Syntaktisch unkorrekte Bilder
Unterpunkt zu: Bildsyntax
English Version: Syntactically Incorrect Images
Kann es bei Bildern syntaktische Fehler geben?Der Begriff der syntaktischen Korrektheit ist zunächst in seinem sprachlichen Anwendungsfall vertraut:
Syntactic Structures. Den Haag: Mouton. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 15). Das historische Beispiel bezieht sich zwar nur auf die englische Sprache, doch gilt durchaus, dass Sprache generell – im Sinne von ‘la langue’ – aus der Mannigfaltigkeit der möglichen Folgen syntaktischer Elemente nur einen kleinen Teil als wohlgeformte Zeichenträger klassifiziert und von syntaktisch unkorrekten Kombinationen abgrenzt. Syntaktische Wohlgeformtheit unterscheiden zu können soll, so Chomsky, in der Sprachkompetenz selbst begründet liegen. Kann man mit Erfolg für eine analoge Unterscheidung bei Bildern argumentieren? Hierbei ist zunächst einmal zu beachten, dass es bei dieser Frage letztlich stets weniger um Bilder (im eigentlichen, d.h. vollen Wortsinn) als um potentielle Bildträger geht: Der Ausdruck ‘Bild’ ist bestenfalls ungenau (und schlimmstenfalls schlicht verkehrt), wenn pragmatische und semantische Gesichtspunkte explizit außer Acht gelassen werden sollen. Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt/M.: Fischer. Eintrag in Sammlung zeigen). Eine räumliche Umordnung syntaktischer (oder morphologischer) Elemente allein, dem Sprachbeispiel nachempfunden, genügt offensichtlich nicht:[2] Das Ergebnis wird nach wie vor ein akzeptabler Bildträger sein – wovon sich im Übrigen jeder an einem computergestützten Bildbearbeitungssystem selbst leicht überzeugen kann.[3] Zwar gilt für bestimmte Teilklassen von Bildern, d.h. gewisse bildhafte Zeichensysteme, die nur einen kleinen Teil aller möglichen Bildträger umfassen, durchaus, dass sich die zugehörigen Zeichenträger nach sprachartigen syntaktischen Regeln in wohlgeformte und nicht-wohlgeformte unterteilen lassen – das System der technischen Zeichnungen mag als Beispiel dienen. Doch lässt sich hier nicht ohne Weiteres sehen, wie dieser Regelbezug auf Bilder ganz allgemein übertragen und damit in der Bildkompetenz selbst begründet werden könnte ([Plümacher 1999a]Plümacher, Martina (1999). Wohlgeformtheitsbedingungen für Bilder?. In Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen, 47-56. Eintrag in Sammlung zeigen). Gibt es ein Bildalphabet?. In Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen, 57-66. Eintrag in Sammlung zeigen). Da das Fehlen eines Alphabets auch die kombinatorischen Regeln des korrekten Zusammensetzens obsolet macht, die syntaktische Wohlgeformtheit bei Sprache aber auf den jeweiligen Kombinationsregeln für komplexe Zeichen aus den Basiselementen des betrachteten Alphabets beruht, folgt nun, dass sich für Bilder kein entsprechendes Kriterium bilden ließe. Zur genaueren Behandlung der Frage, ob es syntaktisch unkorrekte Bilder geben kann, hat sich die Unterscheidung zwischen der geometrischen Basisstruktur und den visuellen Markerdimensionen als hilfreich herausgestellt.
Echte syntaktische Fehler: Störungen im geometrischen GrundgefügeIn der Tat führen ja alle Änderungen sowohl an der Menge und Auswahl der vorhandenen geometrischen Elemente und ihrer Anordnung, wie auch an der Zuordnung visuell unterscheidbarer Markierungen der geometrischen Teile immer nur zu anderen Bildträgern, von denen sich lediglich sagen lässt, dass sie hinsichtlich bestimmter bildpragmatischer Funktionen besser oder schlechter zu gebrauchen sind, nicht aber, dass sie syntaktisch unkorrekt, also allein wegen gewisser Eigenheiten des Materials keine richtigen Bilder wären. Wie im Begriff der syntaktischen Dichte gefasst, führen bei Bildern im Prinzip beliebig kleine Veränderungen am Zeichenträger zu anderen Bildern: Daraus folgt, dass auch jede Folge solcher minimalen Veränderungen ebenfalls wieder zu einem Bild führt. Es kann mithin keine durch Verschieben oder Austauschen von Gebieten erzeugbare Veränderung einer Bildfläche geben, die nicht wiederum zu einer syntaktisch akzeptablen Bildfläche führt. Allerdings gibt es durchaus ganz alltägliche Handlungen an einem Bildträger, die ganz unmittelbar seine Bildträgerfunktion von Grund auf beeinträchtigen: nämlich das Durchlöchern oder teilweise Zerschneiden oder Zerreißen des Papiers, der Leinwand etc. und ähnliche Beschädigungen. Ein Gemälde (etwa von Rembrandt), eine Skizze (beispielsweise von Picasso), der Papierauszug der Aufnahme einer Wärmebildkamera ebenso wie ein Familienschnappschuss werden jeweils mit einem Schnitt oder Loch nicht einfach zu einem anderen Bild, sondern zu demselben Bild mit einer Beschädigung (⊳ Identitätskriterien für Bildträger und Identität bildhafter Zeichen). Was geschieht hierbei, syntaktisch-morphologisch gesehen? Wenn ein Bildträger auf die erwähnte Art verletzt wird, so wird letztlich die Topologie der zweidimensionalen geometrischen Basisstruktur partiell stark gestört: An Stelle der homogenen (d.h. gleichmäßig verteilten) und isotropen (d.h. in allen Richtungen der Bildfläche gleichermaßen gültigen) Nachbarschaftsbeziehungen zwischen den Raumstellen treten nun Lücken zwischen ursprünglich benachbarten Orten auf, die nicht zum Bildträger gehören, so dass diesen Raumstellen nun echte Nachbarpixeme einfach fehlen.[4] Die gesamte geometrische Organisation des Bildträgers ist damit gestört, denn auch alle Pixeme höherer Ordnung (⊳ Bildmorphologie), die auf diesen Nachbarschaften beruhen, sind davon tangiert. Solche Rupturen betreffen also insbesondere die geometrische Basisstruktur, die nun unvollständig und inkonsistent geworden ist.[5] Auch die Annahme, dass Beschneidungen am Rand gegenüber Schnitten innerhalb der Bildfläche als qualitativ weniger gravierend gelten, da dabei zwar semantische und pragmatische Aspekte verändert, nicht aber der Zusammenhang der Orte innerhalb der Bildfläche gestört wird, spricht dafür, das Fehlen von Störungen im geometrischen Grundgefüge als die Basis für syntaktische Wohlgeformtheit von Bildern anzusetzen. Die vollständigen Abtrennungen eines Teils des Bildträgers führen letztlich zu zwei anderen (beschnittenen) Bildern, wobei die Art der Abtrennung eher nebensächlich ist: Auch ein gerissener Rand bildet einen akzeptablen Rahmen. Im Gegensatz dazu bleiben bei partiellen Rupturen die beide nun aufgetrennten Seiten Teil derselben Bildfläche, deren gestörte geometrische Basisstruktur die Wahrnehmung des Bildes beeinträchtigt. Eine Störung der geometrischen Basisstruktur muss im Übrigen unterschieden werden von transparenten Bildstellen, wie sie etwa bei Glasmalerei oder Bildfenstern auftreten: Solche transparenten Bereiche entsprechen ganz regulären Pixemen mit einer speziellen, wenn auch im Vergleich aller Bilder weniger häufig verwendeten Markierung. In der Tat haben syntaktische Sonderfälle wie Reflexion und Transparenz in Bildern eine implizit deiktische Qualität: Hier spielen Aspekte der Umgebung des Bildträgers hinein. Bei Betrachtung des Bild(träger)s aus nur einer Perspektive fallen sie daher nicht unbedingt auf – es könnte sich um eine entsprechende reguläre Farbgebung der Stelle handeln. Erst eine Bewegung des Betrachters und die damit erreichte perspektivische Verschiebung lässt deutlich werden, dass diese Stellen variabel sind und von der Umgebung abhängen.[6] Dieser Zusammenhang macht das Anführen syntaktisch unkorrekter Bilder oft problematisch: Wenn nämlich statt des zerstörten Bildträgers selbst ein Bild von ihm präsentiert wird. Wie in Abbildung 1 demonstriert, ist die Abbildung eines syntaktisch unkorrekten Bildes tatsächlich selbst wiederum (in aller Regel) ein syntaktisch wohlgeformtes Bild: Der Schnitt wird dabei durch ein regelrechtes Pixem mit ganz normalen Farbmarkierungen dargestellt, die Topologie der Basisstruktur ist nicht beeinträchtigt.
Pragmato-syntaktische Fehler: Störungen in der MarkerzuordnungWährend Beschädigungen des räumlichen Zusammenhalts der geometrischen Basisstruktur zu echten syntaktischen Fehlern führen, die also allein schon aufgrund syntaktischer Eigenschaften unterscheidbar sind, können Probleme in den Dimensionen der Markerwerte nur solche Störungen der Syntax auslösen, die lediglich durch pragmatische Faktoren als solche bestimmbar sind. Das Absplittern von Pigmenten, das den Grund sichtbar werden lässt, kann nur relativ zu einem für das jeweils betrachtete Bild angesetzten Normalzustand als Fehler in der Zuordnung der Markerwerte und damit als Nicht-Pixem ermittelt werden. Es könnte sich ebenso gut um Absicht, also um ein in dieser Form intendiertes Pixem handeln (vgl. etwa Sgraffito-Techniken). Das zeigt sich auch darin, dass das bildhafte Anführen eines so gestörten Bildes deutlich weniger problematisch ist: Die Farb- und Texturwerte, die das Zitat an der geschädigten Stelle aufzeigt, befindet sich ja in der Tat im beschädigten Original an dieser Stelle.
Reflexive Nutzung syntaktisch unkorrekter BilderAls indirektes bildhaftes Zitat stellt Abbildung 1 einen typischen Fall reflexiver Bildnutzung dar: Mit der Präsentation des Bildes soll hier nicht auf ein Bauernmädchen hingewiesen werden, sondern exemplarisch auf einige Aspekte der Bildverwendung selbst. So, wie das Beispiel einer syntaktisch unkorrekten Wortfolge in einem Buch zur Sprachsyntax zitiert wird, wird das Beispiel eines geometrisch gestörten Bildträgers als negatives Exempel für die syntaktische Wohlgeformtheit von Bildträgern gezeigt. Lucio Fontana. London: Hayward Gallery Publ.. Eintrag in Sammlung zeigen, [Hynes 2005a]Hynes, Maria (2005). Rethinking Reductionism. In Culture Machine, 7, online journal. Eintrag in Sammlung zeigen und [Sachs-Hombach 2003a]Sachs-Hombach, Klaus (2003). Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Halem. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 212ff). Gerade durch ihre Verletzung sticht die Voraussetzung einer ungestörten zweidimensionalen Räumlichkeit als geometrische Basisstruktur des physischen Bildträgers für die reguläre Bildverwendung ins Auge.[7] Demnach wären “Bilder”, von der Art des in Abbildung 2 wiedergegebene Beispiels, wenn man sie nicht ohnehin als Grenzfälle zur Skulptur verstehen möchte, nur in demselben uneigentlichen Sinn Bilder, wie die Buchstabenfolge in Beispiel 2 oben in einem nur uneigentlichen Sinn als Satz eines Linguistiklehrbuchs auftritt. Begriffe man sie hingegen als ganz reguläre Bilder, überginge man gerade die Pointe, die etwa auch den wesentlichen Unterschied zwischen dem Bild ‘Abbildung 2’ selbst und dem dort wiedergegebenen Werk von Fontana ausmacht.
Syntaktische (Un-)Korrektheit bei speziellen BildklassenDiagramme, technische Zeichnungen und andere Gruppen von Strukturbilder sind in der Regel mit bestimmten expliziten Darstellungskonventionen verbunden. Diese Regeln lassen sich teilweise auf syntaktischer Ebene prüfen, so dass sich für diese Bildgruppen dann auch aus entsprechenden Verstößen gegen die jeweilige Darstellungskonvention eine Form der syntaktischen Unkorrektheit definieren lässt. Ähnliches gilt für andere Konventionen zur Abgrenzung eines Teilbereichs von Bildern oder eines Bildmediums, sofern diese Konventionen sich anhand syntaktischer Merkmale bestimmen lassen. Das kann insbesondere Aspekte des Stils betreffen, so dass sich etwa hinsichtlich einer bestimmten kunstgeschichtlichen Epoche ein Bild als syntaktisch wohlgeformt oder aber unkorrekt beurteilen läßt. Ursache sind in der Regel syntaktisch diskrete Subsysteme, die in die an sich syntaktisch dichten Dimensionen bildhafter Zeichen eingebettet sind. Das gilt mithin auch für die einfacheren Versionen von Digitalbildern mit ihren örtlichen (gegebenenfalls auch zeitlichen) und den Farbraum betreffenden Rasterungen. Relativ zu den eingeschränkten Bildmannigfaltigkeiten, die durch einen solchen Notationsformalismus umfasst werden, müssen Bilder mit Pixemen jenseits der Rasterung als syntaktisch unkorrekt gelten. Praktisch ist dieser Fall für die Computervisualistik wenig relevant, da üblicherweise dann statt eines solchen syntaktisch hinsichtlich der Digitalisierungskonvention unkorrekten Bildes einfach das ähnlichste syntaktisch korrekte Bild substituiert wird, was häufig ausreicht. Allerdings können verschiedene technische Probleme auch in der Computervisualistik zum Auftreten syntaktisch unkorrekter Bilder im engeren Sinn führen. Natürlich geht es hierbei nicht um digitale Bilder von syntaktisch unkorrekten Bildern (wie etwa Abb. 1), die in der Regel ja selbst durchaus syntaktisch korrekt sind. So können etwa Störungen der Markerwerte entstehen durch Fehler beim Projektionsverfahren: “Blinde” Stellen des Bildschirms führen etwa dazu, dass an bestimmten Orten die Farbdarstellung nicht mehr richtig funktioniert. Noch gravierender sind technische Probleme beim Übertragen oder Abspeichern, die zu Fehlern in der Notation führen: Die syntaktische Beschreibung des Bildträgers kann unvollständig oder inkonsistent werden. Im Grenzfall lassen sich dann immer noch Teile der Bildfläche projizieren, doch gibt es, wie im Fall der zerrissenen Leinwand, Flächen innerhalb des Rahmens, die tatsächlich gar nicht zum Bildträger gehören – also eine massive Störung der geometrischen Basisstruktur dieses Bildes. Siehe auch:
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Inhaltsverzeichnis
Anmerkungen
[Chomsky 1957a]: Chomsky, Noam (1957). Syntactic Structures. Den Haag: Mouton.
[Hynes 2005a]: Hynes, Maria (2005). Rethinking Reductionism. Culture Machine, Band: 7, online journal. [Langer 1984a]: Langer, Susanne (1984). Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst. Frankfurt/M.: Fischer. [Plümacher 1999a]: Plümacher, Martina (1999). Wohlgeformtheitsbedingungen für Bilder?. In: Sachs-Hombach, K. & Rehkämper, K. (Hg.): Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen. Magdeburg: Scriptum, S. 47-56. [Ros 1979a]: Ros, Arno (1979). Objektkonstitution und elementare Sprachhandlungsbegriffe. Königstein/Ts.: Hain. [Sachs-Hombach 1999a]: Sachs-Hombach, Klaus (1999). Gibt es ein Bildalphabet?. In: Sachs-Hombach, K. & Rehkämper, K. (Hg.): Bildgrammatik. Interdisziplinäre Forschungen zur Syntax bildlicher Darstellungsformen. Magdeburg: Scriptum, S. 57-66. [Sachs-Hombach 2003a]: Sachs-Hombach, Klaus (2003). Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Halem. [Sacks 1996a]: Sacks, Oliver (1996). Migräne. Hamburg: Rowohlt. [Whitfield 1999a]: Whitfield, Sarah (1999). Lucio Fontana. London: Hayward Gallery Publ.. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [31], Dimitri Liebsch [8] und Emilia Didier [1] — (Hinweis) Zitierhinweis: in Literatursammlung. Eintrag in Sammlung zeigen Schirra, Jörg R.J. (2013). Syntaktisch unkorrekte Bilder. (Ausg. 1). In: Schirra, J.R.J.; Halawa, M. & Liebsch, D. (Hg.): Glossar der Bildphilosophie. (2012-2024). |