Virtualität
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Etymologie und WortbedeutungDer Ausdruck ‘Virtualität’ leitet sich vom lateinischen ‘virtus’ ab (vgl. [Stowasser et al. 1998a]: S. 554); ‘virtus’ gibt in und nach der lateinischen Bibelübersetzung die griechischen Wörter ‘dynamis’ (δύναμις) bzw. ‘dynatos’ (δυνατός) wieder (vgl. [Gemoll & Vretska 2006a]: S. 239-240) und fügt den Grundbedeutungen von »Tugend«, »Mannheit«, »Tüchtigkeit«, »Sittlichkeit« und »Tapferkeit« noch den Aspekt der »Kraft«, des »Vermögens«, hinzu (vgl. [Okolowitz 2006a]: S. 35f.; vgl. [Roth 2000a]: S. 33f.). Im modernen Verständnis bezieht sich Virtualität auf das Feld der Möglichkeit. In dieser Perspektive kommen dem Adjektiv ‘virtuell’ folgende Bedeutungen zu: »entsprechend seiner Anlage als Möglichkeit vorhanden«, »die Möglichkeit zu etwas in sich begreifend« ([Duden 2013a]) und »nicht echt, nicht in Wirklichkeit vorhanden, aber echt erscheinend« ([Duden 2013a]).
BegriffsstrukturBei Bergson allerdings – wie schon zuvor bei Leibniz und später erneut bei Deleuze – findet sich die Abgrenzung des Virtuellen vom Möglichen, denn „das so verstandene Mögliche gehört in keinem Grad zum Virtuellen“ ([Bergson 1948a]: S. 122). Clara Völker erklärt diese Aussage in ihrer Ideengeschichte der Virtualität folgendermaßen:
Dies zeigt, dass der Versuch, Realität und Virtualität durch Begriffe wie »Potentialität«, »Möglichkeit«, »Wirklichkeit«, »dynamis« oder »energeia« klar voneinander abzugrenzen, kaum durchzuhalten ist. Eine simple Zweiteilung ist schon in der Philosophie des Aristoteles problematisch, dessen Begriffe der dynamis (Vermögen) und energeia (wirkliche Tätigkeit) als die Bausteine der Wirklichkeit sich nicht gegenüberstehen, sondern zusammengedacht werden müssen. In der Verbindung der Konzepte »Realität« und »Virtualität« kommt dem Begriff der virtuellen Realität (siehe auch ⊳ Cyberspace) schließlich eine technikbasierte Eigenbedeutung zu, als
Mentale Virtualität und Theorie der SubjektivitätIm modernen Kontext der Konstitution von Subjektivität und deren Analyse gewinnt der Begriff der Virtualität eine komplexe Bedeutungsebene hinzu. Gemäß der Selbstmodell-Theorie der Subjektivität gehört Virtualität zum mentalen Paradigma der Konstitution von Selbstbewusstsein, da „so etwas wie Selbste in der Welt“ ([Metzinger 2000a]: S. 1) nicht existieren. Es existieren nur das erlebte Ichgefühl und variable Inhalte des Selbstbewusstseins, die quasi virtuell in mentalen Modellen organisiert sind. Die ontologische Vorhandenheit des Ich bzw. der alltagspsychologische Zusammenhang des Ich lässt sich als phänomenales „Selbst“ klassifizieren, als „der im subjektiven Erleben unmittelbar gegebene Inhalt des Selbstbewusstseins“ ([Metzinger 2000a]: S. 6). Die Selbstmodelle fungieren als virtuelle Elemente und der Besitz von „immer besseren Selbstmodellen als einer neuen Art von „virtuellen Organen“ ermöglichte – diesen Punkt darf man nicht übersehen – überhaupt erst die Bildung von Gesellschaften“ ([Metzinger 2000a]: S. 6). Das Selbstmodell ist kein greifbares und wirkliches Selbst, sondern eine Repräsentation der Gesamtheit aller Kausalbeziehungen, die zwischen dem Subjekt und dessen Umwelt herrschen. Somit wird der phänomenale Raum, in welchem sich das Subjekt bewegt, als ein virtueller Raum verstehbar, da in ihm
In dieser Perspektive zeigt sich Virtualität in mentaler statt technischer Fundierung:
Virtuelle Realität als technisches Konstrukt (Bildansätze)Niklas Luhmann ist es, der Ende des 20. Jahrhunderts Virtualität und moderne Medientechnologien zusammendenkt und das Medium als „reine Virtualität“ ([Luhmann 1993a]: S. 356) bezeichnet – als pure Potentialität und Möglichkeit. Während Luhmann sein Verständnis von Virtualität noch an jedes beliebige Medium koppelt, weitet sich durch die Entwicklung moderner mobiler Medien eine Sichtweise aus, die Virtualität immer stärker mit den digitalen Medien in Verbindung bringt. Durch Vaihingers Aufsatz «Virtualität und Realität – Die Fiktionalisierung der Wirklichkeit und die unendliche Information» (1997) kommt es schließlich zu einer Verwechslung bzw. Vermischung der Begrifflichkeiten »Virtualität«, »Simulation« und »Virtueller Realität« und somit zu einer Beschränkung des Begriffs auf die digitalen Medien. Aus dieser Perspektive wird Virtualität als eine neue konstruierte Wirklichkeit angesehen, die der Realität entgegensteht. In dieser technischer Orientierung wird Virtualität als virtuelle Realität beschreibbar, eine „Objektwelt, die Wirklichkeit zu sein verspricht, ohne sie sein zu müssen“ ([Vaihinger 1997a]: S. 21), die in Abhängigkeit von den Elementen »Bild«, »Raum« und »Interaktivität« konstituiert wird. Generell werden Konstrukte wie Computerspiele, online games oder chatrooms zu den besonders populären Ausprägungen virtueller Realitäten gezählt, da hier eine Konzeption von bildlich vermitteltem Raum (Anwesenheitsraum) wirksam ist, „der nicht existiert, aber dennoch in unsere Realität hineinwirkt – also virtuell ist“ ([Schwingeler 2008a]: S. 11). Virtuelle Realität bzw. virtuelle Räume sind demnach davon abhängig, dass sie einerseits über eine bildliche Darstellungsfunktion verfügen, darüber hinaus aber „als Räume leiblicher Anwesenheit erfahren werden können“ ([Böhme 2004a]: S. 139). Die Möglichkeit, den Darstellungsraum in einer Art und Weise zu modifizieren, dass er leibliche Anwesenheit virtuell erfahrbar macht, wird durch technische Elemente ermöglicht, die eine aktive Rezipienten-Handlung strukturieren. In erster Linie sind virtuelle Räume als Kommunikations-Räume konstituiert, in denen durch Textnachrichten und Sprachbotschaften eine soziale Interaktion ermöglicht wird. Zudem fördern (und fordern) vor allem Computerspiele und online games die aktive und sich geographisch orientierende Bewegung innerhalb der Spielwelten mittels Spielcharakter oder Avatar. Da sich der |Bild-Raum des Spielvorgangs an die jeweilige und individuell vermittelte Kamera-Perspektive anpasst, verfügt der Spieler über eine arbiträre Perspektive, „im Spiel lenkt der Blick die Kamera“ ([Schwingeler 2008a]: S. 142). Durch diese freie Perspektivwahl wird das Bild zum
Eine spezifischere Form virtueller Realität, die sich von spieltypischen Zielvorgaben und fest strukturierten Inhalten löst, lässt sich an der 3D-Onlinewelt «Second Life» des US-amerikanischen Unternehmens Linden Lab nachweisen. «Second Life» zeichnet sich durch quasi unbegrenzte Interaktivität aus, da keine spieltypischen Grenzen und Zielvorgaben existieren. Diese besondere Offenheit konstituiert ein Handlungspotential, welches aus dem traditionellen gamer eines Spiels einen resident einer virtuellen Welt macht und die immersive Bindung des Rezipienten erhöht. Dabei darf der Ausdruck ‘virtuelle Welt’ nicht in einem engen Sinn verstanden werden, denn die residents behandeln «Second Life» „very much as an actual, not a virtual, place“ ([Heider 2009a]: S. 134). Die Partizipationsmöglichkeiten sind dementsprechend komplex und gestützt durch ein dichtes Netz virtueller Infrastrukturen, die Identitätsbildung, Kultur- und Subkulturbildung, flexible Geschlechterorientierung, Landerwerb, Bildungsstrukturen, Vergnügungs- und Luxusbedürfnisse, Kommunikationsprozesse, Produktionsprozesse, kommerzielle Transaktionen (inklusive einer eigenen Währung, den L$ = Linden-Dollars), Besteuerung, Markenetablierung und politische Maßnahmen ermöglichen. Die komplexen Strukturen innerhalb von «Second Life» konstituieren ein “zweites Leben” für den Rezipienten: „Virtual worlds have real consequences“ ([Heider 2009a]: S. 23). Demnach sind alle potentiell erlebbaren Elemente und Situationen
Virtualität und FiktionEine Fiktion ist die Darstellung eines Sachverhalts ohne überprüfbare Referenz zu einem real stattgefundenen Ereignis, d.h. ohne notwendigen Wirklichkeitsbezug. Nach Aristoteles ist es nicht Aufgabe der Fiktion, das mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr nachahmend darzustellen,
Die Fiktion kann folglich nicht von der Realität losgelöst angesehen werden, da sie sich nachahmend auf diese bezieht. Fiktionale Inhalte entstehen unter mimetischem Rückgriff auf die reale Welt als Bezugswelt (vgl. [Böcking 2008a]: S. 27) und deren Wahrscheinlichkeiten, was die Fiktion in die Nähe des Begriffs des Virtuellen rückt. Mimesis – als Merkmal der Fiktion – ist jedoch nicht als Nachahmung der aktuellen, real existierenden Wirklichkeit anzusehen, sondern als Darstellung bzw. Simulation einer möglichen Wirklichkeit oder Welt. Dieser Bezug auf mögliche Welten ist notwendig, da wir es bei Romanen, Filmen oder virtuellen Umgebungen nicht notwendigerweise mit der realen Wirklichkeit zu tun haben, wie wir sie tatsächlich leben, sondern lediglich mit einer möglichen Welt. Und diese Welt muss nicht den Gesetzen unserer Lebenswelt gehorchen – man denke an die Realitätssysteme von Science-Fiction- und Fantasy-Filmen oder Spielen: Denn die virtuellen Dinge verhalten sich nach Gesetzen, die nicht unbedingt die sind, die aus der Wirklichkeit bekannt sind ([Wiesing 2005a]: S. 121). Der fiktionale Text ist dabei in einem doppelten Sinne als virtuell anzusehen. Eco bezeichnet den Text als „eine Maschine, um mögliche Welten zu produzieren“ ([Eco 1998b]: S. 219), da dessen intentionaler Gegenstand – im Gegensatz zu realen Gegenständen – nicht vollständig und allumfassend bestimmt ist und somit eine Vielzahl an Leer- und Unbestimmtheitsstellen enthält, d.h. verschiedene Möglichkeiten der Aktualisierung in sich trägt[1]. Diese werden wiederum allein in der Vorstellung des Rezipienten vollzogen und sind daher ebenfalls als virtuell anzusehen. Der geschriebene Text ist unbestimmt, lückenhaft und abstrakt, erst durch das Lesen und die Überführung in die Imagination des Lesers werden Szenen, Figuren und Ereignisse in einem Akt der Simulation konkretisiert und miteinander zu einem möglichen Ganzen verbunden. Ryan subsumiert unter das Konzept der möglichen textuellen Welt daher auch das Merkmal des „connected set of objects and individuals“ ([Ryan 2001a]: S. 91). Eine mögliche Welt ist demnach die Darstellung eines Zustandes, der eine Alternative zum aktuellen Zustand bildet. Johnson-Laird wendet diesen Begriff jedoch nicht nur auf die aktuellen mentalen Repräsentate an, welche die real existierende Welt abbilden, sondern auch auf die mentalen Simulationen von Weltzuständen, die ebenfalls mögliche Weltzustände abbilden, wie z.B. Hypothesen über den weiteren Verlauf eines Tages oder eben Vorstellungen über die fiktive Welt eines Romans oder Filmes. Ebenso sind digitale virtuelle Realitäten als mögliche Welten – als Simulationen bzw. Nachahmungen einer Welt – und damit als fiktionale Welten zu denken. Sie sind als Realitäten anderer Art zu verstehen, die neben unserer realen Realität existieren. Fiktionen wie Virtualitäten sind weder wahr noch falsch (⊳ Interaktions-, Selbst- und Sachbezug: Abschnitt «Wahrhaftigkeit und Wahrheit») – sie sind lediglich möglich bzw. wahrscheinlich. Allerdings will die virtuelle Wirklichkeit keine fiktionale Wirklichkeit repräsentieren, sondern sie will dem Beobachter die Realität der Fiktion präsentieren. Während eine Fiktion immer den Bezug zu der Perspektive desjenigen voraussetzt, der sie geschaffen hat, ist die virtuelle Realität unabhängig von der Perspektive, desjenigen, der sie geschaffen hat (vgl. [Esposito 1998a]: S. 288). |
Anmerkungen
[Aristoteles 1997a]:
Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Bergson 1948a]: Bergson, Henri (1948). Das Mögliche und das Wirkliche. In: Bergson, H. (Hg.): Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Meisenheim am Glan: Hain, S. 110-125. [Böcking 2008a]: Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Patrick Kruse [27], Joerg R.J. Schirra [24], Lars Grabbe [24], Dimitri Liebsch [18] und Franziska Kurz [4] — (Hinweis) Zitierhinweis: [Kruse & Grabbe 2013g-c]
[Aristoteles 1997a]: |