Virtualität
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BegriffsstrukturDer Begriff Virtualität leitet sich aus dem lateinischen virtus ab. Virtus gibt auf Basis der lateinischen Bibelübersetzung die griechischen Wörter dynamis (δύναμις) bzw. dynaton (δυνατόν) wieder und fügt den Grundbedeutungen Tugend, Mannheit, Tüchtigkeit und Tapferkeit den Aspekt der Kraft, des Vermögens, hinzu (vgl.[Okolowitz 2006a]Okolowitz, Herbert (2006).Virtualität bei G.W. Leibniz. Eine Retrospektive.. Eintrag in Sammlung zeigenS. 35f./ vgl. [Roth 2000a]Roth, Peter (2000). Virtualis als Sprachschöpfung mittelalterlicher Theologen. In Die Anwesenheit des Abwesenden. Theologische Annäherungen an Begriff und Phänomene von Virtualität, 33-42. Eintrag in Sammlung zeigenS. 33f.). Die moderne Übersetzung von Virtualität bezieht sich auf das Feld der Möglichkeit. In dieser Perspektive kommen dem Adjektiv virtuell folgende Bedeutungen zu: „entsprechend seiner Anlage als Möglichkeit vorhanden, die Möglichkeit zu etw. in sich begreifend“ ([Duden 1999a]Duden (1999). Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Mannheim: Dudenverlag. Eintrag in Sammlung zeigenS. 4331) und „nicht echt, nicht in Wirklichkeit vorhanden, aber echt erscheinend, dem Auge, den Sinnen vortäuschend“ ([Duden 1999a]Duden (1999). Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Mannheim: Dudenverlag. Eintrag in Sammlung zeigenS. 4331). Bei Bergson allerdings – wie schon zuvor bei Leibniz und später erneut bei Deleuze – findet sich die Abgrenzung des Virtuellen vom Möglichen, denn „das so verstandene Mögliche gehört in keinem Grad zum Virtuellen“ ([Bergson 1948a]Bergson, Henri (1948). Das Mögliche und das Wirkliche. In Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, 110-125. Eintrag in Sammlung zeigenS. 122). Clara Völker erklärt diese Aussage in ihrer Ideengeschichte der Virtualität folgendermaßen: „Während das Mögliche zeitlich nach dem Wirklichen entsteht, [...] ist das Virtuelle zeitlich vor dem Wirklichen existent, [...] und tritt nur durch etwas Aktuelles in Erscheinung“ ([Völker 2010a]Völker, Clara (2010). Mobile Medien. Zur Genealogie des Mobilfunks und zur Ideengeschichte von Virtualität. Bielefeld: Transcript. Eintrag in Sammlung zeigenS. 210). Dies zeigt, dass der Versuch, Realität und Virtualität durch Begriff wie Potentialität, Möglichkeit, Wirklichkeit, dynamis oder energeia klar voneinander abzugrenzen, kaum durchzuhalten ist. Dies ist dem Paradigma der Zweiteilung des Seins zuzuweisen, dass schon in der Philosophie des Aristoteles auftaucht, dessen Begriffe der dynamis (Vermögen) und energeia (wirkliche Tätigkeit) als die Bausteine der Wirklichkeit sich jedoch nicht gegenüberstehen, sondern zusammengedacht werden müssen. In der Verbindung der Konzepte Realität und Virtualität kommt dem Begriff der Virtuellen Realität schließlich eine technikbasierte Eigenbedeutung zu, als „vom Computer simulierte, künstliche Welt, in die sich jmd. mithilfe der entsprechenden technischen Ausrüstung scheinbar hineinversetzen kann“ ([Duden 1999a]Duden (1999). Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Mannheim: Dudenverlag. Eintrag in Sammlung zeigenS. 4331).
Engere Begriffsbestimmung
1. Mentale Virtualität und Theorie der SubjektivitätIm modernen Kontext der Konstitution von Subjektivität und deren Analyse kommt dem Begriff der Virtualität eine komplexe Bedeutungsebene hinzu. Gemäß der Selbstmodell-Theorie der Subjektivität gehört Virtualität zum mentalen Paradigma der Konstitution von Selbstbewusstsein, da „so etwas wie Selbste in der Welt“ ([Metzinger 2000a]Metzinger, Thomas (2000).Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigenS. 1) nicht existieren. Es existieren nur das erlebte Ichgefühl und variable Inhalte des Selbstbewusstseins die quasi virtuell in mentalen Modellen organisiert sind. Die ontologische Vorhandenheit des Ich bzw. der alltagspsychologische Zusammenhang des Ich lässt sich als phänomenales >Selbst< klassifizieren, als „der im subjektiven Erleben unmittelbar gegebene Inhalt des Selbstbewusstseins“ ([Metzinger 2000a]Metzinger, Thomas (2000). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigenS. 6). Die Selbstmodelle fungieren als virtuelle Elemente und der Besitz von „immer besseren Selbstmodellen als einer neuen Art von „virtuellen Organen“ ermöglichte – diesen Punkt darf man nicht übersehen – überhaupt erst die Bildung von Gesellschaften“ ([Metzinger 2000a]Metzinger, Thomas (2000). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigenS. 6). Das Selbstmodell ist kein greifbares und wirkliches >Selbst<, sondern eine Repräsentation der Gesamtheit aller Kausalbeziehungen. Somit wird der phänomenale Raum in welchem sich das Subjekt bewegt als ein virtueller Raum verstehbar, da in ihm „eine Möglichkeit – die beste Hypothese, die es im Moment gibt – unhintergehbar als eine Wirklichkeit – eine Aktualität – dargestellt wird“ ([Metzinger 2000a]Metzinger, Thomas (2000). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigenS. 22). In dieser Perspektive zeigt sich Virtualität in mentaler statt technischer Fundierung: „Die Zeitgenössische Begeisterung für das Vordringen des Menschen in künstliche virtuelle Welten übersieht, dass wir uns immer schon in einem biologisch generierten „Phenospace“ befinden: Innerhalb einer durch mentale Simulation erzeugten virtuellen Realität“ ([Metzinger 2000a]Metzinger, Thomas (2000). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigenS. 243). 2. Virtuelle Realität als technisches Konstrukt (Bildansätze)Niklas Luhmann ist es, der Ende des 20. Jahrhunderts Virtualität und moderne Medientechnologien zusammendenkt und das Medium als „reine Virtualität“ (Luhmann 1993: 356) bezeichnet – als pure Potentialität und Möglichkeit. Während Luhmann sein Verständnis von Virtualität noch an jedes beliebige Medium koppelt, weitet sich durch die Entwicklung moderner mobiler Medien eine Sichtweise aus, die Virtualität immer stärker mit den digitalen Medien in Verbindung bringt (diesbezüglich hatte auch schon Heidegger das Technische als das Virtuelle gedacht). Durch Vaihingers Aufsatz Virtualität und Realität – Die Fiktionalisierung der Wirklichkeit und die unendliche Information (1997) kommt es schließlich zu einer Verwechslung bzw. Vermischung der Begrifflichkeiten »Virtualität« mit »Simulation« oder »Virtueller Realität« und somit auf eine Beschränkung des Begriffs auf die digitalen Medien. Aus dieser Perspektive wird Virtualität als eine neue konstruierte Wirklichkeit angesehen, die der Realität entgegensteht.
Auswirkungen auf andere Begriffe
Literatur
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Anmerkungen
[Bergson 1948a]: Bergson, Henri (1948). Das Mögliche und das Wirkliche. In: Bergson, H. (Hg.): Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Meisenheim am Glan: Hain, S. 110-125.
[Duden 1999a]: Duden (1999). Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bänden. Mannheim: Dudenverlag.
[Metzinger 2000a]: Metzinger, Thomas (2000). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In: Greve, W. (Hg.): Psychologie des Selbst. ???: Psychologie Verlagsunion, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version.
[Okolowitz 2006a]: Okolowitz, Herbert (2006). Virtualität bei G.W. Leibniz. Eine Retrospektive. Seitenbearbeitungen durch: Patrick Kruse [27], Joerg R.J. Schirra [24], Lars Grabbe [24], Dimitri Liebsch [18] und Franziska Kurz [4] — (Hinweis) |