Bildhermeneutik
Unterpunkt zu: Sprechen über Bilder
Das Verstehen von Bildern im GesprächIm Sprechen über Bilder müssen kommunikative Plattformen des Austauschs entwickelt werden, die als Prozess des Verstehens zu validen Übereinkünften zwischen den Beteiligten führen. Diese Plattformen bestehen aus Zeichenkomplexen, auf die man sich insoweit einigen kann, als aus ihnen Metaebenen generiert werden können, die sich mit anderen Formen des Verstehens verknüpfen lassen – wer über Kunstwerke spricht, wird literarische Assoziationen ebenso schätzen wie musikalische Bezüge etwa in der Metapher eines malerischen Rhythmus. Analog bedürfen alle anderen Bilder transformativer Hilfsmittel in der sprachlichen Übersetzung – im medizinischen Bereich sind feste Sprachkonventionen über visuelle Erscheinungen für Patienten von existenzieller Bedeutung. Wie weit derartige Transformationen in den individuellen Wahrnehmungsapparat eingreifen, mag an der Debatte über die Vor- und Nachteile farbiger Darstellungen in medizinischen Bildgebungsverfahren ersehen werden (vgl. [Hennig 2006a]Hennig, Jürgen (2006).Farbeinsatz in der medizinischen Visualisierung. In Bildwelten des Wissens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, 4, 1, 9-16. Eintrag in Sammlung zeigen). Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek: rororo. Eintrag in Sammlung zeigen) bis zu Hans-Georg Gadamers Bestimmung in «Wahrheit und Methode» (vgl. [Gadamer 1960a]Gadamer, Hans-Georg (1960). Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr Siebeck. Eintrag in Sammlung zeigen; [Sallis 2007a]Sallis, John (2007). The Hermeneutics of the Artwork. Die Ontologie des Kunstwerks und ihre hermeneutische Bedeutung (GW 1, 87-138). In Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, 29-44. Eintrag in Sammlung zeigen), die hauptsächlich seiner Auseinandersetzung mit Martin Heideggers «Ursprung des Kunstwerks» geschuldet war (vgl. [Heidegger 1986a]Heidegger, Martin (1986). Ursprung des Kunstwerkes (1935/36). Ditzingen: Reclam, Philipp, jun.. Eintrag in Sammlung zeigen), schwebt die Bildhermeneutik begrifflich zwischen dem Anspruch auf umfassende Erklärung von Werken und der Erkenntnis eigener Begrenztheit in der Sprachbindung, eben dem hermeneutischen Zirkel. Erst nach der Lösung des Bildbegriffs von der Bindung an die Kunst konnte sich die Bildhermeneutik durch neue Kontextualisierungen aus der Diskussion um ihre eigenen Grenzen befreien und auf anwendbare Elemente konzentrieren. Insbesondere die Pädagogik hat die Bildhermeneutik als Instrument der Kommunikation über unterschiedliche Wissens- und Lernvoraussetzungen erkannt und entsprechend thematisiert (vgl. [Sowa & Uhlig 2006a]Sowa, Hubert & Uhlig, Bettina (2006). Bildhandlungen und ihr Sinn. Methodenfragen einer kunstpädagogischen Bildhermeneutik. In Bildinterpretation und Bildverstehen. Methodische Ansätze aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive, 77-105. Eintrag in Sammlung zeigen). Möglich wurde diese Anwendung auch durch die Fragen der Betrachtung großer Mengen medialer Bilder, wie sie sich seit Erfindung der Fotografie und seit deren Digitalisierung noch einmal in einem Quantensprung der Mengenbildung ergeben haben. Erst durch die algorithmische Generierung von Bildern hat sich die Bildhermeneutik von narrativen Elementen und der damit verbundenen Diskussion ihrer eigenen Zeitgebundenheit befreien können (vgl. [Moser 2011a]Moser, Natalie (2011). Gegen das Bild ,anerzählen’. In Rheinsprung 11: Zeitschrift für Bildkritik, 1, 1, 56-70. Eintrag in Sammlung zeigen).
Geschichte und Perspektiven der BildhermeneutikBildhermeneutik ist das Sprechen über Bilder mit der Intention eines Verständnisses, das von den Polen der Erkenntnis und des Interesses geleitet wird (vgl. [Habermas 1973a]Habermas, Jürgen (1973).Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 178-203). Dieses Verständnis setzt, wie Gottfried Boehm gezeigt hat, implizit die Übersetzbarkeit von Bildern in Sprache voraus (vgl. [Boehm 2005a]Boehm, Gottfried (2005). Das Bild und die hermeneutische Reflexion. In Dimensionen des Hermeneutischen. Heidegger und Gadamer, 23-35. Eintrag in Sammlung zeigen); damit wird die hermeneutische Arbeit automatisch zu einer sprachlich fixierten Interpretation jeden gegebenen Bildes. Während Boehm diese Übersetzbarkeit – die ja epistemische Voraussetzung für Wissenschaftszweige wie die Kunstgeschichte war – allein aus der Entwicklung einer sich selbst als autonom bestimmenden Kunst heraus als nicht mehr gegeben erklärt, wird die interpretative Leistung der Bildhermeneutik auch vom Bildbegriff selbst bedroht: Millionen von Selbstinszenierungen in den sozialen Netzwerken des Internets sind kaum noch durch Einzelanalysen begrifflich zu fassen, sondern formen sich zu Clustern der Ähnlichkeit, die als Konventionalisierungen mit anderen Ontologien als der Allegorese oder Einfühlung zu bestimmen sind. Insofern wird Bildhermeneutik auch zu einem Element der Bestimmung der Semiosphäre (vgl. [Lotman 1990a]Lotman, Juri M. (1990). The Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. London, New York: Indiana University Press. Eintrag in Sammlung zeigen). Geknüpfter und gewebter Krieg. Militärische Motive auf afghanischen Teppichen. In Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 3, 2, Online-Ausgabe. Eintrag in Sammlung zeigen). Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie: Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Eintrag in Sammlung zeigen), doch bahnt sich hier bereits die Erfahrung der Sprachgrenzen an, die zum Gadamerschen Schlagwort vom ‘hermeneutischen Zirkel’ führten: Jenseits der Sprache scheint keine Hermeneutik möglich zu sein, gerade auch nicht bei der Betrachtung von Kunstwerken oder beim Hören von Musik. Diesem Problem scheinen kommunikationswissenschaftlich begründete Ansätze wie die von Karl-Otto Apel (vgl. [Apel 2002a]Apel, Karl-Otto (2002). Transformation der Philosophie, Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen), Ulrich Oevermann (vgl. [Oevermann et al. 1979a]Oevermann, Ulrich & Allert, Tilman & Konau, Elisabeth & Krambeck, Jürgen (1979). Die Methodologie einer ‘objektiven Hermeneutik’ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, 352–434. Eintrag in Sammlung zeigen) und Paul Ricœur (vgl. [Ricœur 1973a]Ricœur, Paul (1973). Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen 1. München: Koesel. Eintrag in Sammlung zeigen) entgehen zu können, indem sie kontextuelle Elemente in die Arbeit des Verstehens einfließen lassen, von existentialphilosophischen über soziale bis zu zeitlichen Bindungen, die die hermeneutische Leistung des Einzelnen im Angesichts des Bildes beeinflussen. Doch „die stumme Bildkritik des Entwurfs“ ([Renner 2011a]Renner, Michael (2011). Die stumme Bildkritik des Entwurfs. In Rheinsprung 11: Zeitschrift für Bildkritik, 1, 1, 92-116. Eintrag in Sammlung zeigen) – eine Neuauflage des alten disegno-Prinzips unter hermeneutischem Blickwinkel – bleibt auch hier bestehen: Alle Übersetzungsleistungen aus dem Bild in die Sprache bleiben begrenzt. Computer Vision: Detection, Recognition and Reconstruction. Berlin, Heidelberg: Springer. Eintrag in Sammlung zeigen). Die Computervisualistik ist in sich selbst durchaus als Zirkel der Bildhermeneutik zu begreifen, indem sie algorithmische Instrumente bereitstellt, erkannte Bilder in zuvor programmierte Kontexte einzubinden und daraus ein bildhaftes Handeln zu steuern, dessen intrinsische Logik sprachlich gebundener Rationalität mindestens ansatzweise zu entsprechen vermag (vgl. [Sachs-Hombach 1999b]Sachs-Hombach, Klaus (1999). Fragen der Bildwissenschaft. Über den Studiengang Computervisualistik. In form diskurs, 7, 2, 40-43. Eintrag in Sammlung zeigen und [Schirra 2005a]Schirra, Jörg R.J. (2005). Foundation of Computational Visualistics. Wiesbaden: DUV. Eintrag in Sammlung zeigen). Gerade die Computervisualistik mag es der Bildhermeneutik ermöglichen, sich zum zentralen Forschungsgebiet einer nicht- oder vorsprachlichen Rationalität zu entwickeln; sie könnte damit einem romantischen Einfühlungsvermögen, das die Bildhermeneutik wissenschaftlich – insbesondere in ihrer Anwendung in der Kunst- als Stilgeschichte – über mehr als ein Jahrhundert gelähmt hat, im Rahmen neuer Kontextualisierungen von Bildern, auch denen der Kunst, große Dienste erweisen. |
Anmerkungen
[Apel 2002a]: Apel, Karl-Otto (2002). Transformation der Philosophie, Bd. 1: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
[Boehm 2005a]: Boehm, Gottfried (2005). Das Bild und die hermeneutische Reflexion. In: Figal, G. & Gander H. H. (Martin-Heidegger-Gesellschaft) (Hg.): Dimensionen des Hermeneutischen. Heidegger und Gadamer. Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann, S. 23-35. [Cipolla et al. 2010a]: Cipolla, Roberto; Battiato, Sebastiano & Farinella, Giovanni Maria (2010). Computer Vision: Detection, Recognition and Reconstruction. Berlin, Heidelberg: Springer. [Gadamer 1960a]: Gadamer, Hans-Georg (1960). Wahrheit und Methode. Tübingen: Mohr Siebeck. [Gebauer & Wulf 1992a]: Gebauer, Gunter & Wulf, Christoph (1992). Mimesis. Kultur – Kunst – Gesellschaft. Reinbek: rororo. [Habermas 1973a]: Habermas, Jürgen (1973). Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M.: Suhrkamp. [Heidegger 1986a]: Heidegger, Martin (1986). Ursprung des Kunstwerkes (1935/36). Ditzingen: Reclam, Philipp, jun.. [Hennig 2006a]: Hennig, Jürgen (2006). Farbeinsatz in der medizinischen Visualisierung. Bildwelten des Wissens, Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Band: 4, Nummer: 1, S. 9-16. [Kühne-Bertram & Rodi 2008a]: Kühne-Bertram, Gudrun & Rodi, Frithjof (Hg.) (2008). Dilthey und die hermeneutische Wende in der Philosophie: Wirkungsgeschichtliche Aspekte seines Werkes. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. [Lotman 1990a]: Lotman, Juri M. (1990). The Universe of the Mind. A Semiotic Theory of Culture. London, New York: Indiana University Press. [Moser 2011a]: Moser, Natalie (2011). Gegen das Bild ,anerzählen’. Rheinsprung 11: Zeitschrift für Bildkritik, Band: 1, Nummer: 1, S. 56-70. [Oevermann et al. 1979a]: Oevermann, Ulrich & Allert, Tilman & Konau, Elisabeth & Krambeck, Jürgen (1979). Die Methodologie einer ‘objektiven Hermeneutik’ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften. In: Soeffner, H.-G. (Hg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften. Stuttgart: Metzler, S. 352–434. [Renner 2011a]: Renner, Michael (2011). Die stumme Bildkritik des Entwurfs. Rheinsprung 11: Zeitschrift für Bildkritik, Band: 1, Nummer: 1, S. 92-116. [Ricœur 1973a]: Ricœur, Paul (1973). Hermeneutik und Strukturalismus. Der Konflikt der Interpretationen 1. München: Koesel. [Sachs-Hombach 1999b]: Sachs-Hombach, Klaus (1999). Fragen der Bildwissenschaft. Über den Studiengang Computervisualistik. form diskurs, Band: 7, Nummer: 2, S. 40-43. [Sachsse 2006a]: Sachsse, Rolf (2006). Geknüpfter und gewebter Krieg. Militärische Motive auf afghanischen Teppichen. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Band: 3, Nummer: 2, Online-Ausgabe. [Sallis 2007a]: Sallis, John (2007). The Hermeneutics of the Artwork. Die Ontologie des Kunstwerks und ihre hermeneutische Bedeutung (GW 1, 87-138). In: Figal, G. (Hg.): Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Berlin: Akademie, S. 29-44. [Schirra 2005a]: Schirra, Jörg R.J. (2005). Foundation of Computational Visualistics. Wiesbaden: DUV. [Sowa & Uhlig 2006a]: Sowa, Hubert & Uhlig, Bettina (2006). Bildhandlungen und ihr Sinn. Methodenfragen einer kunstpädagogischen Bildhermeneutik. In: Marotzki, W. & Niesyto, H. (Hg.): Bildinterpretation und Bildverstehen. Methodische Ansätze aus sozialwissenschaftlicher, kunst- und medienpädagogischer Perspektive. Wiesbaden: VS, S. 77-105. Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [14] und Mark A. Halawa [4] — (Hinweis) |