Bildrezeption als Kommunikationsprozess: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 15. Dezember 2019, 02:03 Uhr
Unterpunkt zu: Bildpragmatik
Ist Bildrezeption ein Fall von Zeichengebrauch?Werden Bilder als Zeichen verwendet, folgt daraus, dass Gegenstände nur dann als Bilder begriffen werden können, wenn sie als Komponenten mit bestimmter Funktion in einer kommunikativen Interaktion zwischen mindestens zwei Individuen betrachtet werden. Diese bipolare Auffassung von der Rezeptionssituation scheint in einem direkten Gegensatz zu stehen zu der in der Kunstgeschichte zum Standard gewordenen Auffassung von der Rezeptionssituation als einer monopolaren – d.h. von einem isolierten Individuum alleine vollzogenen – Handlung vor dem Bildträger. Anders gewendet lautet die Frage: Wie lässt sich die Zeichentheorie des Bildes mit der anscheinend monopolaren Rezeptionssituation begrifflich vereinbaren?
Die “klassische” monopolare Rezeptionssituation, das “aktive” Bild und die AuraThematisieren kunsthistorische Betrachtungen die Rezeptionssituationen der betrachteten Bildwerke, so wird zumindest in deren traditioneller ausgerichteten oder vulgarisierten Ansätzen trotz aller Varianzen der Rezeptionssituationen ein Element nicht aufgegeben, soll es sich denn um eine korrekte Hinwendung zum Werk handeln: Der naive Betrachter, der professionelle Kunstkritiker, der erfahrene Kunsthistoriker, sie alle stehen jeweils alleine in Versenkung vor dem Werk. Es ist das Bild, das sich an den einsam vor ihm stehenden Betrachter zu wenden scheint und ihm darin – plötzlich oder nach und nach, immer aber spontan – sein (des Bildes) Wesen enthüllt. Der ideeierenden Wesensschau der Phänomenologie gleich eröffne nur eine intensive im Wesentlichen aber passiv-geduldige Haltung des Rezipienten den Zugang zur wahren Natur des Werks.[1] Für Marshall McLuhan stellt diese monopolare Rezeptionssituation allerdings lediglich eine historisch bedingte Sicht dar, die aus medientheoretischer Perspektive als typische Auswirkung der sozialen Reaktionen auf das “neue” Medium Buchdruck (“Gutenberg-Galaxis”) zu verstehen sei (vgl. [McLuhan 1962a]). In ihr spiegele sich die Dominanz der “linearen” monoperspektivischen Darstellungen, die seit der Renaissance paradigmatisch für bildliche Darstellungen geworden waren und erst mit dem Übergang zum 20. Jahrhundert wieder Raum für alternative Darstellungsweisen machten. Bereits Walter Benjamin hatte mit seinem Konzept der Aura eine Deskription des bürgerlichen Kunstbegriffs vorgeschlagen, die die monopolar konzipierte Rezeptionssituation als überholtes geschichtliches Konstrukt, wenn nicht gar als ideologisch belastet, ablehnt ([Benjamin 1939a]): Hinter der Zuschreibung einer Aura als einer Eigenschaft des Betrachteten und nicht als einer Haltung des Rezipienten gegenüber seinem Gegenstand versteckt sich nicht nur ein Residuum magischer Bildauffassungen, das einerseits noch auf den sakral-rituellen Ursprung der Bildkompetenz verweisen mag, andererseits als potenzielles Herrschaftswissen tendenziell hermetische Züge trägt; vielmehr werde damit sogar das Potenzial der Bildrezipienten, sich mithilfe dieser Kommunikationsform über bestehende und mögliche Bedingungen ihres Zusammenlebens zu verständigen, verschüttet. In letzter Konsequenz führt die Konzeption der monopolaren Rezeptionssituation zur Auffassung, dass Bilder – genauer sollte es wohl heißen: Bildträger – selbst aktive Handlungsträger seien, die das, was mit ihnen dargestellt wird, erst für den Betrachter (und unabhängig von ihm) erzeugten (⊳ Bildakt-Theorie). Allerdings wird in dieser Projektion einer Handlungsträgerschaft auf den dazu an sich ungeeigneten Bildträger der Konflikt mit dem grundsätzlich bipolaren zeichentheoretischen Bildansatz gemildert, werden nun doch tatsächlich zwei Handlungsträger berücksichtigt, nur dass die Zuschreibung dieses Attributs zumindest für den Bildträger – milde gesagt – ungewöhnlich ist.
Die klassische bipolare Rezeptionssituation des KommunizierensDa Zeichenverwendungen sinnvoller Weise aus Kommunikationshandlungen abgeleitet werden, sind sie jeweils auf zwei zu entsprechend komplexen Handlungen fähigen Aktivitätsträgern aufgeteilt: In Kommunikationstheorien werden sie meist ‘Sender’ und ‘Empfänger’ genannt. Den damit gegebenen dreifachen Bezug eines als Zeichen verwendeten Trägerobjekts zu ‘Sender’, ‘Empfänger’ und ‘Referent’ hat Karl Bühler exemplarisch für Sprache in seinem Organon-Modell mit den Relationen ‘Ausdruck’, ‘Appell’ und ‘Darstellung’ entfaltet ([Bühler 1934a]): Im Zeichengebrauch ist der Zeichenträger das Mittel, eine Verständigung hinsichtlich etwas Repräsentiertem zwischen den beiden beteiligten zeichenhandelnden Subjekten zu erreichen.[2] Die beiden Handlungs“pole” der Zeichenhandlungen bezeichnen dabei ganz allgemein Rollen des zugehörigen Interaktionsschemas.[3] Diese können tatsächlich nicht nur von unterschiedlichen, sondern durchaus auch vom selben Handlungsträger belegt werden. Das ist etwa bei Selbstgesprächen der Fall: Eine Person stellt dann sich selbst gegenüber bestimmte ihr wichtige Sachverhalte dar. Auf diese Weise fokussiert sie ihre Gedanken zu jenem Thema. Demnach könnte auch das einsame Betrachten eines Bildes in scheinbar monopolarer Situation tatsächlich als eine Art pikturalen Selbst“gesprächs” und damit als grundsätzlich bipolar verstanden werden: Jemand zeigt sich selbst mithilfe des Bildträgers, was immer ihm damit zu zeigen wichtig scheint, und fokussiert so seine Gedanken auf diese Aspekte. Eine solche Interpretation ist sicherlich vor allem für die sogenannten “natürlichen” Bilder sinnvoll. Doch wird damit bei anderen (“normalen”) Bildern der Bezug zu deren Produktionssituation weitgehend ausgehebelt. Kann man auf diese Weise überhaupt “von einem Bild überrascht werden”? Das wesentliche Problem liegt hier darin, dass bei Bildern – als sekundäre Medien – in der Regel Produktions- und Rezeptionssituationen zeitlich auseinander fallen. Nicht nur, dass Sender und Empfänger sich normalerweise nicht kennen. Es ist ihnen der temporalen Distanz wegen darüber hinaus meist auch unmöglich, überhaupt je miteinander bekannt zu werden. Daher sind Modifikationen des Kommunikationsbegriffs nötig, der am Kommunizieren in primären Medien mit den dort (wie auch in Tertiärmedien) gegebenen Möglichkeiten kommunikativen Feedbacks ausgerichtet war. Das bipolare Kommunikationsmodell muss für sekundäre Medien schon deshalb erweitert werden, weil dieser Medientypus nur für die besonders komplexe Klasse der bewussten Kommunikation – also der Zeichenhandlungen – verfügbar ist.[4]
Die quadrupolare Rezeptionssituation sekundärer MedienDer Übergang von einfachen kommunikativen Interaktionen, wie etwa Ausdrucksbewegungen und Signalverhalten, zu Zeichenhandlungen wird in der Fachliteratur insbesondere dadurch charakterisiert, dass das Vorführen von Verhaltensweisen, wie es für den Vollzug kommunikativer Handlungen wesentlich ist, verinnerlicht – internalisiert – wird (vgl. [Mead 1968a]). Doch verlassen wir uns hier nicht einfach auf die bequeme räumliche Metapher eines (mentalen) Innenraumes, in dem die kommunikativen Selbstdarstellungen nun stattfinden sollen: Präziser gesagt geht es nämlich darum, dass sie „sich hier aus den kommunikativen Zusammenhängen, in die sie [...] normalerweise eingebettet sind, herauslösen, und zur Fähigkeit einer allein für sich zu vollziehenden leiblichen Selbstvergegenwärtigung entwickeln“ können ([Ros 2005a]: S. 591). Während ein in kommunikativer Absicht vorgeführtes Verhalten unter anderem so modifiziert wird, dass seine körperlichen Aspekte besonders deutlich und für den Empfänger besonders gut erkennbar artikuliert werden, führt die nun betrachtete Reflexivierung des Zeigens eines Verhaltens zu einer Reduktion seiner von außen klar erkennbaren Aspekte: Statt deutlich sichtbarer körperlicher Veränderungen (etwa das bei Wölfen als Geste aus dem Anfangselement einer Beißattacke entwickelte hervorgehobene Fletschen der Zähne[5]) genügt nun eine sehr schwache Aktivierung der entsprechenden Nervenbahnen, eine kaum merkliche Änderung des zugehörigen Muskeltonus.[6] Insbesondere können nun die Aktivitäten des Vorführens des einen Kommunikationspartners und die zugehörigen Reaktionen des anderen Kommunikationspartners aufeinander bezogen werden. Die Rolle des Gegenübers kann nämlich mit der Internalisierung vom Kommunizierenden selbst mit seiner eigenen Rolle in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden. Damit sind Individuen, die in Zeichenhandlungen eintreten können, stets als dyadisch zu verstehen: Jeder Begriff eines Handlungsträgers, der nur konsekutiv als Sender oder Empfänger agiert, und nicht simultan, kann nicht unter diesen Begriff von bewusster Kommunikation fallen. Die beiden Pole des bipolaren Kommunikationsmodells müssen nun selbst als jeweils zweigeteilt verstanden werden, da jeder davon die beiden Rollen von Sender und Empfänger internalisiert ausfüllt (vgl. Abb. 1). Kommunikativ wirksam können nun jeweils drei Interaktionen werden: (i) Die internalisierte Interaktion zwischen dem Selbstmodell des “aktiven” Zeichenhandelnden (Produzent) und seiner Vorstellung vom “passiven” Kommunikationspartner (Rezipient), (ii) die internalisierte Interaktion zwischen der Vorstellung eines Rezipienten vom Sender und dem eigenen Selbstmodell, (iii) die Interaktion zwischen dem Selbstmodell des Produzenten und dessen Partnermodell des Rezipienten. Weiterhin kann die Koordination zwischen den kommunikativen Teilhandlungen (i) und (iii) über das externe Feedback des Rezipienten – seine Reaktionen inklusive Rückfragen – (gestrichelte Linie im Bild) erreicht werden, die zwischen Teilkommunikationen (ii) und (iii) über weitere Zeichenhandlungen des Produzenten an diesen Rezipienten.[7] Bei Kommunikation über sekundäre Medien werden wegen der zeitlichen Separierung der Produktions- und Rezeptionssituationen die kommunikativen Teilhandlungen (i) und (ii) voneinander abgekoppelt, während (iii) in zwei Teile zerfällt, die über den persistenten Zeichenträger nur lose miteinander “harmonisiert” werden können (vgl. Abb. 2).[8]
Die “monologische” Rezeptionssituation des BildgebrauchsFür asynchrone Kommunikation, wie sie gerade bei Bildverwendung sehr häufig auftritt, hat die Meadsche doppelt-bipolare Konzeption entscheidende Konsequenzen. Insbesondere führt sie zu einer dem monopolaren Ansatz diametral entgegengesetzten Fassung einer Rezeptionsästhetik: Wer alleine einen Bildträger als Bild betrachtet, nimmt simultan die Rolle von Sender und Empfänger des Bildzeichens ein – er zeigt es sich selbst in der Rolle eines anderen. Dabei entspricht die Ambiguität der Phrase ‘in der Rolle eines Anderen’ in dem vorigen Satz durchaus den beiden Möglichkeiten: ‘er selbst in der Rolle des (vorgestellten) Senders (und den von ihm dem Sender zugeschriebenen Charakteristika) zeigt sich selbst das Bild’ (Abb. 3 (a)) vs. ‘er zeigt einem anderen, den er sich in der Rolle des Empfänger vorstellt, das Bild’ (Abb. 3 (b)). Diese Dopplung tritt aber nicht nur auf der Rezeptionsseite auf: Auch der Produzent hat bei der Herstellung des Bildes ja stets bestimmte Vorstellungen vom Empfänger, an den er sich richtet. Ganz entsprechend ist schon 1934 für John Dewey der Begriff der ästhetischen Erfahrung prinzipiell in einer zwar möglicherweise zeitlich aufgespalteten, gleichwohl nur im Zusammenhang zu denkenden Situation einer Zeichenhandlung zwischen Produzent und Rezipient zu verstehen (vgl. [Dewey 1934a]). Nach Matthias Vogel unterscheidet Dewey dabei prinzipiell die folgenden vier Aspekte ganz in Analogie zum quadrupolaren Kommunikationsmodell (vgl. [Vogel 2001a]: S. 139): (1) Die ästhetische Erfahrung des Produzenten (P1) umfasst
(2) Die ästhetische Erfahrung des Rezipienten (P2) umfasst
Je nach vorgestellten Kommunikationspartnern ergeben sich so tatsächlich jeweils unterschiedliche Varianten des Kommunikationsprozesses und damit des erreichten Bildverständnisses. Damit öffnen sich der theoretischen Betrachtung Spielräume für Wiederverwendungen und Reinterpretationen von Bildträgern jenseits einer einzigen als historisch korrekt markierten Deutung. Die Rekonstruktion der produktionsseitigen Kommunikationsintentionen im entsprechenden historischen Kontext mit einem angenommenen Selbstmodell des Produzenten und den vermutlich von ihm anvisierten Empfängern bildet eine (wenn auch etwa kunsthistorisch vor allem interessierende) Deutungsmöglichkeit neben vielen weiteren rezeptionsseitig induzierten Interpretationen. Die scheinbar monopolare Verwendungsweise eines Bildes entpuppt sich dabei als pikturales Analogon eines notwendig von Kommunikation abhängigen Monologs. |
Inhaltsverzeichnis
Anmerkungen
[Benjamin 1939a]: Benjamin, Walter (2002). Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: Schöttker, D. (Hg.): Walter Benjamin: Medienästhetische Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 351–383, dritte, autorisierte letzte Fassung, 1939.
[Bühler 1934a]: Bühler, Karl (1965). Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart: Fischer. [Dewey 1934a]: Dewey, John (1934). Art as Experience. New York: Minton, Balch & Company. [Jonas 1961a]: Jonas, Hans (1961). Die Freiheit des Bildens – Homo pictor und die differentia des Menschen. Zeitschrift für Philosophische Forschung, Band: 15, S. 161–176. [McLuhan 1962a]: McLuhan, Marshall (1962). The Gutenberg Galaxy: The Making of Typographic Man. Toronto: University of Toronto Press. [Mead 1968a]: Mead, George Herbert (1968). Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp. [Ros 2005a]: Ros, Arno (2005). Materie und Geist. Eine philosophische Untersuchung. Paderborn: Mentis. [Schirra 1994a]: Schirra, Jörg R.J. (1994). Bildbeschreibung als Verbindung von visuellem und sprachlichem Raum. St. Augustin: DISKI. [Vogel 2001a]: Vogel, Matthias (2001). Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [40] und Emilia Didier [5] — (Hinweis) Zitierhinweis: [Schirra 2013g-g]
Schirra, Jörg R.J. (2013). Bildrezeption als Kommunikationsprozess. (Ausg. 1). In: Schirra, J.R.J.; Halawa, M. & Liebsch, D. (Hg.): Glossar der Bildphilosophie. (2012-2024). |