' oder ''E''. Die Amphi&shy;bolie von einem ins andere ist konsti&shy;tutiv für das Aspekt&shy;sehen. Es weist darin eine beden&shy;kenswer&shy;te Über&shy;einstim&shy;mung mit dem Darstel&shy;lungsse&shy;hen auf. Wenn man etwas Darge&shy;stelltes im Darstel&shy;lenden sieht, Greta Garbo als Mata Hari etwa, hält sich das Sehen inmit&shy;ten einer Diffe&shy;renz auf, die auch für das Aspekt&shy;sehen charak&shy;teristisch ist. Das Gesichts&shy;bild ändert sich nicht, wohl aber unsere Auffas&shy;sung von ihm.
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[[Kippbild|Kippfiguren]] sind daher weit über ihren Status als wahrneh&shy;mungspsy&shy;cholo&shy;gische Expe&shy;rimentier&shy;felder hinaus inte&shy;ressant für das Verhält&shy;nis von »Sehen«
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»Deuten«,
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»Vorstellen«.
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Wittgen&shy;stein fragt sich:
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:''Sehe ich jedesmal wirklich etwas ande&shy;res, oder deute ich nur, was ich sehe, auf verschie&shy;dene Weise? Ich bin geneigt, das erste zu sagen. Aber warum?'' (Ebd.: S. 550)
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Der Zuschreibungsakt ist phänomenal kein von der Perzep&shy;tion unter&shy;scheidba&shy;rer Vorgang. Das aber wäre notwen&shy;dig, um einen eigen&shy;ständi&shy;gen Wahrneh&shy;mungszu&shy;stand von einer schlussfol&shy;gernden Denk&shy;ope&shy;ration unter&shy;scheiden zu können<ref>In sei&shy;nem Kom&shy;men&shy;tar zu Witt&shy;gen&shy;steins Über&shy;le&shy;gun&shy;gen schreibt Thor&shy;sten Jant&shy;schek, Deu&shy;ten sei das Bil&shy;den ei&shy;ner An&shy;nah&shy;me über das Ge&shy;se&shy;he&shy;ne hin&shy;aus, aber wenn es so ein&shy;fach wä&shy;re, müss&shy;te man das Ge&shy;se&shy;he&shy;ne un&shy;ab&shy;hän&shy;gig von sei&shy;ner Deu&shy;tung be&shy;schrei&shy;ben kön&shy;nen (<bib id='Jantschek 1997a'>Jant&shy;schek 1997</bib>). Es gibt aber kein Bild un&shy;ab&shy;hän&shy;gig von sei&shy;ner Auf&shy;fas&shy;sung als Ha&shy;se oder En&shy;te. Wei&shy;ter führt uns dem&shy;nach die „Ein&shy;sicht, daß Den&shy;ken und Se&shy;hen (im&shy;mer schon) auf&shy;ein&shy;an&shy;der be&shy;zo&shy;gen sind und daß die&shy;se Be&shy;zie&shy;hung im Se&shy;hen-als zu&shy;ta&shy;ge tritt“. Ebd.: 319.</ref>. Das Aspekt&shy;sehen ist daher ein gutes Beispiel für die Untrenn&shy;barkeit von Wahrneh&shy;mung und Sinnbil&shy;dung: Ob ich die Kontu&shy;ren der Strichfi&shy;gur als Umris&shy;se eines Hasens oder einer Ente sehe, ist keine Frage einer nachträg&shy;lichen Urteils&shy;findung, sondern mit dem [[Theorien der visuellen Wahrnehmung|visu&shy;ellen Erfas&shy;sen]] ist sogleich der Eindruck dieser oder jener Figur gege&shy;ben. Es ähnelt auch darin dem Bilder&shy;sehen. Wir „sehen sie, wie wir sie deuten.“ (<bib id='Wittgenstein 1971a'>Wittgen&shy;stein 1971</bib>: S. 519).
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Das Beispiel macht insofern nur auf beson&shy;ders griffi&shy;ge Weise deutlich, dass Sehen oft bedeu&shy;tet, [[Perspektivik|Perspek&shy;tiven]] einzu&shy;nehmen, aus denen heraus etwas als ''x'' und nicht als ''y'' erscheint. Dinge haben und veran&shy;lassen verschie&shy;dene Ansich&shy;ten, was sie sind oder nicht sind, ist notwen&shy;dig perspek&shy;tivisch bedingt und auffas&shy;sungsab&shy;hängig.
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Im Unter&shy;schied zu arbit&shy;rär vielen Sichtwei&shy;sen sind Hasen- und Enten&shy;kopf aber beide gleicher&shy;maßen gege&shy;bene Sehmög&shy;lichkei&shy;ten und als solche keines&shy;wegs belie&shy;big.
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Indem Wittgenstein nun nach einem Krite&shy;rium sucht für das, was ‘eigent&shy;liches Sehen’ genannt werden könnte, gerät er an die Grenzen des Sprachge&shy;brauchs:
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:''‘Das ist doch kein Sehen!’ – ‘Das ist doch ein Sehen!’ – Beide müssen sich begriff&shy;lich rechtfer&shy;tigen lassen. [...] Inwie&shy;fern ist es ein Sehen?“ (Ebd.: 324f.)
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Die Schwierigkeiten sind solche der Beschrei&shy;bungsspra&shy;che, denn um diese Form des Sehens-als zu beschrei&shy;ben, muss man so etwas wie eine erste Ebene basa&shy;ler Sinnes&shy;wahrneh&shy;mung zugrun&shy;de legen, auch wenn die Pointe des Aspekt&shy;sehens gerade darin liegt, dass Visu&shy;elles und Menta&shy;les nicht getrennt vonein&shy;ander vorkom&shy;men. Sie sind ge&shy;wisser&shy;maßen zugleich getrennt und unge&shy;trennt, weil man einer&shy;seits Akte respon&shy;siver Kenntnis&shy;nahme von Akten logi&shy;schen Schließens oder narra&shy;tiven Deutens gene&shy;rell unter&shy;scheiden kann, ande&shy;rerseits aber kein sinnli&shy;ches Rohma&shy;terial perzi&shy;piert, sondern eine je bedeu&shy;tungshaft orga&shy;nisierte Wahrneh&shy;mung hat.
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Thomas Kuhn hat abrupte Paradigmen&shy;wechsel inner&shy;halb der Wissen&shy;schaftsent&shy;wicklung als ‘Sehen-als’ bezeich&shy;net. Nach einer wissen&shy;schaftli&shy;chen Revo&shy;lution werde die Welt ‘als etwas ande&shy;res gesehen’. „Was in der Welt des Wissen&shy;schaftlers vor der Revo&shy;lution Ente (sic) waren, sind nachher Kanin&shy;chen“ (<bib id='Kuhn 1973a'>Kuhn 1973</bib>: S. 123). ‘Anders&shy;sehen’ heißt in diesem Zusam&shy;menhang folglich ‘im Rahmen ande&shy;rer Theorie&shy;gebäu&shy;de sehen’<ref>Ju&shy;dith Ge&shy;no&shy;va ver&shy;steht Witt&shy;gen&shy;steins gan&shy;zes Phi&shy;lo&shy;so&shy;phie&shy;ren als me&shy;tho&shy;disch prak&shy;ti&shy;zier&shy;tes As&shy;pekt&shy;se&shy;hen, um an&shy;ders als ge&shy;wöhn&shy;lich wahr&shy;neh&shy;men zu kön&shy;nen; <bib id='Genova 1995a'>Ge&shy;no&shy;va 1995a</bib></ref>.
  
=====Sehen als absolute Metapher=====
 
Nicht zufällig deutet der Sprachgebrauch des Sehens und seiner Komposita auf eine Intelligibilität des Gesichtssinnes, die schwerlich nur als verblasste Metaphorik abzutun ist: Der genaue Beobachter verschafft sich einen Durchblick oder gelangt zu einer Einsicht; das Ansehen einer Person entwickelt sich nicht unabhängig von dem Anblick, den sie bietet; welche Sicht man auf die Dinge einnimmt, hängt davon ab, wie sehr man sie überschaut oder wovon man absieht; jemand wirft mir eine sprechenden Blick zu, der zu sagen scheint: Sieh dich vor! – Wollte man das alles nur als übertragene Redeweise disqualifizieren, spräche man nicht nur der Sprache jeden philosophischen Eigensinn ab, sondern verkennte vor allem die Unvermeidlichkeit, ja Unhintergehbarkeit ihrer Metaphorizität. Von all den beschriebenen Vorgängen lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, was an den damit verbundenen Tätigkeiten des Schauens, Blickens oder Beobachtens im engeren Sinne sinnlich ist. So schwierig Worte wie ‚Augenblick’ oder ‚Anschauung’ in andere Sprachen zu übersetzen sind, so wenig ist die Sinnfälligkeit von Worten wie ‚Einblick’ oder ‚Gesichtspunkt’ ersetzbar durch eindeutigere Begriffe. Diese Worte bezeichnen nichts Paraphrasierbares und sind kein Ornament von etwas, das sich auch einfacher sagen ließe.
 
Mit Blumenberg wird man das Sehen daher durchaus als eine absolute Metapher bezeichnen und sagen dürfen, dass die verba videndi für „die logische Verlegenheit [...] einspring[en]“<ref><bib id='Blumenberg 1999a'>Blumenberg 1999</bib>: S.10ff. (Zuerst in: Archiv für Begriffsgeschichte 6 (1960). 7-142.)</ref>, in die das Denken gerät, wenn es das Verhältnis von Sicht und Einsicht bzw. von Sehen und Sehweisen erklären soll. Von der metaphorischen Rede übers Sehen lässt sich kein eindeutiger, ‚eigentlicher’ Begriff abzukoppeln. Vielmehr ist die figürliche Rede Indiz einer Problemlage und ihre Unvermeidlichkeit verdient Beachtung<ref>Ralf Konersmann hat einen ähnlichen Gedanken für die Metapher des Spiegels durchgespielt, welche gerade in ihrer terminologischen Unfixierbarkeit das geeignete Darstellungsmedium für die Ungreifbarkeit der Subjektivität in ihrer sich selbst entzogenen Gegebenheitsweise ist. <bib id='Konersmann 1991a'>Konersmann 1991</bib></ref>, verweist sie doch darauf, dass die Reduktion des Sehens auf Sinneswahrnehmung nur ein Moment eines holistischen Tätigkeitszusammenhangs künstlich isoliert. Die Metaphorizität des Begriffsfeldes stellt selbst eine sinnfällige Sicht vom Sehen dar. Dieses steht unausgesetzt im Konnotationsfeld des Verstehens, es ist ‚buchstäblich’ die Bewegung einer Ein-Sicht, welche weder rein aisthetisch, noch rein mental verfasst sein kann. Es ist eine Weise der Welterschließung, eine aisthetische Weise, deren ästhetische und imaginierende Ausgriffe im Einzelnen zu untersuchen sind. Einem holistischen Verständnis der Wahrnehmungspraxis nach können Tätigkeiten des Sich-Vor-Sehens oder des Durchschauens keine nur bildlichen Redensarten bezeichnen. Ebenso wenig können sie freilich „schlichte“, „reine“ oder „basale“ perzeptive Vorgänge sein, denn die Annahme solcher Vorgänge ist selbst bereits ein irreführender Sprachgebrauch. Als ins Praktische verstrickte Weisen, sich zu sich selbst und den anderen zu verhalten, sind solche Tätigkeiten aisthetisch und epistemisch zugleich, sie sind an die Augentätigkeit gebunden, ohne sich darin zu erschöpfen.
 
Zwar kann es Einzelfälle eines vornehmlich metaphorischen Sprachgebrauchs vom Sehen geben: Um zu ‚sehen’, was du meinst, muss mir nicht notwendig etwas Sichtbares vor Augen stehen; das Ansehen einer Person ist selbst nichts sinnlich Gegebenes etc. Aber solche vergleichsweise eindeutigen Fälle sind gegenüber den vielschichtigen Vernetzungen des Aisthetischen und des Mentalen eher die Ausnahme als die Regel. Ungleich häufiger sieht man jemandem regelrecht an, dass er etwas sagen will, hängt das Ansehen einer Person mit ihrem sichtbaren Erscheinungsbild zusammen usw.
 
Es scheint daher nicht nur sinnvoll, sondern regelrecht geboten, davon auszugehen, dass es nicht ‚bloß metaphorisch’ ist, wenn man sagt, man sehe sich vor, man revidiere etwas, etwas zeige sich in einem gewissen Licht, sehe von bestimmten ‚viewpoints’ – Chladenius’ ‚Sehe-Punckte’ (<bib id='Chladenius 1742a'>Chladenius 1742</bib>), die früher Standpunkte (<bib id='Röttgers 1994a'>Röttgers 1994</bib>) waren, – so aus etc. Jenseits dieser Sprachbilder ist kein eigentlicher Begriff des Sehens zu haben, so der Befund.
 
  
Übrigens erfährt diese Sicht auch von analytischer Seite Unterstützung, wenn der Bewusstseinstheoretiker Colin McGinn etwas Ähnliches mit dem entfaltet, was er Mindsight (<bib id='McGinn 2004a'>McGinn 2004</bib>) nennt. Obwohl er sich mit einer Liste von Differenzkriterien zur Unterscheidung von Wahrnehmungen (percepts) und Vorstellungen (images) der Sicht Sartres anschließt, dass beide nicht nur graduell, sondern prinzipiell verschieden sind, kommt er im zweiten Kapitel seiner Studie auf ein ‚geistiges Auge’ zu sprechen, das keine metaphorische Redeweise sei: „I shall argue, that [...] the phrase ‚the mind’s eye’ is not metaphorical. It is literally true that we see with our mind.“ (ebd.: S.42) Im dritten Kapitel bespricht er eine Hybridform von ‚körperlichem’ („a ‚with the body’ kind of seeing“) und ‚geistigem’ Sehen, das er „imaginative seeing“ nennt. Dieses umfasst „the seeing of aspects, the seeing of pictures, and imagination-driven perceptual distortions“.<ref>Ebd.: S. 49</ref> Gewissermaßen gegen seinen ursprünglichen Ausgangspunkt, nämlich gegen die Annahme einer strikten, analytischen Trennbarkeit von Wahrnehmungen und Vorstellungen, kommt McGinn zu der Einsicht, dass die Dichotomien praktisch kollabieren, denn es gibt eines Visualität von Vorstellungen und eine Bildlichkeit von Wahrnehmungen, die sich der prinzipiellen Separierung entziehen.
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==Heideggers »Ausle&shy;gen«==
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Martin Heidegger hat die Untrennbar&shy;keit von »Denken«
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und »Sehen«
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»Ausle&shy;gen«
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erläu&shy;tert. Heideg&shy;ger schreibt, die Auffas&shy;sung,
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:''zunächst ist ein pures Vorhan&shy;denes erfah&shy;ren, das dann als Tür, als Haus aufge&shy;faßt wird [...] wäre ein Mißver&shy;ständnis der spezi&shy;fischen Erschlie&shy;ßungsfunk&shy;tion der Ausle&shy;gung'' (<bib id='Heidegger 2006a'>Heideg&shy;ger 2006</bib>: S. 150).  
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Bereits das “schlichte Sehen” trage diese „Ausle&shy;gungsstruk&shy;tur [...] ursprüng&shy;lich in sich“, alles ande&shy;re sei verständ&shy;nislo&shy;ses „Anstar&shy;ren“ (ebd.: S. 149). Ein “als-freies” Erfas&shy;sen sei weder eine ursprüng&shy;liche Form von Wahrneh&shy;mung, noch ein sinnvol&shy;ler Gebrauch des Begriffs »Sehens«, sondern eine leere Abstrak&shy;tion bzw. eine künstlich abge&shy;leite&shy;te Priva&shy;tionsform verste&shy;hender, ausle&shy;gender Weltwahr&shy;nehmung. Ausle&shy;gung sei nicht das nachträg&shy;liche Verlei&shy;hen einer Bedeu&shy;tung über “an sich” Bedeu&shy;tungslo&shy;ses, sondern lege die Bewandt&shy;nisganz&shy;heit des Weltver&shy;stehens aus.
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Wie jede Welterschließung ist das Ausle&shy;gen ein Verste&shy;henspro&shy;zess von zirku&shy;lärer Voraus&shy;setzungs&shy;haftig&shy;keit: Die Ausle&shy;gung von etwas-als-etwas gründet in einem Vorgriff auf eine bestimm&shy;te Grundbe&shy;grifflich&shy;keit, für die sie sich endgül&shy;tig oder vorbe&shy;haltlich immer schon entschie&shy;den hat. „Ausle&shy;gung ist nie ein voraus&shy;setzungs&shy;loses Erfas&shy;sen eines Vorge&shy;gebenen.“ (ebd.: S.150)‘Vorver&shy;stehen’ bezeich&shy;net die herme&shy;neuti&shy;sche Struktur einer jewei&shy;ligen kultu&shy;rell und histo&shy;risch beding&shy;ten Dispo&shy;sition des Verste&shy;henden. Wenn man sich auf etwas “Gege&shy;benes” beru&shy;fe, so sei dieses (in Heideg&shy;gers Beispiel der auszu&shy;legen&shy;de Text) „nichts anderes als die selbstver&shy;ständli&shy;che, undis&shy;kutier&shy;te Vormei&shy;nung des Ausle&shy;gers“(ebd.).
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Durchaus vergleichbar also mit dem »Weltbild« bei Wittgen&shy;stein entschei&shy;det in der herme&shy;neuti&shy;schen Konzep&shy;tion das Vorver&shy;stehen darü&shy;ber, wie und als was etwas Sichtba&shy;res gese&shy;hen werden kann. Das Sichtba&shy;re ist stets nur unter den Bedin&shy;gungen der „Vor-Struktur des Verste&shy;hens und der Als-Struktur der Ausle&shy;gung“ (ebd.) sichtbar. Die Als-Struktur ist eben&shy;so dem Bewusst&shy;sein geschul&shy;det, das gerich&shy;tet ist und etwas-als-etwas wahrnimmt, wie auch dem Sichtba&shy;ren selbst, das sich stets als-etwas zeigt, nämlich im Lichte einer Situ&shy;ation und vor dem Hinter&shy;grund unsicht&shy;barer Rahmen&shy;fakto&shy;ren, wie sie durch Geschich&shy;te, Kultur und Gesell&shy;schaft konsti&shy;tuiert werden.
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Welche Sicht ich einnehmen kann, hängt von Hinsicht&shy;nahmen des Vorver&shy;stehens ab: Die Umsicht des Besor&shy;gens, die Rücksicht der Fürsor&shy;ge stellen weit entfernt davon, nur bildhaf&shy;te Aus&shy;drücke zu sein, exis&shy;tentiel&shy;le Sichtwei&shy;sen dar, Synthe&shy;sen von Denken und [[Anschauung|Anschau&shy;ung]]. Was Heideg&shy;ger als ‘ausle&shy;gendes Sehen’ bezeich&shy;net, ist eine Form aisthe&shy;tischer Welter&shy;schließung, die in herme&shy;neuti&shy;schen und inter&shy;preta&shy;tiven Vollzü&shy;gen besteht, in denen man Bekann&shy;tes auf Neues appli&shy;ziert, es in einen [[Horizont|Hori&shy;zont]] einord&shy;net, Gegen&shy;wärtiges vernimmt und durch Hinzu&shy;erfun&shy;denes ergänzt. Es ist inso&shy;fern rezep&shy;tiv und projek&shy;tiv zugleich.
  
  
=====Auswirkungen auf andere Begriffe=====
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==»Sehen« als absolute Meta&shy;pher==
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Nicht zufällig deutet der Sprachge&shy;brauch des ‘Sehen’s und seiner Kompo&shy;sita auf eine Intel&shy;ligi&shy;bili&shy;tät des Gesichts&shy;sinnes, die schwerlich nur als verblass&shy;te Sprachliche [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie|Meta&shy;phorik]] abzu&shy;tun ist: Der genaue [[Beobachtung|Beobach&shy;ter]] verschafft sich einen ''Durchblick'' oder gelangt zu einer ''Einsicht''; das ''Anse&shy;hen'' einer Person ent&shy;wickelt sich nicht unab&shy;hängig von dem ''Anblick'', den sie bietet; welche ''Sicht'' man auf die Dinge einnimmt, hängt davon ab, wie sehr man sie ''über&shy;schaut'' oder wovon man ''absieht''; jemand wirft mir einen ''sprechen&shy;den Blick'' zu, der zu sagen scheint: ''‘Sieh dich vor!’'' — Wollte man das alles nur als über&shy;trage&shy;ne Rede&shy;weise disqua&shy;lifi&shy;zieren, spräche man nicht nur der Sprache jeden philo&shy;sophi&shy;schen Eigen&shy;sinn ab, sondern verkenn&shy;te vor allem die Unver&shy;meidlich&shy;keit, ja Unhin&shy;tergeh&shy;barkeit ihrer Meta&shy;phori&shy;zität. Von all den beschrie&shy;benen Vorgän&shy;gen lässt sich nicht mit Bestimmt&shy;heit sagen, was an den damit verbun&shy;denen Tätig&shy;keiten des Schauens, Blickens oder Beobach&shy;tens im enge&shy;ren Sinne sinnlich ist. So schwierig Worte wie ‘Augen&shy;blick’ oder ‘Anschau&shy;ung’ in ande&shy;re Sprachen zu über&shy;setzen sind, so wenig ist die Sinnfäl&shy;ligkeit von Worten wie ‘Einblick’ oder ‘Gesichts&shy;punkt’ ersetz&shy;bar durch eindeu&shy;tige&shy;re Bezeich&shy;nungen. Diese Worte bezeich&shy;nen nichts Para&shy;phrasier&shy;bares und sind kein Orna&shy;ment von etwas, das sich auch einfa&shy;cher sagen ließe.
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Mit Blumenberg wird man das Sehen daher durchaus als ‘eine abso&shy;lute Meta&shy;pher’ bezeich&shy;nen und sagen dürfen, dass die verba viden&shy;di für „die logi&shy;sche Verle&shy;genheit [...] ein&shy;spring[en]“ (<bib id='Blumenberg 1999a'>Blumen&shy;berg 1999</bib>: S.10ff.<ref>Zu&shy;erst in: ''Ar&shy;chiv für Be&shy;griffs&shy;ge&shy;schich&shy;te'' 6 (1960), 7-142.</ref>), in die das Denken gerät, wenn es das Verhält&shy;nis von »Sicht« und »Einsicht« bzw. von »Sehen« und »Sehwei&shy;sen« erklären soll. Von der meta&shy;phori&shy;schen Rede übers Sehen lässt sich kein eindeu&shy;tiger, “eigent&shy;licher” Begriff abkop&shy;peln. Vielmehr ist die figür&shy;liche Rede Indiz einer Problem&shy;lage und ihre Unver&shy;meidlich&shy;keit verdient Beach&shy;tung,<ref>Ralf Ko&shy;ners&shy;mann hat ei&shy;nen ähn&shy;li&shy;chen Ge&shy;dan&shy;ken für die Me&shy;ta&shy;pher des Spie&shy;gels durch&shy;ge&shy;spielt, wel&shy;che ge&shy;ra&shy;de in ih&shy;rer ter&shy;mi&shy;no&shy;lo&shy;gi&shy;schen Un&shy;fi&shy;xier&shy;bar&shy;keit das ge&shy;eig&shy;ne&shy;te Dar&shy;stel&shy;lungs&shy;me&shy;di&shy;um für die Un&shy;greif&shy;bar&shy;keit der Sub&shy;jek&shy;ti&shy;vi&shy;tät in ih&shy;rer sich selbst ent&shy;zo&shy;ge&shy;nen Ge&shy;ge&shy;ben&shy;heits&shy;wei&shy;se ist (<bib id='Konersmann 1991a'>Ko&shy;ners&shy;mann 1991</bib>).</ref> verweist sie doch darauf, dass die Reduk&shy;tion des »Sehens« auf »Sinnes&shy;wahrneh&shy;mung« nur ein Moment eines holis&shy;tischen Tätig&shy;keitszu&shy;sammen&shy;hangs künstlich iso&shy;liert. Die Meta&shy;phori&shy;zität des Begriffs&shy;feldes stellt selbst eine sinnfäl&shy;lige “Sicht” vom Sehen dar. Dieses steht unaus&shy;gesetzt im Konno&shy;tations&shy;feld des »Verste&shy;hens«, es ist “buchstäb&shy;lich” die Bewe&shy;gung einer Ein-Sicht, welche weder rein aisthe&shy;tisch, noch rein mental verfasst sein kann. Es ist eine Weise der Welter&shy;schließung, eine aisthe&shy;tische Weise, deren ästhe&shy;tische und ima&shy;ginie&shy;rende Ausgrif&shy;fe im Einzel&shy;nen zu unter&shy;suchen sind. Einem holis&shy;tischen Verständ&shy;nis der Wahrneh&shy;mungspra&shy;xis nach können Tätig&shy;keiten des »Sich-Vor-Sehens« oder des »Durchschau&shy;ens« keine nur bildli&shy;chen Redens&shy;arten bezeich&shy;nen. Eben&shy;so wenig können sie freilich “schlichte”, “reine” oder “basa&shy;le” perzep&shy;tive Vorgän&shy;ge sein, denn die Annah&shy;me solcher Vorgän&shy;ge ist selbst bereits ein irre&shy;führen&shy;der Sprachge&shy;brauch. Als ins Prakti&shy;sche ver&shy;strickte Weisen, sich zu sich selbst und den anderen zu verhal&shy;ten, sind solche [[Exkurs:Handlungen|Tätig&shy;keiten]] aisthe&shy;tisch und epis&shy;temisch zugleich, sie sind an die Augen&shy;tätigkeit gebun&shy;den, ohne sich darin zu erschöp&shy;fen.
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Zwar kann es Einzelfälle eines vornehm&shy;lich meta&shy;phori&shy;schen Sprachge&shy;brauchs vom »Sehen« geben: Um zu “sehen”, was du meinst, muss mir nicht notwen&shy;dig etwas Sichtba&shy;res vor Augen stehen; das “Anse&shy;hen” einer Person ist selbst nichts sinnlich Gege&shy;benes etc. Aber solche vergleichs&shy;weise eindeu&shy;tigen Fälle sind gegen&shy;über den vielschich&shy;tigen Vernet&shy;zungen des Aisthe&shy;tischen und des Menta&shy;len eher die Ausnah&shy;me als die Regel. Ungleich häufi&shy;ger ''sieht'' man jeman&shy;dem regelrecht ''an'', dass er etwas sagen will, hängt das “Anse&shy;hen” einer Person mit ihrem ''sichtba&shy;ren Erschei&shy;nungsbild'' zusam&shy;men usw.
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Es scheint daher nicht nur sinnvoll, sondern regel&shy;recht gebo&shy;ten, davon auszu&shy;gehen, dass es nicht ''bloß meta&shy;phorisch'' ist, wenn man sagt, man ''sehe sich vor'', man ''revi&shy;diere'' etwas, etwas ''zeige sich in einem gewis&shy;sen Licht'', sehe von bestimm&shy;ten “viewpoints” – Chlade&shy;nius’ ‘Sehe-Punckte’ (<bib id='Chladenius 1742a'>Chlade&shy;nius 1742</bib>), die früher ‘Standpunk&shy;te’ (<bib id='Röttgers 1994a'>Röttgers 1994</bib>) waren, – so aus etc. Jenseits dieser Sprachbil&shy;der ist kein eigent&shy;licher Begriff des »Sehens« zu haben, so der Befund.
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Übrigens erfährt diese Sicht auch von ana&shy;lyti&shy;scher Seite Unter&shy;stützung, wenn der Bewusst&shy;seinstheo&shy;retiker Colin McGinn etwas Ähnli&shy;ches mit dem entfal&shy;tet, was er ‘Mindsight’ (<bib id='McGinn 2004a'>McGinn 2004</bib>) nennt. Obwohl er sich mit einer Liste von Diffe&shy;renzkri&shy;terien zur Unter&shy;scheidung von Wahrneh&shy;mungen (percepts) und Vorstel&shy;lungen (images) der Sicht Sartres anschließt, dass beide nicht nur gradu&shy;ell, sondern prinzi&shy;piell verschie&shy;den sind, kommt er im zweiten Kapi&shy;tel seiner Studie auf ein “geisti&shy;ges Auge” zu sprechen, das keine meta&shy;phori&shy;sche Rede&shy;weise sei:
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:''I shall argue, that [...] the phrase ‘the mind’s eye’ is not meta&shy;phorical. It is liter&shy;ally true that we see with our mind.'' (ebd.: S.42)
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Im dritten Kapitel bespricht er eine Hybridform von “körper&shy;lichem” („a ‘with the body’ kind of seeing“) und “geisti&shy;gem” Sehen, das er ‘imagi&shy;native seeing’ nennt. Dieses umfasst „the seeing of aspects, the seeing of pic&shy;tures, and imagi&shy;nation-driven percep&shy;tual distor&shy;tions.'' (Ebd.: S. 49)
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Gewissermaßen gegen seinen ursprüng&shy;lichen Ausgangs&shy;punkt, nämlich gegen die Annah&shy;me einer strikten, ana&shy;lyti&shy;schen Trennbar&shy;keit von Wahrneh&shy;mungen und Vorstel&shy;lungen, kommt McGinn zu der Einsicht, dass die Dicho&shy;tomien praktisch kolla&shy;bieren, denn es gibt eines Visu&shy;alität von Vorstel&shy;lungen und eine Bildlich&shy;keit von Wahrneh&shy;mungen, die sich der prinzi&shy;piellen Sepa&shy;rierung entzie&shy;hen.
  
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* [[Auge]]
 
* [[Beobachtung]]
 
* [[Beobachtung]]
* [[Sehendes Sehen]]
 
 
* [[Blick]]
 
* [[Blick]]
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* [[Einbildungskraft]]
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* [[Horizont]]
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* [[Kippbild]]
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* [[Sprachliche Metaphern und allgemeine Metaphorologie]]
 
* [[Perspektivik]]
 
* [[Perspektivik]]
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* [[Sehendes Sehen]]
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* [[Theorien der visuellen Wahrnehmung]]
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* [[Vorstellung]]
 
* [[Weltbild]]
 
* [[Weltbild]]
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* [[Benutzer:Mark A. Halawa|Halawa, Mark]]
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<!--Das war's-->
 
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Aktuelle Version vom 16. Dezember 2019, 13:57 Uhr

Unterpunkt zu: Grundbegriffe der Bildlichkeit


Der Gesichtssinn[1]

Die Spezifik des Gesichtssinnes besteht in seiner Nähe zu Prozes­sen des Verste­hens, Denkens und Ausle­gens. Sehen ist eine Tätig­keit von Auge und Gehirn und wirft damit bewusst­seinstheo­reti­sche Fragen auf. Zwei entschei­dende Posi­tionen der Philo­sophie des 20. Jahrhun­derts behan­deln das Verhält­nis von Visu­ellem und Menta­lem als ein praktisch untrenn­bares Bezie­hungsge­füge, das in der theore­tischen Beschrei­bung jedoch ausein­ander divi­diert wird. Ludwig Wittgen­stein und Martin Heideg­ger kommen dabei zu weitge­henden Über­einstim­mungen in ihren Ausfüh­rungen dessen, was ein sinnvol­ler Gebrauch des Wortes ‘Sehen’ sein kann.

In seiner ununterbrochenen Bezie­hung zum Menta­len bezieht das Sehen sich nicht nur auf raumzeit­lich Anwe­sendes, sondern auch auf sinnlich Abwe­sendes. Bereits einfa­che wahrneh­mungspsy­cholo­gische Expe­rimente[2] zeigen, dass man eine Quali­tät des Vorstel­lens im Sehen anneh­men muss, um etwa ergän­zendes Sehen erklä­ren zu können. Je höher der Vorstel­lungsgrad eines einzel­nen Wahrneh­mungsak­tes ist, umso mehr sieht man, dass Kant Recht hatte, als er die Einbil­dungskraft eine „Ingre­dienz der Wahrneh­mung“ ([Kant 1968]Kant, Immanuel (1968).
Kritik der reinen Vernunft. Berlin: de Gruyter, A: 1781, B: 1787.

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: S. 89ff.) nannte. Wenn Vorge­stelltes, Erwar­tetes, Ergänz­tes oder Gedeu­tetes in die Wahrneh­mungspra­xis hinein­spielen, bedeu­tet das, dass sich etwas sinnlich Nicht-Gegen­wärti­ges ins Sichtba­re einmischt.
Was Wittgen­stein unter den Begrif­fen »Lebens­form« und »Weltbild« beschrie­ben hat, das fraglos Gege­bene einer Kultur- und Sprachge­meinschaft, „das Hinzu­nehmen­de“ ([Wittgen­stein 1971]Wittgen­stein, Ludwig (1971).
Philo­sophi­sche Unter­suchun­gen. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

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: S. 572) und das, was „jenseits von berech­tigt und unbe­rechtigt“ ([Wittgen­stein 1984]Wittgenstein, Ludwig (1984).
Über Gewiß­heit. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

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: § 359) als ausge­macht und sicher gilt, wirkt sich nicht nur auf den Sprachge­brauch, sondern auch auf die Wahrneh­mungsmög­lichkei­ten einer Zeit aus. Die Gesamt­heit gelten­der Normen und herrschen­der Über­zeugun­gen, Sitten und Wertvor­stellun­gen, die die Praxis einer Kultur und Gesell­schaft prägen, bilden deren Weltbild im Sinne eines „System[s] von Geglaub­tem“ (A.a.O.: § 144) aus.

Weltbilder im Sinne einer norma­tiven “Hinter­grundstrah­lung” des Sprechens, Wahrneh­mens und Handelns sind zugleich Voraus­setzun­gen und Produk­te perzep­tiver Welter­schließung. Man könnte statt von ‘Weltbil­dern’ auch von ‘Weltan­schauungen’ reden[3], die in Einstel­lungen, Verhal­tenswei­sen und norma­tiven Orien­tierun­gen einer Kultur­gemein­schaft präsent sind.


Wittgensteins »Aspekt­sehen«

Mit dem vielzitierten Beispiel einer gezeich­neten Gestalt, deren Kontu­ren wahlwei­se einen Hasen- oder einen Enten­kopf[4] sehen lässt, hat Wittgen­stein das so genann­te Aspektsehen beschrie­ben, das er „halb Seher­lebnis, halb ein Denken“ ([Wittgen­stein 1971]Wittgen­stein, Ludwig (1971).
Philo­sophi­sche Unter­suchun­gen. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

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: S. 525) nannte. Aspekt­sehen ist ein seman­tisches “Sehen-als”; ich sehe dabei etwas-als-etwas, nämlich die Strichfi­gur als Hasen resp. als Ente. Beide Bedeu­tungen sehe ich nicht “in die Strichfi­gur hinein”, wie ich etwa Geogra­phien in Wolken­forma­tionen hinein­sehen kann, denn ich kann die Strichfi­gur nicht als etwas Amor­phes wahrneh­men, ohne entwe­der die eine oder die ande­re Figur darin zu erken­nen. Vielmehr hat das Sehen des Bildes zwei Möglich­keiten: H oder E. Die Amphi­bolie von einem ins andere ist konsti­tutiv für das Aspekt­sehen. Es weist darin eine beden­kenswer­te Über­einstim­mung mit dem Darstel­lungsse­hen auf. Wenn man etwas Darge­stelltes im Darstel­lenden sieht, Greta Garbo als Mata Hari etwa, hält sich das Sehen inmit­ten einer Diffe­renz auf, die auch für das Aspekt­sehen charak­teristisch ist. Das Gesichts­bild ändert sich nicht, wohl aber unsere Auffas­sung von ihm.

Kippfiguren sind daher weit über ihren Status als wahrneh­mungspsy­cholo­gische Expe­rimentier­felder hinaus inte­ressant für das Verhält­nis von »Sehen«  und »Deuten«, »Wahrnehmen« und »Vorstellen«. Wittgen­stein fragt sich:

Sehe ich jedesmal wirklich etwas ande­res, oder deute ich nur, was ich sehe, auf verschie­dene Weise? Ich bin geneigt, das erste zu sagen. Aber warum? (Ebd.: S. 550)
Der Zuschreibungsakt ist phänomenal kein von der Perzep­tion unter­scheidba­rer Vorgang. Das aber wäre notwen­dig, um einen eigen­ständi­gen Wahrneh­mungszu­stand von einer schlussfol­gernden Denk­ope­ration unter­scheiden zu können[5]. Das Aspekt­sehen ist daher ein gutes Beispiel für die Untrenn­barkeit von Wahrneh­mung und Sinnbil­dung: Ob ich die Kontu­ren der Strichfi­gur als Umris­se eines Hasens oder einer Ente sehe, ist keine Frage einer nachträg­lichen Urteils­findung, sondern mit dem visu­ellen Erfas­sen ist sogleich der Eindruck dieser oder jener Figur gege­ben. Es ähnelt auch darin dem Bilder­sehen. Wir „sehen sie, wie wir sie deuten.“ ([Wittgen­stein 1971]Wittgen­stein, Ludwig (1971).
Philo­sophi­sche Unter­suchun­gen. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

  Eintrag in Sammlung zeigen
: S. 519).

Das Beispiel macht insofern nur auf beson­ders griffi­ge Weise deutlich, dass Sehen oft bedeu­tet, Perspek­tiven einzu­nehmen, aus denen heraus etwas als x und nicht als y erscheint. Dinge haben und veran­lassen verschie­dene Ansich­ten, was sie sind oder nicht sind, ist notwen­dig perspek­tivisch bedingt und auffas­sungsab­hängig. Im Unter­schied zu arbit­rär vielen Sichtwei­sen sind Hasen- und Enten­kopf aber beide gleicher­maßen gege­bene Sehmög­lichkei­ten und als solche keines­wegs belie­big.

Indem Wittgenstein nun nach einem Krite­rium sucht für das, was ‘eigent­liches Sehen’ genannt werden könnte, gerät er an die Grenzen des Sprachge­brauchs:

‘Das ist doch kein Sehen!’ – ‘Das ist doch ein Sehen!’ – Beide müssen sich begriff­lich rechtfer­tigen lassen. [...] Inwie­fern ist es ein Sehen?“ (Ebd.: 324f.)

Die Schwierigkeiten sind solche der Beschrei­bungsspra­che, denn um diese Form des Sehens-als zu beschrei­ben, muss man so etwas wie eine erste Ebene basa­ler Sinnes­wahrneh­mung zugrun­de legen, auch wenn die Pointe des Aspekt­sehens gerade darin liegt, dass Visu­elles und Menta­les nicht getrennt vonein­ander vorkom­men. Sie sind ge­wisser­maßen zugleich getrennt und unge­trennt, weil man einer­seits Akte respon­siver Kenntnis­nahme von Akten logi­schen Schließens oder narra­tiven Deutens gene­rell unter­scheiden kann, ande­rerseits aber kein sinnli­ches Rohma­terial perzi­piert, sondern eine je bedeu­tungshaft orga­nisierte Wahrneh­mung hat.

Thomas Kuhn hat abrupte Paradigmen­wechsel inner­halb der Wissen­schaftsent­wicklung als ‘Sehen-als’ bezeich­net. Nach einer wissen­schaftli­chen Revo­lution werde die Welt ‘als etwas ande­res gesehen’. „Was in der Welt des Wissen­schaftlers vor der Revo­lution Ente (sic) waren, sind nachher Kanin­chen“ ([Kuhn 1973]Kuhn, Thomas (1973).
Die Struktur wissen­schaftli­cher Revo­lution. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

  Eintrag in Sammlung zeigen
: S. 123). ‘Anders­sehen’ heißt in diesem Zusam­menhang folglich ‘im Rahmen ande­rer Theorie­gebäu­de sehen’[6].


Heideggers »Ausle­gen«

Martin Heidegger hat die Untrennbar­keit von »Denken«  und »Sehen«  als »Ausle­gen«  erläu­tert. Heideg­ger schreibt, die Auffas­sung,

zunächst ist ein pures Vorhan­denes erfah­ren, das dann als Tür, als Haus aufge­faßt wird [...] wäre ein Mißver­ständnis der spezi­fischen Erschlie­ßungsfunk­tion der Ausle­gung ([Heideg­ger 2006]Heidegger, Martin (2006).
Sein und Zeit. Tü­bingen: Nie­meyer.

  Eintrag in Sammlung zeigen
: S. 150).

Bereits das “schlichte Sehen” trage diese „Ausle­gungsstruk­tur [...] ursprüng­lich in sich“, alles ande­re sei verständ­nislo­ses „Anstar­ren“ (ebd.: S. 149). Ein “als-freies” Erfas­sen sei weder eine ursprüng­liche Form von Wahrneh­mung, noch ein sinnvol­ler Gebrauch des Begriffs »Sehens«, sondern eine leere Abstrak­tion bzw. eine künstlich abge­leite­te Priva­tionsform verste­hender, ausle­gender Weltwahr­nehmung. Ausle­gung sei nicht das nachträg­liche Verlei­hen einer Bedeu­tung über “an sich” Bedeu­tungslo­ses, sondern lege die Bewandt­nisganz­heit des Weltver­stehens aus.

Wie jede Welterschließung ist das Ausle­gen ein Verste­henspro­zess von zirku­lärer Voraus­setzungs­haftig­keit: Die Ausle­gung von etwas-als-etwas gründet in einem Vorgriff auf eine bestimm­te Grundbe­grifflich­keit, für die sie sich endgül­tig oder vorbe­haltlich immer schon entschie­den hat. „Ausle­gung ist nie ein voraus­setzungs­loses Erfas­sen eines Vorge­gebenen.“ (ebd.: S.150)‘Vorver­stehen’ bezeich­net die herme­neuti­sche Struktur einer jewei­ligen kultu­rell und histo­risch beding­ten Dispo­sition des Verste­henden. Wenn man sich auf etwas “Gege­benes” beru­fe, so sei dieses (in Heideg­gers Beispiel der auszu­legen­de Text) „nichts anderes als die selbstver­ständli­che, undis­kutier­te Vormei­nung des Ausle­gers“(ebd.).

Durchaus vergleichbar also mit dem »Weltbild« bei Wittgen­stein entschei­det in der herme­neuti­schen Konzep­tion das Vorver­stehen darü­ber, wie und als was etwas Sichtba­res gese­hen werden kann. Das Sichtba­re ist stets nur unter den Bedin­gungen der „Vor-Struktur des Verste­hens und der Als-Struktur der Ausle­gung“ (ebd.) sichtbar. Die Als-Struktur ist eben­so dem Bewusst­sein geschul­det, das gerich­tet ist und etwas-als-etwas wahrnimmt, wie auch dem Sichtba­ren selbst, das sich stets als-etwas zeigt, nämlich im Lichte einer Situ­ation und vor dem Hinter­grund unsicht­barer Rahmen­fakto­ren, wie sie durch Geschich­te, Kultur und Gesell­schaft konsti­tuiert werden.

Welche Sicht ich einnehmen kann, hängt von Hinsicht­nahmen des Vorver­stehens ab: Die Umsicht des Besor­gens, die Rücksicht der Fürsor­ge stellen weit entfernt davon, nur bildhaf­te Aus­drücke zu sein, exis­tentiel­le Sichtwei­sen dar, Synthe­sen von Denken und Anschau­ung. Was Heideg­ger als ‘ausle­gendes Sehen’ bezeich­net, ist eine Form aisthe­tischer Welter­schließung, die in herme­neuti­schen und inter­preta­tiven Vollzü­gen besteht, in denen man Bekann­tes auf Neues appli­ziert, es in einen Hori­zont einord­net, Gegen­wärtiges vernimmt und durch Hinzu­erfun­denes ergänzt. Es ist inso­fern rezep­tiv und projek­tiv zugleich.


»Sehen« als absolute Meta­pher

Nicht zufällig deutet der Sprachge­brauch des ‘Sehen’s und seiner Kompo­sita auf eine Intel­ligi­bili­tät des Gesichts­sinnes, die schwerlich nur als verblass­te Sprachliche Meta­phorik abzu­tun ist: Der genaue Beobach­ter verschafft sich einen Durchblick oder gelangt zu einer Einsicht; das Anse­hen einer Person ent­wickelt sich nicht unab­hängig von dem Anblick, den sie bietet; welche Sicht man auf die Dinge einnimmt, hängt davon ab, wie sehr man sie über­schaut oder wovon man absieht; jemand wirft mir einen sprechen­den Blick zu, der zu sagen scheint: ‘Sieh dich vor!’ — Wollte man das alles nur als über­trage­ne Rede­weise disqua­lifi­zieren, spräche man nicht nur der Sprache jeden philo­sophi­schen Eigen­sinn ab, sondern verkenn­te vor allem die Unver­meidlich­keit, ja Unhin­tergeh­barkeit ihrer Meta­phori­zität. Von all den beschrie­benen Vorgän­gen lässt sich nicht mit Bestimmt­heit sagen, was an den damit verbun­denen Tätig­keiten des Schauens, Blickens oder Beobach­tens im enge­ren Sinne sinnlich ist. So schwierig Worte wie ‘Augen­blick’ oder ‘Anschau­ung’ in ande­re Sprachen zu über­setzen sind, so wenig ist die Sinnfäl­ligkeit von Worten wie ‘Einblick’ oder ‘Gesichts­punkt’ ersetz­bar durch eindeu­tige­re Bezeich­nungen. Diese Worte bezeich­nen nichts Para­phrasier­bares und sind kein Orna­ment von etwas, das sich auch einfa­cher sagen ließe.

Mit Blumenberg wird man das Sehen daher durchaus als ‘eine abso­lute Meta­pher’ bezeich­nen und sagen dürfen, dass die verba viden­di für „die logi­sche Verle­genheit [...] ein­spring[en]“ ([Blumen­berg 1999]Blumenberg, Hans (1999).
Para­digmen zu einer Meta­phoro­logie. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

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: S.10ff.[7]), in die das Denken gerät, wenn es das Verhält­nis von »Sicht« und »Einsicht« bzw. von »Sehen« und »Sehwei­sen« erklären soll. Von der meta­phori­schen Rede übers Sehen lässt sich kein eindeu­tiger, “eigent­licher” Begriff abkop­peln. Vielmehr ist die figür­liche Rede Indiz einer Problem­lage und ihre Unver­meidlich­keit verdient Beach­tung,[8] verweist sie doch darauf, dass die Reduk­tion des »Sehens« auf »Sinnes­wahrneh­mung« nur ein Moment eines holis­tischen Tätig­keitszu­sammen­hangs künstlich iso­liert. Die Meta­phori­zität des Begriffs­feldes stellt selbst eine sinnfäl­lige “Sicht” vom Sehen dar. Dieses steht unaus­gesetzt im Konno­tations­feld des »Verste­hens«, es ist “buchstäb­lich” die Bewe­gung einer Ein-Sicht, welche weder rein aisthe­tisch, noch rein mental verfasst sein kann. Es ist eine Weise der Welter­schließung, eine aisthe­tische Weise, deren ästhe­tische und ima­ginie­rende Ausgrif­fe im Einzel­nen zu unter­suchen sind. Einem holis­tischen Verständ­nis der Wahrneh­mungspra­xis nach können Tätig­keiten des »Sich-Vor-Sehens« oder des »Durchschau­ens« keine nur bildli­chen Redens­arten bezeich­nen. Eben­so wenig können sie freilich “schlichte”, “reine” oder “basa­le” perzep­tive Vorgän­ge sein, denn die Annah­me solcher Vorgän­ge ist selbst bereits ein irre­führen­der Sprachge­brauch. Als ins Prakti­sche ver­strickte Weisen, sich zu sich selbst und den anderen zu verhal­ten, sind solche Tätig­keiten aisthe­tisch und epis­temisch zugleich, sie sind an die Augen­tätigkeit gebun­den, ohne sich darin zu erschöp­fen.

Zwar kann es Einzelfälle eines vornehm­lich meta­phori­schen Sprachge­brauchs vom »Sehen« geben: Um zu “sehen”, was du meinst, muss mir nicht notwen­dig etwas Sichtba­res vor Augen stehen; das “Anse­hen” einer Person ist selbst nichts sinnlich Gege­benes etc. Aber solche vergleichs­weise eindeu­tigen Fälle sind gegen­über den vielschich­tigen Vernet­zungen des Aisthe­tischen und des Menta­len eher die Ausnah­me als die Regel. Ungleich häufi­ger sieht man jeman­dem regelrecht an, dass er etwas sagen will, hängt das “Anse­hen” einer Person mit ihrem sichtba­ren Erschei­nungsbild zusam­men usw.

Es scheint daher nicht nur sinnvoll, sondern regel­recht gebo­ten, davon auszu­gehen, dass es nicht bloß meta­phorisch ist, wenn man sagt, man sehe sich vor, man revi­diere etwas, etwas zeige sich in einem gewis­sen Licht, sehe von bestimm­ten “viewpoints” – Chlade­nius’ ‘Sehe-Punckte’ ([Chlade­nius 1742]Chladenius, Ernst Martin (1742).
Ein­leitung zur richti­gen Ausle­gung vernünf­tiger Reden und Schriften. Leipzig: Lanckisch.

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), die früher ‘Standpunk­te’ ([Röttgers 1994]Röttgers, K. (1994).
Der Stand­punkt und die Gesichts­punkte. In Archiv für Begriffs­geschich­te, 37, 257-284.

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) waren, – so aus etc. Jenseits dieser Sprachbil­der ist kein eigent­licher Begriff des »Sehens« zu haben, so der Befund.
Übrigens erfährt diese Sicht auch von ana­lyti­scher Seite Unter­stützung, wenn der Bewusst­seinstheo­retiker Colin McGinn etwas Ähnli­ches mit dem entfal­tet, was er ‘Mindsight’ ([McGinn 2004]McGinn, Colinn (2004).
Image, Dream, Meaning. Cam­bridge, Mass.: Har­vard Uni­versity Press.

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) nennt. Obwohl er sich mit einer Liste von Diffe­renzkri­terien zur Unter­scheidung von Wahrneh­mungen (percepts) und Vorstel­lungen (images) der Sicht Sartres anschließt, dass beide nicht nur gradu­ell, sondern prinzi­piell verschie­den sind, kommt er im zweiten Kapi­tel seiner Studie auf ein “geisti­ges Auge” zu sprechen, das keine meta­phori­sche Rede­weise sei:
I shall argue, that [...] the phrase ‘the mind’s eye’ is not meta­phorical. It is liter­ally true that we see with our mind. (ebd.: S.42)

Im dritten Kapitel bespricht er eine Hybridform von “körper­lichem” („a ‘with the body’ kind of seeing“) und “geisti­gem” Sehen, das er ‘imagi­native seeing’ nennt. Dieses umfasst „the seeing of aspects, the seeing of pic­tures, and imagi­nation-driven percep­tual distor­tions. (Ebd.: S. 49)

Gewissermaßen gegen seinen ursprüng­lichen Ausgangs­punkt, nämlich gegen die Annah­me einer strikten, ana­lyti­schen Trennbar­keit von Wahrneh­mungen und Vorstel­lungen, kommt McGinn zu der Einsicht, dass die Dicho­tomien praktisch kolla­bieren, denn es gibt eines Visu­alität von Vorstel­lungen und eine Bildlich­keit von Wahrneh­mungen, die sich der prinzi­piellen Sepa­rierung entzie­hen.

Anmerkungen
  1. Der fol­gen­de Bei­trag stellt ei­ni­ge Ar­gu­men­ten aus dem Buch [Schür­mann 2008]Schür­mann, Eva (2008).
    Sehen als Praxis. Ethisch-ästhe­tische Studien zum Verhält­nis von Sicht und Ein­sicht. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

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    vor.
  2. Ei­nen um­fang­rei­chen Über­blick da­r­über gibt [Gold­stein 1997]Goldstein, E. Bruce (1997).
    Wahr­nehmungs­psycho­logie. Eine Einfüh­rung. Heidel­berg u.a.: Springer.

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  3. Vgl. K. Jas­pers, der Welt­an­schau­un­gen nach sinn­lich-räum­li­chen, see­lisch-kul­tu­rel­len und me­ta­phy­si­schen Vor­kom­mens­wei­sen un­ter­schei­det [Jas­pers 1994]Jaspers, Karl (1994).
    Psycho­logie der Weltan­schauun­gen. München: Piper.

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  4. Witt­gen­stein kann­te die­se Fi­gur aus den Ar­bei­ten des ame­ri­ka­ni­schen Psy­cho­lo­gen Jo­seph Jas­trow, der sei­ne Über­le­gun­gen da­zu be­reits 1899 ver­öf­fent­lich­te.
  5. In sei­nem Kom­men­tar zu Witt­gen­steins Über­le­gun­gen schreibt Thor­sten Jant­schek, Deu­ten sei das Bil­den ei­ner An­nah­me über das Ge­se­he­ne hin­aus, aber wenn es so ein­fach wä­re, müss­te man das Ge­se­he­ne un­ab­hän­gig von sei­ner Deu­tung be­schrei­ben kön­nen ([Jant­schek 1997]Jantschek, Thorsten (1997).
    Be­mer­kungen zum Begriff des Se­hen-als.
    In Kritik des Sehens, 299-319.

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    ). Es gibt aber kein Bild un­ab­hän­gig von sei­ner Auf­fas­sung als Ha­se oder En­te. Wei­ter führt uns dem­nach die „Ein­sicht, daß Den­ken und Se­hen (im­mer schon) auf­ein­an­der be­zo­gen sind und daß die­se Be­zie­hung im Se­hen-als zu­ta­ge tritt“. Ebd.: 319.
  6. Ju­dith Ge­no­va ver­steht Witt­gen­steins gan­zes Phi­lo­so­phie­ren als me­tho­disch prak­ti­zier­tes As­pekt­se­hen, um an­ders als ge­wöhn­lich wahr­neh­men zu kön­nen; [Ge­no­va 1995a]Genova, Gérard (1995).
    Wittgen­stein – A Way of Seeing. New York, London: Rout­ledge Chapman & Hall.

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  7. Zu­erst in: Ar­chiv für Be­griffs­ge­schich­te 6 (1960), 7-142.
  8. Ralf Ko­ners­mann hat ei­nen ähn­li­chen Ge­dan­ken für die Me­ta­pher des Spie­gels durch­ge­spielt, wel­che ge­ra­de in ih­rer ter­mi­no­lo­gi­schen Un­fi­xier­bar­keit das ge­eig­ne­te Dar­stel­lungs­me­di­um für die Un­greif­bar­keit der Sub­jek­ti­vi­tät in ih­rer sich selbst ent­zo­ge­nen Ge­ge­ben­heits­wei­se ist ([Ko­ners­mann 1991]Konersmann, Ralf (1991).
    Leben­dige Spiegel. Die Meta­pher des Subjekts. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

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    ).
Literatur                             [Sammlung]

[Blumen­berg 1999]: Blumenberg, Hans (1999). Para­digmen zu einer Meta­phoro­logie. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

[Chlade­nius 1742]: Chladenius, Ernst Martin (1742). Ein­leitung zur richti­gen Ausle­gung vernünf­tiger Reden und Schriften. Leipzig: Lanckisch. [Ge­no­va 1995a]: Genova, Gérard (1995). Wittgen­stein – A Way of Seeing. New York, London: Rout­ledge Chapman & Hall. [Gold­stein 1997]: Goldstein, E. Bruce (1997). Wahr­nehmungs­psycho­logie. Eine Einfüh­rung. Heidel­berg u.a.: Springer. [Heideg­ger 2006]: Heidegger, Martin (2006). Sein und Zeit. Tü­bingen: Nie­meyer. [Jant­schek 1997]: Jantschek, Thorsten (1997). Be­mer­kungen zum Begriff des Se­hen-als. In: Koners­mann, R. (Hg.): Kritik des Sehens. Leipzig: Reclam, S. 299-319. [Jas­pers 1994]: Jaspers, Karl (1994). Psycho­logie der Weltan­schauun­gen. München: Piper. [Kant 1968]: Kant, Immanuel (1968). Kritik der reinen Vernunft. Berlin: de Gruyter, A: 1781, B: 1787. [Ko­ners­mann 1991]: Konersmann, Ralf (1991). Leben­dige Spiegel. Die Meta­pher des Subjekts. Frank­furt/M.: Suhr­kamp. [Kuhn 1973]: Kuhn, Thomas (1973). Die Struktur wissen­schaftli­cher Revo­lution. Frank­furt/M.: Suhr­kamp. [McGinn 2004]: McGinn, Colinn (2004). Image, Dream, Meaning. Cam­bridge, Mass.: Har­vard Uni­versity Press. [Röttgers 1994]: Röttgers, K. (1994). Der Stand­punkt und die Gesichts­punkte. Archiv für Begriffs­geschich­te, Band: 37, S. 257-284. [Schür­mann 2008]: Schür­mann, Eva (2008). Sehen als Praxis. Ethisch-ästhe­tische Studien zum Verhält­nis von Sicht und Ein­sicht. Frank­furt/M.: Suhr­kamp. [Wittgen­stein 1971]: Wittgen­stein, Ludwig (1971). Philo­sophi­sche Unter­suchun­gen. Frank­furt/M.: Suhr­kamp. [Wittgen­stein 1984]: Wittgenstein, Ludwig (1984). Über Gewiß­heit. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.


Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Ausgabe 1: 2013

Verantwortlich:

Lektorat:

Seitenbearbeitungen durch: Eva Schürmann [37], Joerg R.J. Schirra [26], Franziska Kurz [10], Sebastian Spanknebel [7], Nicolas Romanacci [2] und Mark A. Halawa [1] — (Hinweis)

Zitierhinweis:

[Schürmann 2013g-b]Vergleiche vollständigen Eintrag
in Literatursammlung
.

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Schürmann, Eva (2013). Sehen. (Ausg. 1). In: Schirra, J.R.J.; Halawa, M. & Liebsch, D. (Hg.): Glossar der Bildphilosophie. (2012-2024).
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