Theorien des Bildraums
Unterpunkt zu: Bildwahrnehmung
Historischer Diskurs zum BildraumKants „transzendentale Ästhetik“ ([Kant 1968a]), die die sinnliche Anschauung als von der apriorisch gegebenen Vorstellung des Raums (und der Zeit) vorstrukturiert versteht, gilt allgemein als Einsatzpunkt vielfältiger Theorien zur Raumwahrnehmung. Von ihr angeregt suchen die Gründerväter der Physiologie und Psychologie des 19. Jahrhunderts nach den psychophysischen Ursprüngen der Raumwahrnehmung; Hermann von Helmholtz etwa glaubt, die menschliche Raumwahrnehmung aus der Form der Ohrmuschel ableiten zu können. Bis heute überbieten sich Kognitions- und Wahrnehmungspsychologen mit Erklärungsmodellen für die Fähigkeit des Gehirns, aus zweidimensionalen Netzhautprojektionen räumliche Informationen zu entnehmen. Sie konzentrieren sich dabei weitgehend auf zentralperspektivisch organisierte Bildformate, die bekanntlich seit der Renaissance als der anthropomorphen Raumerfassung entsprechende Raumwiedergaben verstanden worden sind. Erwin Panofskys daran vorgetragene Kritik ([Panofsky 1924a]), der die Zentralperspektivierung als kühne Abstraktion von der Wirklichkeit, als Privilegierung eines indifferenten Denkraums und als Verkennung des psychophysischen Raums mit zweiäugiger „sphäroider Gestalt“ (S. 668) in seiner Geltung relativiert, findet in den Bildwissenschaften nach wie vor wenig Beachtung. Wie Stephan Günzel in seinem Beitrag zu den Raumwissenschaften ausführt, erörtert die zeitgenössische Bildwissenschaft den Raum vorzugsweise im Hinblick auf zentralperspektivische Bildorganisation und auf die Divergenz von zweidimensionalem Bildträger und dreidimensionaler Erscheinung. Dieser eingeschränkte Blickwinkel sei hier historisierend relativiert und um philosophische, kunsthistorische und künstlerische Bildreflexionen erweitert, die heutzutage gerade in der Verflachung des Bildes, in seiner quasi-taktilen Selbstausstellung und in der Entfaltung unbekannter Raumzeitkonfigurationen den Wert von Bildschöpfungen erkennen. Lessing und HegelErste gattungstheoretische Ausführungen zur Abgrenzung der bildenden von den literarischen Künsten entlang ihrer Raum- und Zeitbezugnahmen begegnen ebenfalls in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 1766 unterscheidet Gotthold Ephraim Lessing ([Lessing 1974a]) die Nachahmungen der Malerei von jener der Poesie: Erstere verwende „Figuren und Farben in dem Raume“, letztere „artikuliere Töne in der Zeit“ (S. 102). Während die Malerei Zeitschnitte im Kontinuum der Handlung vornehme und Augenblicke für ihre „koexistierenden Kompositionen“ wähle, könne die Poesie in ihren „fortschreitenden Nachahmungen nur eine einzige Eigenschaft der Körper nutzen“ (S. 103). In Homers poetischer Beschreibung des Schilds des Achilles sieht Lessing gleichwohl ein Beispiel dafür gegeben, wie „weitläufig und doch poetisch“ (S. 109) Dichtung räumlich Nebeneinandergeordnetes beschreiben kann. Er hält Dichtung gleichwohl nicht für das geeignete Medium zur Wiedergabe komplexer Raumverhältnisse, da das Ohr dabei keinen Gesamteindruck erhält. Artikuliert sich bei Lessing noch eine Gleichrangigkeit der Künste, so privilegiert die auf ihn folgende idealistische Philosophie die Zeit- gegenüber den Raumkünsten, weshalb die Ästhetiken des 19. Jahrhunderts die Künste in eine entwicklungsgeschichtlich-logische Abfolge bringen. G. W. F. Hegel geht in den «Vorlesungen über die Ästhetik» zwischen 1818 und 1826 von der Vorstellung eines künstlerischen Einheitsraums aus, da „an sich, dem Begriffe nach, die Gesamtheit dieser neuen Wirklichkeit der Kunst zu einer Totalität“ ([Hegel 1970a]: S. 246) gehöre: In der sinnlichen Gegenwart löse sich freilich das Ideal in seine Momente auf, so dass die reale Kunstwelt „das System der einzelnen Künste“ (ebd.) sei. Hegel historisiert und hierarchisiert die Künste entsprechend ihrem Geist-, Material- und Raumgehalt: Der Architektur weist er dabei die unterste Stufe zu. Über ihr stehen die bildenden Künste, die „die Innerlichkeit des Subjektiven zu gestalten berufen sind“, wie die Malerei, die „zum Material [...] nicht die schwere Materialität und deren räumlich vollständige Existenz gebrauchen“ kann, sondern dieses Material „verinnerlichen“ (S. 259f.) muss. Die Malerei ziehe deshalb die drei Raumdimensionen „in die Fläche als die nächste Innerlichkeit des Äußeren zusammen und stellt die räumlichen Entfernungen und Gestalten durch das Scheinen der Farbe dar“ (S. 260). Die romantischen Künste Musik und Poesie als „wahrhafte Kunst des Geistes“ zeichnen sich durch Verzicht auf „Figurationen des Räumlichen“ (S. 261) aus. Burckhardt und RieglDiesen philosophischen Raumabwertungen setzt Jakob Burckhardt 1855 seine kunsthistorische Schrift «Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens» entgegen, in welcher er dem Raumbegriff erstmals methodische Geltung verleiht: Er grenzt darin die italienische Gotik mit ihrer horizontalen „Weiträumigkeit“ vom „nordischen Raum der Höhe“ ([Burckhardt 2001a]: S. 111) positiv ab, denn in ihr entwickle sich „das eigenthümlich italienische Gefühl für Räume, Linien und Verhältnisse, und dieses war die Erbschaft, welche die Renaissance übernahm“ (S. 144). Erst im 16. Jahrhundert werde „der Aufwand an Raum und Baumaterial ein ganz allgemeiner; es beginnt jene allgemeine Großräumigkeit, auch der bürgerlichen Wohnungen“ (S. 247). Burckhardts Ansatz macht Schule: Ende des 19. Jahrhunderts, als die an die Nachahmungstheorie gebundenen Erörterungen von Ort, Szene, Vertiefung und Bildtiefe von einer historisch-kritischen, stilanalytischen Kunstbetrachtung abgelöst werden, wird die Raumbehandlung „das allgemeinste Thema der modernen Kunstgeschichte“ ([Badt 1963a], 19) und »Raum« ihr am häufigsten gebrauchter Begriff. Seine Verwendung steht allerdings häufig im Dienste einer Fortschrittserzählung von der flächenhaften Bildgestaltung zur Darstellung unendlicher Tiefe. Alois Riegls historische Periodisierung des „Kunstwollens“ ([Riegl 1901a]) vom „Taktisch-Nahsichtigen“ (für die altägyptische Kunst) über das „Taktisch-Optische“ (für die klassische Kunst Griechenlands) zur dritten Stufe des „Optisch-Fernsichtigen“ der spätrömischen Kunst wird später von Walter Benjamin und Deleuze/Guattari umgewertet: Im Sinne von Panofskys Kritik an der Zentralperspektive fordern sie, das „Taktisch-Nahsichtige“ in Kunst und Philosophie erneut in seine Rechte zu versetzen. Riegls Schrift «Das holländische Gruppenporträt» (1902), das zwischen den „zwei Erscheinungsformen des dreidimensionalen (Bild)Raums“, dem „kubischen, der an den Körpern haftet, und dem Freiraum, der zwischen den Figuren ist“ ([Riegl 1931a]: S. 22), differenziert, liefert die methodische Vorgabe für Erwin Panofskys spätere Raumperiodisierungen. Auch bei Riegl findet sich ein unterschwelliger Fortschrittsgedanke: Während die antike Kunst nie zur Darstellung des Freiraums gelange, habe die christliche Kunst der römischen Kaiserzeit „den Freiraum emanzipiert“ (ebd.). Mit der endgültigen Emanzipation des Freiraums im 15. Jahrhundert werde der Raum „besonderer Gegenstand“ der bildenden Kunst, wobei noch einmal zwischen der italienischen „Linienperspektive“ und der „nordischen“ Kunst der „Luftperspektive“ (S. 23) zu unterscheiden sei. Dem holländischen „Kunstwollen“ gelinge die besondere Leistung, den Dualismus von Körper- und Freiraum in der Farbgestaltung des Helldunkel aufzuheben. Cassirer und RaphaelIm 20. Jahrhundert vervielfachen sich trotz der naturwissenschaftlichen Formulierung der ‘Vierdimensionalität’ des Raums und der in Mathematik und Physik begründeten Verschwisterung von Raum und Zeit die kunstgeschichtlichen Überlegungen zu den Raumbezügen der Kunst. Auch andere Disziplinen tragen zur Vervielfältigung von Bildraumtheorien bei: die phänomenologische und psychologische Wahrnehmungslehre, medientheoretische Diskussionen zur Gattungsspezifik von Malerei und Film, erkenntniskritische Unterscheidungen von symbolischen, lebensweltlichen, ästhetischen Räumen und anderer mehr. Der Kunsthistoriker Adolf von Hildebrand erklärt 1903 ([Hildebrand 1969a]) die künstlerische Raumschöpfung aus unserem räumlichen Verhältnis zur Natur. Die malerische Darstellung müsse demnach Raumvorstellungen wecken, „um im Beschauer dies Raumgefühl, diese elementarste Wirkung der Natur (zu) erzeugen“ (S. 220). Der Psychologe Theodor Lipps leitet ebenfalls „das abgeschlossene Ganze des räumlichen Gebildes“ aus der „auffassenden, heraushebenden und begrenzenden Tätigkeit“ ([Lipps 1920a]: S. 402) des Betrachters ab. Innerhalb der „Kunst der räumlichen Form“ unterscheidet er die Malerei als „Naturformen wiedergebende“ von den „frei schaffenden Künsten“ (S. 398), die den „mit Leben erfüllten Raum“ (S. 399) generieren. Er berücksichtigt dabei nicht nur „abstrakte“ Raumkünste, sondern auch solche, die Masse gestalten: Zur „Massenraumkunst“ zählt er „technische Kunstformen“ (S. 400) wie etwa das Design. Philosophie und Kunstgeschichte zusammenführend, erkennt der Philosoph Ernst Cassirer in seinem Vortrag «Mystischer, ästhetischer und theoretischer Raum» ([Cassirer 1930a]) zusammen mit Panofsky in der malerischen, linearperspektivisch konstruierten Illusion der Fensterschau die entscheidende „symbolische Form“ der europäischen Raumkonzeption. Panofsky hatte die Synthese des „nordisch-gotischen Raumgefühls“ und seiner „Raumkästen“ ([Panofsky 1924a]: S. 713f.) mit der in der byzantinischen Malerei weiterlebenden Raumtiefe, wie sie sich erstmalig bei den toskanischen Malern Giotto und Duccio in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts vollzieht, als „Revolution in der formalen Bewertung der Darstellungsfläche“ bestimmt, dank welcher die Wand zu jener „durchsichtigen Ebene“ wird, „durch die hindurch wir in einen Raum hineinzublicken glauben sollen“ (S. 716f.). In der Nachkriegszeit bekundet sich in Max Raphaels «Raumgestaltungen» von 1949 schließlich eine ausdifferenzierte Wahrnehmung der unterschiedlichen Raumbezugnahmen der Malerei: „Hals, Velasquez und andere – der Raum der Traumwelt; Vermeer – der Raum des Unbewußten; Hugo van der Goes und Tintoretto – der Raum des Übergangs vom Diesseits zum Jenseits; […] Bosch – der Raum der Auflösung des Daseins“ ([Raphael 1986a]: S. 63). Rückblickend setzt er den „Beginn eines neuen Raum›ideals‹“ mit dem Kubismus an, denn Picasso und Braque hätten „die möglichen Raumerlebnisse und Raumgestaltungen“ (S. 56f.) zum Thema ihrer Kunst gemacht. Er unterscheidet von daher zwischen einer überzeitlichen „Kategorie des Raums“ und den geschichtlich bedingten „Realisierungen dieser Kategorie“ (S. 59). Die modernen Avantgarden erscheinen als aufeinander folgende Strategien der Raumvervielfältigung, die sich in der Nachkriegszeit noch multipliziert. Balázs, Kracauer und BazinAuch in der Filmtheorie des 20. Jahrhunderts wird der Raumbezug des Filmbildes thematisiert, zunächst allerdings unter dem Blickwinkel der veränderten Raumwahrnehmung des Zuschauers im Kino, ausgelöst durch die neuen technischen Möglichkeiten des Films. Als einer der ersten erörtert der ungarische Filmtheoretiker Béla Balázs ([Balázs 2001a]) die insbesondere von der Großaufnahme herbeigeführten filmischen Raummodifikationen. Die Großaufnahmen würden sogar erlauben, „aus dem Raum überhaupt heraus und in eine ganz andere Dimension“ (S. 16) hinein zu führen. Die Eröffnung neuer Raumdimensionen und veränderter „Raumgefühle“ schreibt Balázs auch der filmspezifischen Kamerabewegung und Montage zu: Durch Überblendungen etwa werden Raumwechsel ohne Perspektivenwechsel geboten, was der Hervorbringung reiner Phantasiebilder zuarbeite. Andererseits führe die Kamerabewegung durch Räume hindurch und lasse Raum „wirklich erleben. Den Raum, der nicht zur Perspektive geworden ist, nicht zum Bild, das wir von außen betrachten“ (S. 59f.), als psychische Realität: „Wir durchschreiten mit ihr (der Kamera) den Raum und fühlen ihn“ (S. 60). Für Balázs wie später für Christian Metz entstehen dank ihrer Erschließung in Zeit qualitativ andere Räume – Räume, die nicht visuell erfassbar, sondern fühlend und taktil erfahrbar sind. Zeitgleich mit Balázs gelangt Siegfried Kracauer im Feuilleton «Über Arbeitsnachweise» (1930) zu einem eher soziologisch ausgerichteten Raumbefund:
Kracauers Suche nach unbewusst-affektiven Raumbildern motiviert nicht zuletzt seine Zuwendung zum filmischen Medium, wie seine Studie «From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film» von 1947 zeigt, in der er die psychischen Dispositionen der Gesellschaft der Weimarer Republik retrospektiv aus ihren filmischen Raumbildern erschließt. Raumbilder sind zwangsläufig unbestimmte, numinose Größen, die von affektiven und unbewussten Besetzungen erzählen und “in” dem von ihnen Dargestellten Ungesehenes und Ungedachtes mitartikulieren. Der französische Filmtheoriker André Bazin fordert in seinem gegenüber Kracauer zugespitzten Realismusverständnis der 50er Jahre, dass Filmbilder die raumzeitlichen Kontinua von Vorgängen, die vielfältigen und gegenläufigen Bewegungen des Lebens und dessen wesentliche „Ambiguität“ einzufangen hätten. Der Film habe durch filmische Raumgebungen wie in den Filmen Erich von Stoheims, Jean Renoirs und Orson Welles’, durch lange Plansequenzen mit bewegter Kamera, durch Schärfentiefe, tiefenräumliche Inszenierung und eine Wiedergabe des Dargestellten als Ausschnitt aus einem über den Bildrahmen hinausreichenden, realen Kontinuum der realen Dauer der Vorkommnisse zu entsprechen. DeleuzeIn den 80er Jahren verbindet sich für Gilles Deleuze mit dem Filmischen, noch immer in Nähe zu Kracauer und Benjamin, die Forderung nach mikroskopischer Durchdringung der Realitätswiedergaben auf etwas “in” den Bildern hin – auch auf neue Raumzeitdimensionierungen. In seiner zeichenorientierten Perspektive bindet er die Erörterung des Räumlichen nicht an die Zuschauerwahrnehmung, sondern an die filmische Zeichengebung, der er die Potenz zu Entkonventionalisierung üblicher Raumperspektiven und zur Binnendifferenzierung des Bildes zuerkennt. Dank ihrer vom menschlichen Blickwinkel abweichenden Einstellungsgrößen und dank ihrer Bilderabfolge seien Filmbilder befähigt, unbestimmte Raumzeiten zu generieren. Diese von ihm geschätzten „beliebigen Räume“ sieht er immer dort entstehen, wo die Wiedergabe äußerer Raumkontinua und auswendiger Bewegungsabläufe durch filmspezifische Einstellungen und anders montierte Raumzeitformationen durchbrochen wird:
Wie in [Ott 2007a] vorgeschlagen, sollte anstelle des Ausdrucks ‘beliebiger Raum’ jener des ‘unbestimmten Raums’ verwendet werden, schon um den Beigeschmack des Beliebigen und Negativen zu vermeiden, aber auch um die Bestimmbarkeit der jeweiligen Raumzeitschöpfung zu thematisieren. In Nähe zu Balázs lobt Deleuze die Qualität der Großaufnahme und des „Affektbildes“ zur Hervorbringung neuer Raumrelationen, die den Fluss der filmischen Bewegung scheinbar arretieren und dem Film eine vertikale Intensitätsdimension verleihen:
Ungewohnt flächige Räume und unübliche Kombinationen von Vorder- und Hintergrund sieht Deleuze aber nicht nur dank der filmischen Vergesichtlichungsverfahren entstehen. Räume ohne „Maßverhältnisse“ mit „taktiler Wertigkeit“ entdeckt er auch in gleichsam umgekehrten Verfahren der Entgesichtlichung wie etwa in den Filmen von Robert Bresson. Dessen Strategie der „Entthronung“ des Gesichts in unüblichen Kadrierungen und Montagefolgen unterwerfe das Bewegungsbild einem „Gesetz der Fragmentierung“ (S. 152) und brächte ebenfalls beliebige Räume hervor. Solchermaßen entziffert Deleuze die gesamte Filmgeschichte auf Erfindungen neuer Raumbilder hin: Im deutschen expressionistischen Film lasse der Einsatz von Licht und Schatten und deren „Hell-Dunkel-Werte“ das Räumliche zu etwas „Unbegrenztem“ (S. 155) werden. In den Filmen der „poetischen Abstraktion“ verliere das Räumliche ebenfalls seine herkömmliche Begrenzung und werde „mit der Macht des Geistes, mit einer stets zu erneuernden geistigen Entscheidung identisch“ (S. 163). An strukturalistischen Filmen wie Alain Resnais’ «L’année dernière à Marienbad» (F, 1961) stellt er richtungsgebundene „topologische“ Konstruktionen heraus, die der Verschwisterung von Raum und Zeit Rechnung trügen. Beliebige Räume sind für ihn sogar in Dokumentarfilmen zu finden, wie beispielsweise in Joris Ivens’ Film «Der Regen»: Der Regen, Subjekt des Films, wird dank der vielfältigen Perspektivierungen in seinen schillernden Erscheinungsweisen und Affektmodi ins Bild gesetzt.
Zeitgenössische BildraumbestimmungenIn der Gegenwart lässt insbesondere der spatial turn der Kulturwissenschaften den Raumbezug des Bildes thematisch werden. Die moderne Kunst, die sich sogar in ihren realitätsnahen Medien Fotografie und Film als konstruktive Praxis begreift, bearbeitet nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der postmodernen Kritik am fortschrittsbetonenden Zeitparadigma, erneut ihr Verhältnis zum Raum. Ihre selbstreflexiven Verfahren bringen einen neuen Reichtum an Raumzeitexperimenten hervor, wodurch auch das Bedürfnis aufkommt, den Raum des Kunstwerks zu überschreiten hin auf Interventionen im „realen Raum“. Vor allem aber befördert die sich globalisierende Gegenwart theoretische und künstlerische Raumbezugnahmen ohne gleichen, die sich im beginnenden 21. Jahrhundert als Boom an Ausstellungen mit Raumthematiken manifestiert. Der Katalog zur Ausstellung «RAUM. Orte der Kunst» ([Flügge et al. 2007a]) begründet seine thematische Ausrichtung damit, dass in der Moderne der Ort der Kunst fragwürdig geworden sei und die gesteigerte Mobilität der modernen Gesellschaft zu einer Differenzierung der Konzeptionen und Reflexionen über Raum und Räumlichkeit geführt habe. Unterschieden wird dabei zwischen dem unbestimmten Raum als imaginärer Ressource der Kunst und dem künstlerisch begrenzten Ort im Raum, sei er illusionistisch vorgespiegelt oder als Ereignisraum inszeniert. Als namhafteste Umkodierungen des künstlerischen Verhältnisses zwischen Raum und Ort werden die Einführung des Films, Duchamps Akzentuierung des Ausstellungskontexts und die wiederkehrende Utopie der Vereinigung von Kunst und Leben im Surrealismus angeführt. Der unübersichtlichen Vielzahl künstlerischer Raumumbrüche in der Moderne sucht man durch Nachzeichnung signifikanter Filiationen nachzukommen: des bildnerischen Raums in den Gemälden von Malewitsch bis Picasso, des fotografischen Raums bei Medardo Rosso und Man Ray, des leeren Raums bei Alberto Giacometti und Francis Bacon, des sozialen Raums bei Gordon Matta-Clark und Francis Alÿs, der Körper im Raum bei Gary Hill und Trisha Brown und anderen mehr. Als bedeutsame Umbrüche werden gedeutet die Modifikationen des zentralperspektivischen Kastenraums ([Hofmann 2007a]: S. 14) von den ‘geometrischen Puristen’ Donald Judd und Sol Lewitt über den ‘Organiker’ Frank Gehry zu den Labyrinthbauern Gregor Schneider und Hans Schabus als Weiterführer des ‘Merzbaus’ von Kurt Schwitters. Hervorgehoben werden die singulären Gestaltungen ([Lammert 2007a]) der Filmräume Jean Painlevés in «La quatrième dimension» von 1937, der fernsehgerechten Raumrituale Samuel Becketts in «Quadrat 2» von 1982 und Jacques Tatis filmische Kritik an der Glasarchitektur in «Playtime» (F, 1967). Das Auftreten von „Hybridformen aus Medien und Raum“ ([Demuth 2007a]: S. 101) im 21. Jahrhundert wird in seiner Rückwirkung auf den Status der Kunstobjekte betont und das Inflationäre zeitgenössischer Museumsbauten kritisiert ([Flügge et al. 2007b]: S. 7). Vorgetragen wird aber auch die Hoffnung, in raumakzentuierenden Ausstellungen die „Potentialität“ der Kunstwerke und neue Zusammenhänge, Nachbarschaften, Ortsbezüge zu erschließen und aufzudecken. Im Ergänzungsband «RÄUME der Zeichnung» werden unter anderem die Aufkündigung der Linie-Fläche-Unterscheidung und die maschinelle Ausführung von Zeichnungen untersucht und die Veränderungen erörtert, die mit der Projektion von Zeichnungen in den dreidimensionalen Raum verbunden sind. Den dazugehörigen Tagungsreader «Topos RAUM» eröffnet Georges Didi-Huberman ([Didi-Huberman 2005a]) mit einer Betrachtung über den leibrelativen Raum in fotografischen und filmischen Werken der Moderne. Robert Kudielka bestimmt das gegenwärtige Raum-Verhältnis von Malerei und Skulptur in Abgrenzung von der Befragung des Bildraums in den 1960er Jahren: Während damals Inhalte der Kunst über deren räumliche Eigenschaften definiert worden seien, würden nunmehr künstlerische Befragungen des „realen Raums“ vorherrschen. Die Suche nach bildinternen Gestaltungslösungen, mit dem amerikanischen Expressionismus und dessen „Auflösung der Interiorität des Kunstwerkes“ ([Kudielka 2005a]: S. 51) an ein Ende gekommen, werde in der Gegenwart ersetzt durch die künstlerische „Parzellierung von Erfahrungsräumen“ (S. 53) und die Thematisierung des Verhältnisses der Kunst zu institutionellen und gesellschaftlichen Räumen: Die „Ausweitung künstlerischer Konzeptionen, Strategien und Verfahrensweisen auf potentiell alle Handlungsräume“ (S. 45) habe zur „Insistenz auf ortsspezifische Setzungen und Eingriffe“ als dem gegenwärtig „maßgeblichen Motiv in den Künsten“ (S. 52) geführt. Das Verhältnis des Betrachters zur Kunst, früher durch „Gegenübertreten und Davorbleiben“ gekennzeichnet, habe sich damit in Richtung „Eintreten und Eintauchen“ (S. 53) verschoben. Da „der Zusammenhalt eines Kunstwerks nun von der räumlichen Erfassung her garantiert erscheint“ (S. 54), seien Installationen häufig allein durch „disparate Anhäufungen“ mit unterbestimmten Bezügen ausgewiesen und bezögen gerade daraus ihre Bedeutsamkeit. Insgesamt wird betont, dass Grenzgänge zwischen Skulptur, Architektur, Installation, Performance, Video und Film normal geworden seien und sich zum white cube des Ausstellungsraums die black box der Videoprojektion und die Online-Galerie für immaterielle Netzkunst gesellt habe. Lev Manovich skizziert eine Poetik des erweiterten Raums und den „mit Daten verdichteten physischen Raum“, der dank gewisser Erweiterungstechnologien „zum multidimensionalen Raum“ ([Manovich 2005a]: S. 343) werde. Raumkonfigurationen mit virtuellen Bildern bemühen häufig Deleuzes/Guattaris »Rhizom«- und »Plateau«-Begriff, um „nicht-lineare Techniken in der Kunst“ [Bechtloff 2001a], Arbeiten im Raum als „amorphe Systeme“, „Bildcontainer“ und „Raumbilder-Bildräume“ [Pesch 2001a] vorzustellen. Diagnostiziert wird aber auch die Mutation des Museumsraums dank der Einführung bewegter Bilder und installativer Präsentationen zu einer „new geography of (re)collection“ ([Bruno 2007a]: S. 5). Auch die künstlerischen Raumparzellen brächten einen neuen Museumstyp hervor ([Kudielka 2005a]), der von der europäischen Sammlungsanthologie abweicht, Containerhalden und riesige Stauräume hervorbringt wie in der Dia Art Foundation in Beacon, unweit von New York, der weltweit größten Ausstellungsanlage seit 2003. Diese frenetischen Ausstellungs- und Theoriebewegungen unter dem Zeichen des Räumlichen lassen abschließend deutlich werden, dass der ‘Raum’ die letzte umfassende Bezeichnung für die zeitgenössischen Umbrüche im Theorie- und Kunstselbstverständis abzugeben scheint (auch hierzu ⊳ Bild in reflexiver Verwendung). Siehe auch:
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Anmerkungen
[Badt 1963a]: Badt, Kurt (1963). Raumphantasien und Raumillusionen. Wesen der Plastik. Köln: DuMont.
[Balázs 2001a]: Balázs, Béla (2001). Der Geist des Films. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
[Bechtloff 2001a]: Bechtloff, Dieter (Hg.) (2001). Choreographie der Gewalt. Kunstforum International, Nummer: Hefte 153, 155 & 156, Heft 153: Der gerissene Faden. Nichtlineare Techniken in der Kunst; Heft 156: Plateau der Menschheit.
[Bruno 2007a]: Bruno, Giuliana (2007). Public Intimacy. Architecture and the Visual Arts. Cambridge: MIT Press.
[Burckhardt 2001a]: Burckhardt, Jacob (2001). Der Cicerone. Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens. In: B. Roeck et al. (Hg.): Werke. Kritische Gesamtausgabe. München/Basel: Beck, S. Bd. 2, Erstveröffentlichung 1855.
[Cassirer 1930a]: Cassirer, Ernst (2004). Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum (1930). In: Recki, B. (Hg.): Ernst Cassirer: Gesammelte Werke, Bd. 17. Hamburg: Meiner, S. 411-436 [1931].
[Deleuze 1989a]: Deleuze, Gilles (1989). Das Bewegungs-Bild. Kino1. Frankfurt a. M: Suhrkamp, a. d. Franz. v. U. Christians und U. Bokelmann; Erstveröffentlichung 1983.
[Demuth 2007a]: Demuth, Volker (2007). Extreme Expeditionen. Digitale, hybride und künstlerische Räume. In: Flügge, M.; Kudielka, R. & Lammert, A. (Hg.): RAUM. Orte der Kunst. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, S. 89-104.
[Didi-Huberman 2005a]: Didi-Huberman, Georges (2005). L’espace danse – Der Raum tanzt. In: Lammert, A.; Diers, M.; Kudielka, R. & Mattenklott, G. (Hg.): Topos RAUM. Die Aktualität des Raumes in den Künsten der Gegenwart. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, S. 16-30.
[Flügge et al. 2007a]: Flügge, Matthias; Kudielka, Robert & Lammert, Angela (2007). Vorwort und Dank. In: Flügge, M.; Kudielka, R. & Lammert, A. (Hg.): RAUM. Orte der Kunst. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst, S. 6-9.
[Flügge et al. 2007b]: Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [37] und Julia Bonn [20] — (Hinweis) Zitierhinweis: [Ott 2013g-a]
[Flügge et al. 2007b]: |