Anamorphose
Unterpunkt zu: Bildverwendungstypen
Das anamorphotische BildBei einer Anamorphose handelt es sich um ein Bild, welches auf einem besonderen geometrischen Konstruktionsverfahren beruht. Dem zentralperspektivischen Bild ähnlich, gründet die Anamorphose auf einem mathematischen Raster. Das geometrisch berechnete Konstruktionsschema wird allerdings in einer anamorphotischen Darstellung verzerrt dargestellt, indem die einzelnen Trapez-Raster stark verlängert sind (vgl. [Topper 2000a]Topper, David (2000).On Anamorphosis. Setting Some Things Straight. In Leonardo, 33, 2, 115-124. Eintrag in Sammlung zeigen). Im anamorphotischen Bild erscheint der abgebildete Gegenstand daher in elongierter Form. Um diese Verzerrung auszugleichen, muss der Betrachter die Anamorphose von einem seitlichen Blickwinkel aus oder mit optischen Geräten betrachten. Verschiedene Typen anamorphotischer Darstellungen existieren seit deren neuzeitlicher Erfindung. Die basale Form ist die oben beschriebene optische bzw. Längenanamorphose. Sie beruht auf dem Prinzip der perspektivischen Verzerrung und wird für den Betrachter in der Dislozierung des eigenen Blickpunktes lesbar. Daneben existieren sogenannte katoptrische sowie dioptrische Anamorphosen. Diese dechiffriert der Betrachter mittels eines Spiegels, Prismas oder gar einer facettierten Linse ([Dewitz & Nekes 2002a]Literaturangabe fehlt. Der Begriff der AnamorphoseDie Bezeichnung »ana-morphosis« umschreibt zugleich die Form und die Funktion des Darstellungsverfahrens: Im ‘doppelgestaltigen’ anamorphotischen Bild ist bzw. wird etwas ‘um-geformt’ (vgl. [Hensel 2009a]Literaturangabe fehlt. De Magia Anamorphotica. In Magia Universalis Naturae et Artis, ???, Teil 1, Buch III. Eintrag in Sammlung zeigen). Dieser Traktat gilt heute gemeinhin als erste Verwendung des Begriffs. Zu dieser Zeit hatte die Anamorphose bereits praktische Anwendung gefunden: Das Konstruktionsverfahren war unter anderem bei der Gestaltung von Fresken eingesetzt worden, „um perfekte Proportionen sogar unter ungünstigen Rezeptionsbedingungen zu gewährleisten“ ([Mersmann 2008a]Mersmann, Jasmin (2008). Wandelgänge. Monumentale Anamorphosen im 17. Jahrhundert. In Der entstellte Blick. Anamorphosen in Kunst, Literatur und Philosophie, 23-41. Eintrag in Sammlung zeigen: S.??). Auch beeinflussten anamorphotische Verfahren wesentlich die Entwicklung naturwissenschaftlicher und geographischer Darstellungen im 16. und 17. Jahrhundert (vgl. [Schäffner 2003a]Schäffner, Wolfgang (2003). Instrumente und Bilder. Anamorphotische Geometrie im 16. und 17. Jahrhundert. In Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, 92-109. Eintrag in Sammlung zeigen). Im Laufe des 17. Jahrhunderts setzte schließlich im Zuge des Rationalismus in Künsten und Philosophie eine praktische wie theoretische Erschließung der Anamorphose ein (vgl. [Cha & Rautzenberg 2008a]Cha, Kyung-Ho & Rautzenberg, Markus (2008). Einleitung: Im Theater des Sehens. Anamorphose als Bild und philosophische Metapher. In Der entstellte Blick. Anamorphosen in Kunst, Literatur und Philosophie, 7-22. Eintrag in Sammlung zeigen, [Hick 1999a]Hick, Ulrike (1999). Geschichte der optischen Medien. München: Fink. Eintrag in Sammlung zeigen). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Berlin/Weinheim: Quadriga. Eintrag in Sammlung zeigen). Er sieht in dieser ein Erkenntnisinstrument, das Sehen und den Blick des Subjekts evident zu machen. Den psychoanalytisch bedeutenden »Blick zurück« erkennt Lacan paradigmatisch in der Darstellung eines anamorphotischen Totenschädels auf Hans Holbeins Gemälde Die Gesandten.[1] So beschreibt er das anamorphotische Detail: „Mit Sicherheit ist es die außergewöhnliche, […] letztlich aber doch völlig offenkundige Absicht, uns zu zeigen, daß wir als Subjekte auf dem Bild buchstäblich angerufen sind und also dargestellt werden als Erfaßte“ ([Lacan 1987a]Lacan, Jacques (1987). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Berlin/Weinheim: Quadriga. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 98). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Berlin/Weinheim: Quadriga. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 93). Dieser widmet dem Holbeinschen Gemälde ein Kapitel seines Buches über das Phänomen der Anamorphose (vgl. [Baltrušaitis 1977a]Baltrušaitis, Jurgis (1977). Anamorphic Art. Cambridge: Chadwyck-Healey, (aus dem Französischen von W.J. Strachan, zuerst: Paris 1969). Eintrag in Sammlung zeigen), wobei sich seine Kernthese auf den Handlungsvollzug der Bildbetrachtung stützt: Einer theatralen Aufführung gleich interpretiert er die Rezeption des Bildes als einen Zweiakter, in dem der Betrachter zunächst vom starken Realismus des Gemäldes affiziert ist und alsbald ein störendes Detail am unteren Bildrand entdeckt. Aus Enttäuschung darüber, diesen blinden Fleck des Bildes nicht entziffern zu können, verlässt er den Raum, nicht ohne einen letzten Blick zurück zu werfen. Erst in diesem Augenblick eröffnet sich eine andere Perspektive auf das Bild und er bemerkt die Verwandlung des verzerrten Flecks in einen Totenkopf ([Baltrušaitis 1977a]Baltrušaitis, Jurgis (1977). Anamorphic Art. Cambridge: Chadwyck-Healey, (aus dem Französischen von W.J. Strachan, zuerst: Paris 1969). Eintrag in Sammlung zeigen: S. 104f.). Perspective, Anamorphosis and Vision. In Marburger Jahrbuch, 21, 93-117. Eintrag in Sammlung zeigen, [Damisch 1987a]Damisch, Hubert (1987). L'origine de la perspective. Paris: Flammarion. Eintrag in Sammlung zeigen, [Massey 2007a]Massey, Lyle (2007). Picturing Space, Displacing Bodies. Anamorphosis in Early Modern Theories of Perspective. University Park, Pa: Pennsylvania State University Press. Eintrag in Sammlung zeigen). Die Anamorphose als ein Korrektiv zu sehen, setzt sich in der aktuellen Bildforschung fort. Zwei Stränge lassen sich dabei unterscheiden, deren Argumentationen einerseits in eine medienphilosophische und andererseits in die Richtung der angloamerikanisch geprägten visual studies zielen. Beide Ansätze gehen jeweils von der Anamorphose als einer Kippfigur aus, die im Augenblick des Betrachtens existent ist und in dieser ephemeren Situation etwas augenscheinlich macht. Anamorphose und MedienphilosophieDieter Mersch sieht in der Anamorphose das Paradigma einer negativen Medientheorie veranschaulicht. Ausgehend von Holbeins Gemälde argumentiert er, dass dieses die „Medialität der Bildkonstruktion“ zu erhellen im Stande sei ([Mersch 2006a]Mersch, Dieter (2006).Mediale Paradoxa. Einleitung in eine negative Medienphilosophie. In Sic et Non. Zeitschrift für Philosophie und Kultur im Netz, 6. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 8). Mersch macht den „Blick von der Seite her“ (ebd.: S. 8) zur einzigen Möglichkeit, die Medialität des Gemäldes in einem kurzen Aufblitzen wahrzunehmen: Normalerweise bleibe die Medialität eines Mediums verdeckt, lediglich im Kippzustand eines anamorphotischen Bildes oder in vergleichbaren „Strategien einer Differenz“ (ebd.: S. 9) zeige sich diese. Anhand der Anamorphose verdeutlicht Mersch damit die Struktur von Medialität generell als eine negative. Anamorphose und visual studiesAuch Kyung-Ho Cha und Markus Rautzenberg betonen die Aufführungssituation der Anamorphose. Als ein Bild, das „kinetische Qualität“ ([Cha & Rautzenberg 2008a]Cha, Kyung-Ho & Rautzenberg, Markus (2008).Einleitung: Im Theater des Sehens. Anamorphose als Bild und philosophische Metapher. In Der entstellte Blick. Anamorphosen in Kunst, Literatur und Philosophie, 7-22. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 15) aufweist, bleibt dieses dauerhaft in der Schwebe zwischen bildlichen Zuständen. Die Vorstellung kinetischer Bildlichkeit ersetzt das Konzept des statischen Bildes (vgl. ebd.: S. 18). Ein Bild wird dann zu einem ephemeren Ereignis, das den Betrachter in seiner jeweiligen kulturellen Disposition zum konstitutiven Part ernennt. Es ist die Geschichte des Sehens, die sich ins anamorphotische Bild schleicht und die sie zum geeigneten Exempel macht, die Themenkomplexe »Bild« und »Wahrnehmung« zu überdenken (vgl. [Schürmann 2008a]Schürmann, Eva (2008). Sehen als Praxis. Ethisch-ästhetische Studien zum Verhältnis von Sicht und Einsicht. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen). Beispiele für AnamorphosenErste anamorphotische Versuche lassen sich bereits im 15. Jahrhundert bei Leonardo da Vinci nachweisen. Dieser hatte um 1485 zwei verzerrt gezeichnete Skizzen angefertigt (vgl. [Leeman 75a]Literaturangabe fehlt. CinemaScope. Zur Geschichte der Breitwandfilme. Berlin: Spiess, Stiftung Deutsche Kinemathek. Eintrag in Sammlung zeigen). Auswirkungen auf andere Begriffe⊳Perspektivik, ⊳Blick, ⊳Perspektive und Projektion, ⊳Optische Medien, ⊳Vexierbild |
Anmerkungen
[Baltrušaitis 1977a]: Baltrušaitis, Jurgis (1977). Anamorphic Art. Cambridge: Chadwyck-Healey, (aus dem Französischen von W.J. Strachan, zuerst: Paris 1969).
[Belach & Jacobsen 1993]: Belach, Helga & Jacobsen, Wolfgang (1993). CinemaScope. Zur Geschichte der Breitwandfilme. Berlin: Spiess, Stiftung Deutsche Kinemathek.
[Cha & Rautzenberg 2008a]: Cha, Kyung-Ho & Rautzenberg, Markus (2008). Einleitung: Im Theater des Sehens. Anamorphose als Bild und philosophische Metapher. In: Cha, K. & Rautzenberg, M. (Hg.): Der entstellte Blick. Anamorphosen in Kunst, Literatur und Philosophie. München: Fink, S. 7-22.
[Damisch 1987a]: Damisch, Hubert (1987). L'origine de la perspective. Paris: Flammarion.
[Dewitz & Nekes 2002a]: Verantwortlich: Seitenbearbeitungen durch: Yvonne Schweizer [70], Joerg R.J. Schirra [37] und Mark A. Halawa [3] — (Hinweis) |