Visual Culture / Visual Studies
Unterpunkt zu: Bildtheoretische Ansätze
Begriffe: »visual culture«, »visual studies« (und »visual culture studies«)Visual Culture und Visual Studies sind in vielen Hinsichten umstritten. Ein erste Hinsicht kristallisiert sich bereits an den zugrunde liegenden Begriffen. »Visual culture«, »visual studies« und auch »visual culture studies« können einander teilweise, aber eben nur teilweise vertreten. Der am meisten verwendete, aber ein zugleich auch zweideutiger Begriff ist »visual culture«. So heißt es anlässlich des Visual Culture Questionnaire, mit dem die Kunstzeitschrift «October» 1996 erstmalig die scientific community zur allgemeinen Reflexion über das Thema einlud: „‘Visual culture’ does double service: it is both a partial description of a social world mediated by commodity images and visual technologies, and an academic rubric for interdisciplinary convergences among art history, film theory, media analysis and cultural studies“ ([Foster & Krauss 1996a]Foster, Hal & Krauss, Rosalind (1996).Introduction. In October (MIT Press Journal), 77, 3-4. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 3). Demnach trifft auf ‘visual culture’ Ähnliches zu wie auf das deutsche ‘Kunstgeschichte’, das sowohl das Objekt als auch die Disziplin bezeichnet. Diese – in der Regel durch den Kontext disambiguierte – Zweideutigkeit ist bis in die jüngsten Schriften anzutreffen. Getting the Warhol We Deserve. Cultural Studies and Queer Culture. In In()visible Culture. An Electronic Journal for Visual Studies, 1, 1. Eintrag in Sammlung zeigen ⊳ [1]). John A. Walker und Sarah Chaplin verwenden eine analoge Unterscheidung, sprechen sich jedoch anstatt für die Bezeichnung ‘visual studies’ für ‘visual culture studies’ aus ([Walker & Chaplin 1997a]Walker, John A. & Chaplin, Sarah (1997). Visual Culture. An Introduction. Manchester, New York: Manchester University Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 1).[1] Visual Studies. A Skeptical Introduction. New York, London: Routledge. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 7), wird im Folgenden ‘visual culture’ für das Objekt der Untersuchung und ‘visual studies’ für den wissenschaftlichen Zugriff auf dieses Objekt verwendet. Ausnahmen finden sich allein in den wörtlichen Zitaten aus anderen Texten#. Disziplin, Interdisziplinarität, “Undiszipliniertheit”Ebenfalls umstritten ist, ob und inwiefern es sich bei Visual Studies um eine Disziplin handelt. Die Frage wird selten bejaht und wenn, dann ist von Disziplin in einem eher schwachen Sinn die Rede. Gemeint ist damit zumeist, dass es seit den 1990er Jahren zunächst im englischsprachigen Raum manifeste Formen der pädagogischen, wissenschaftlichen und publizistischen Institutionalisierung gibt, also Aufnahmen in universitäre Curricula, einschlägige Konferenzen und Veröffentlichungen bis hin zu spezifischen Zeitschriften. Darüber hinaus lassen sich auch Vorschläge zu weitergehenden Festlegungen inhaltlicher und methodischer Art finden, etwa in Bezug auf Grundlagentexte, kanonische Autoren, bevorzugte Objekte und Interpretationsmethoden – dazu später mehr. Auch weil diese eher diskutiert als geteilt werden, hat es sich eingebürgert, die Visual Studies statt als Disziplin vor allem als (akademisches) Feld anzusprechen.[2] Ferner sind die Visual Studies wie schon die älteren Cultural Studies auch als „diskursive Formation“ apostrophiert worden[3] und als (nicht nur akademische, sondern auch politische) Bewegung (vgl. [Bal 2003a]Bal, Mieke (2003).Visual Essentialism and the Object of Visual Culture. In Journal of Visual Culture, 1, 2, 5-32. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 5f.). Visual Studies. A Skeptical Introduction. New York, London: Routledge. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 25) bis zu insgesamt 34 verschiedenen, nämlich: „aesthetics, anthropology, archaeology, architectural history/theory, art criticism, art history, black studies, critical theory, cultural studies, deconstruction, design history, feminism, film studies/theory, heritage studies, linguistics, literary criticism, marxism, media studies, phenomenology, philosophy, photographic studies, political economy, post-colonial studies, post-structuralism, proxemics, psychoanalysis, psychology of perception, queer theory, reception theory, russian formalism, semiotics, social history, sociology, structuralism“ ([Walker & Chaplin 1997a]Walker, John A. & Chaplin, Sarah (1997). Visual Culture. An Introduction. Manchester, New York: Manchester University Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 22). Nicht zuletzt in Anbetracht der Tatsache, dass sich die Visual Studies zunehmend den Naturwissenschaften öffnen, kann jedoch auch diese Liste nicht erschöpfend sein. – Motiviert ist diese methodische Interdisziplinarität auch durch die Natur der Gegenstände, insbesondere durch die wachsende Medienkonvergenz unter den Vorzeichen von technischer Entwicklung und globalem Kapitalismus seit/in dem 20. Jahrhundert (vgl. dazu [Cartwright 2002a], insbesondere S. 237.f, 242, 247f.): Wir begegnen dem Kinofilm in der DVD, dem Fernsehen im Netz und den alten Meistern als Druck auf T-Shirt und Teetasse; und schon der Film wurde von keiner autonomen Industrie realisiert, sondern entstand an den Schnittlinien von Konsumgütern, Elektrizität, Beleuchtung, Make-Up und Mode. Introduction. Conceiving the Intersection of Feminism and Visual Culture. In The Feminism and Visual Culture Reader, 1-7. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 34). Vorgeschichte/nAuch aufgrund der Vielzahl der beteiligten Disziplinen verfügt das Feld oder die Bewegung der Visual Studies über keine verbindliche und homogene Vorgeschichte. Es lassen sich dennoch mindestens drei Vorgeschichten anführen, die für die Entwicklung der Visual Studies aussagekräftig sind: die Transgressionen der traditionellen Kunstgeschichte, die Geschichte des Begriffs »visual culture« (sic!) sowie auch und vor allem die Cultural Studies. Der Bilderatlas Mnemosyne. Berlin: Akademie. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 3f.). Eine ebenfalls beträchtliche Erweiterung der Forschungsgegenstände findet sich auch in den Arbeiten Erwin Panofskys, der sich schon früh, nämlich in den 1930er Jahren, dem Film widmete und später das Fortleben von palladianischer Tempelfassade einerseits und ungezügelter Romantik andererseits bis zum Kühler des Rolls Royce verfolgte.[6] Anregend für den Kontext der Visual Studies ist darüber hinaus sein folgenreicher Versuch, die oft als Siegeszug einer “natürlichen” Darstellung gefeierte Zentralperspektive der Renaissance auf Konvention und Kultur zurückzuführen und als „symbolische Form“ im Sinne des Neukantianismus zu beschreiben (vgl. [Panofsky 1924a]Panofsky, Erwin (1998). Die Perspektive als symbolische Form (1924). In Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Bd. 2, 664-757. Eintrag in Sammlung zeigen). Eine kritische Reflexion auf die Kunstgeschichte findet sich schließlich in den ursprünglich nicht für das Buch, sondern als Fernsehserie für die BBC konzipierten «Ways of Seeing» des marxistischen Kunstkritikers und -theoretikers John Berger. Seine Essays setzen sich gleich mit einer ganzen Reihe von für die Visual Studies einschlägigen Themenfeldern auseinander: mit dem Verhältnis von Sehen und Sprechen, dem Gesehen-Werden als Konstituens für soziale Ordnung und gender-Rollen, den Beziehungen zwischen Sehen und Besitz, der Rolle der medientechnischen Entwicklung insbesondere für die Erweiterung der Funktionsvielfalt von Bildern (⊳ Replika, Faksimile und Kopie) oder auch mit den „publicity images“ der Werbung und ihren Beziehungen zur traditionellen Kunst (vgl. [Berger 1972a]Berger, John (1972). Ways of Seeing. London: Penguin Books. Eintrag in Sammlung zeigen. Visual Culture Questionnaire. In October, 77, 25-70. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 26). Ebenfalls Fakt – wenngleich weitgehend übersehen – ist, dass der Begriff in Medienwissenschaft und Filmtheorie schon weitaus länger eine Rolle spielt. In Marshall McLuhans «Understanding Media» von 1964 meint er entweder eine Strukturierung ähnlich derjenigen bei Alpers oder (seltener) auch eine vom Visuellen dominierte gesellschaftliche Epoche, wobei in beiden Fällen Medien wie phonetischer Schrift, Buchdruck, Fernsehen usw. ein starker Einfluss eingeräumt wird (vgl. [McLuhan 1964b]McLuhan, Marshall (1968). Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf, Wien: Econ. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 54, 127ff., u.ö.). Noch früher lässt sich »visuelle Kultur« in der Filmtheorie nachweisen. In «Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films» von 1924 antizipiert Béla Balázs die beiden Verwendungsweisen McLuhans und sieht im (Stumm-)Film eine Stärkung der durch den Buchdruck marginalisierten visuellen Kultur gekommen (vgl. [Balázs 2001b]Balázs, Béla (2001). Der sichtbare Mensch. In Texte zur Theorie des Films, 224-233. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 224ff. und [Liebsch 2007a]Liebsch, Dimitri (2007). Pictorial Turn and Visual Culture. In Visual Culture Revisited. German and American Perspectives on Visual Culture(s), 12-26. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 16).[9] Culture and Anarchy. Cambridge: Cambridge University Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 70); Kultur umfasst vielmehr außerdem einen „whole way of life“ ([Williams 1958a]Williams, Raymond (2002). Culture Is Ordinary. In The Everyday Life Reader, 91-100. Eintrag in Sammlung zeigen: S. ##), der das Gewöhnliche und den Alltag mit einschließt. Zweitens stehen neben den Artefakten oft die Praktiken im Fokus, und zwar insbesondere die Praktiken der Bedeutungserzeugung: “Primarily, culture is concerned with the production and the exchange of meanings – the ‚giving and taking of meaning’ – between the members of a society or group“ ([Hall 1997a]Hall, Stuart (1997). Introduction. In Representation: Cultural Representations and Signifying Practices, 1-11. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 2). Nicht zuletzt wegen der sozialen Genese von Bedeutung erscheinen drittens in der Analyse anstatt des isolierten Individuums eher Gruppen als Träger von Kultur - Gruppen, deren Strukturen oft anhand der Kategorien race, class und gender analysiert werden. Gegenstand, GegenständeEs gibt nicht den einen, klar umgrenzten Gegenstand für dieses interdisziplinäre und undisziplinierte Feld mit seiner facettenreichen Vorgeschichte. Selbst die naheliegende Vermutung, gemäß den Begriffen »visual studies« und »visual culture« könne es sich bei diesem Gegenstand doch nur um das Visuelle handeln, ist mit Vorsicht zu genießen. Was ist das Visuelle? Für das Visuelle hat der Kunsthistoriker Martin Jay die positivistisch angehauchte Definition gegeben, es handele sich dabei um „anything that can imprint itself on the retina“ ([VCQ 1996a] (1996).Visual Culture Questionnaire. In October, 77, 25-70. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 42). Insofern wären die Visual Studies nicht auf das Bild, geschweige denn das künstlerische Bild eingeschränkt, sondern können sich ebenso auf das Fernsehen, die Menschen auf der Straße, das Urlaubspolaroid, den von Lichtverschmutzung bedrohten Nachthimmel, das Videospiel oder die Objekte unterm Mikroskop beziehen. Die Liste ließe sich fast beliebig verlängern – alles was gesehen werden kann, könnte demnach auch Gegenstand der visual studies werden. Visual Culture Questionnaire. In October, 77, 25-70. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 34). Kurz, die Gegenstände der Visual Studies sind visuell oder hybride oder besitzen lediglich (als Bedingungen) einen einschlägigen Bezug zum Visuellen.
Siehe auch:
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Anmerkungen
[Arnold 1869a]: Arnold, Matthew (1932). Culture and Anarchy. Cambridge: Cambridge University Press.
[Bal 2003a]: Bal, Mieke (2003). Visual Essentialism and the Object of Visual Culture. Journal of Visual Culture, Band: 1, Nummer: 2, S. 5-32. [Balázs 2001b]: Balázs, Béla (2001). Der sichtbare Mensch. In: Albersmeier, F.-J. (Hg.): Texte zur Theorie des Films. Stuttgart: Philip Reclam jun., S. 224-233. [Baxandall 1972a]: Baxandall, Michael (1972). Painting and Experience in Fifteenth Century Italy. A Primer in the Social History of Pictorial Style. Oxford: Clarendon Press. [Berger 1972a]: Berger, John (1972). Ways of Seeing. London: Penguin Books. [Crimp 1998a]: Crimp, Douglas (1998). Getting the Warhol We Deserve. Cultural Studies and Queer Culture. In()visible Culture. An Electronic Journal for Visual Studies, Band: 1, Nummer: 1. [Elkins 2003a]: Elkins, James (2003). Visual Studies. A Skeptical Introduction. New York, London: Routledge. [Foster & Krauss 1996a]: Foster, Hal & Krauss, Rosalind (1996). Introduction. October (MIT Press Journal), Band: 77, S. 3-4. [Hall 1992a]: Hall, Stuart (1992). Cultural Studies and its Theoretical Legacies. In: Grossberg, L. & Nelson, C. & Treichler, P. (Hg.): Cultural Studies. New York, London: Routledge, S. 277-294. [Hall 1997a]: Hall, Stuart (1997). Introduction. In: Hall, S. (Hg.): Representation: Cultural Representations and Signifying Practices. London, Thousand Oaks, CA: Sage, S. 1-11. [Jones 2003a]: Jones, Amelia (2003). Introduction. Conceiving the Intersection of Feminism and Visual Culture. In: Jones, A. (Hg.): The Feminism and Visual Culture Reader. New York: Routledge, S. 1-7. [Liebsch 2007a]: Liebsch, Dimitri (2007). Pictorial Turn and Visual Culture. In: Adelmann, R. & Fahr, A. &, Katenhusen, I. & Leonhardt, N. & Liebsch, D. & Schneider, S. (Hg.): Visual Culture Revisited. German and American Perspectives on Visual Culture(s). Köln: von Halem, S. 12-26. [McLuhan 1964b]: McLuhan, Marshall (1968). Die magischen Kanäle. Understanding Media. Düsseldorf, Wien: Econ. [Mirzoeff 1999a]: Mirzoeff, Nicholas (1999). An Introduction to Visual Culture. London, New York: Routledge. [Mitchell 2008a]: Mitchell, William J. Thomas (2008). Bildtheorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp. [Morra & Smith 2006a]: Morra, Joanne & Smith, Marquard (2006). Introduction. In: Morra, J. & Smith, M. (Hg.): Visual Culture. Critical Concepts in Media and Cultural Studies. Bd. 1. What is Visual Culture Studies. London, New York: Routledge, S. 1-18. [Panofsky 1924a]: Panofsky, Erwin (1998). Die Perspektive als symbolische Form (1924). In: Michels, K. & Warnke, M. (Hg.): Erwin Panofsky, Deutschsprachige Aufsätze, Bd. 2. Berlin: Akademie, S. 664-757. [Panofsky 1995a]: Panofsky, Erwin (1995). Stil und Medium im Film & Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers. Frankfurt/M.: Fischer. [Shohat & Stam 1998a]: Shohat, E. & Stam R. (1998). Narrativizing Visual Culture. Towards a Polycentric Aesthetics. In: Mirzoeff, N. (Hg.): The Visual Culture Reader. London, New York: Routledge, S. 26-49. [Sturken & Cartwright 2001a]: Sturken, M. & Cartwright L. (2001). Practices of Looking. An Introduction to Visual Culture. Oxford, New York: Oxford University Press. [VCQ 1996a]: (1996). Visual Culture Questionnaire. October, Band: 77, S. 25-70. [Walker & Chaplin 1997a]: Walker, John A. & Chaplin, Sarah (1997). Visual Culture. An Introduction. Manchester, New York: Manchester University Press. [Warburg 2000a]: Warburg, Aby (2000). Der Bilderatlas Mnemosyne. Berlin: Akademie. [Williams 1958a]: Williams, Raymond (2002). Culture Is Ordinary. In: Highmore, B. (Hg.): The Everyday Life Reader. London, New York: Routledge, S. 91-100. Verantwortlich: Seitenbearbeitungen durch: Dimitri Liebsch [195], Joerg R.J. Schirra [24], Franziska Kurz [18] und Klaus Sachs-Hombach [3] — (Hinweis) |