Bildsemiotik
Unterpunkt zu: Bildtheoretische Ansätze
Semiotik ist die Wissenschaft von den Zeichen. Sie untersucht Zeichenprozesse, d.h. Prozesse der Bedeutungsvermittlung bzw. -konstitution. Der Zentralbegriff der Semiotik ist der des »Zeichens« (von griech. semeion), das – ganz allgemein – als etwas aufgefasst werden kann, das in irgendeiner Hinsicht für etwas anderes steht (vgl. [Peirce CP] 2.228).[1] So unmittelbar einleuchtend das Konzept des Zeichens für viele kommunikative Phänomene ist (etwa im Fall der Sprache als Zeichensystem oder – erst recht – bei sekundären Systemen wie dem Morsealphabet, der Brailleschrift u.ä.), so sehr scheint der Zeichencharakter von Bildern im allgemeinen einer besonderen Klärung zu bedürfen. Bildsemiotische Theorien widmen sich genau dieser Frage. Anders als bei vielen anderen semiotischen Subdisziplinen,[2] bei denen die zeichentheoretischen Fragestellungen auf die traditionellen Objektbereiche von bereits etablierten Einzelwissenschaften appliziert werden, ist der Untersuchungsgegenstand der Bildsemiotik – das (prototypisch: statische) Bild – im allgemeinen nicht auf bestimmte Bildgenres beschränkt und berührt daher eine Vielzahl von Wissenschaften und Alltagsbereichen, die mit Bildern zu tun haben (vgl. [Sonesson 1993a]: S. 319). Im Zentrum bildsemiotischer Theorien stehen die spezifischen Eigenschaften von Bildern als komplexen Zeichen, d.h. deren Bildhaftigkeit (oder Piktoralität). Insofern verhalten sich die Bildsemiotik und Kunstgeschichte, der es im Kern um die Würdigung künstlerischer Einzelbilder geht, ähnlich wie die Disziplinen der Textlinguistik/-semiotik und der Literaturwissenschaft zueinander.
Bildsemiotische TheorienDer Beginn der Bildsemiotik wird gewöhnlich in die Mitte der 1960er Jahre datiert, als der französische Semiotiker und Philosoph Roland Barthes ([Barthes 1964c]) eine Werbeanzeige exemplarisch analysierte und darin ein ganzes Spektrum an grundlegend relevanten bildsemiotischen Fragen (Ikonizität des Bildes, bildliche Rhetorik und Verweisstrategien, Denotation und Konnotation des Bildes, Text-Bild-Relationen) aufwarf. Seine darin vorgeschlagenen Antworten basierten auf den von den Linguisten Ferdinand de Saussure ([Saussure 1916a]) und Louis Hjelmslev ([Hjelmslev 1943a]) geprägten strukturalistischen Grundbegriffen der Semiologie,[3] die zwar grundsätzlich von ihnen als allgemeine, und nicht nur auf Sprache bezogene Zeichentheorie angelegt war, aber erst von Barthes explizit auf eine ganze Reihe nicht-sprachlicher Phänomene angewandt wurde ([Barthes 1961a], [Barthes 1963a], [Barthes 1964c], [Barthes 1967a]). So vorläufig und auch unzureichend[4] Barthes’ theoretische Annahmen in seiner Werbeanalyse «Rhétorique de l'image» ([Barthes 1964c]) zunächst waren, so blieben sie in der Folge nicht selten ein konstruktiver Ausgangspunkt für differenziertere Theorien. Die belgische Forschergruppe Groupe µ richtete im Rahmen ihres rhetorischen Projekts ([Groupe µ 1970a], [Groupe µ 1980a]) ihr Augenmerk auf die Bildrhetorik und legte 1992 einen «Traktat des visuellen Zeichens» vor ([Groupe µ 1992a]), in dem u.a. die rhetorischen Operationen beschrieben werden, die authentische Bilder von einem – angenommenen – Normal-Zustand („degrée zero“) der Repräsentation abweichen lassen. Mit Jean-Marie Floch und Felix Thürlemann gibt es zwei Vertreter der strukturalsemantischen Pariser Schule, die das textsemiotische Modell des Semiotikers Algirdas Julien Greimas ([Greimas 1966a], [Greimas & Courtés 1979a]) auf Bilder übertragen haben (vgl. [Thürlemann 1990a], [Floch 1985a], [Floch 1989a], [Floch 1990a]). Sie gehen davon aus, dass bildliche Bedeutungssysteme semi-symbolische Systeme sind, die sich über innerbildliche Korrelationen von Farb- und Formkontrasten konstituieren (⊳ Bildsyntax). Die bildanalytischen Verfahren lassen sich dabei sowohl auf gegenständliche als auch abstrakte Bilder anwenden. Fernande Saint-Martin ([Saint-Martin 1990a]) entwickelte ein bildgrammatisches Modell auf der Grundlage von Hjelmslevs glossematischem Zeichenmodell ([Hjelmslev 1943a]). Das Bild wird dabei zunächst schematisch segmentiert und in einer syntaktischen Analyse nach topologischen, chromatischen und gestaltpsychologischen Kriterien ausgewertet. Diese im wesentlichen strukturalistisch fundierten Ansätze machen einen Großteil der bildsemiotischen Arbeiten aus. Selbst die frühe Barthes’sche Musteranalyse dient bis heute als produktive Grundlage exemplarischer Analysen (vgl. [Friedrich & Schweppenhäuser 2010a]). Etwa zeitlich parallel zu den Anfängen der strukturalistisch ausgerichteten Bildsemiotik entwickelte der Philosoph Nelson Goodman eine (allerdings nur implizite) Zeichentheorie der Künste ([Goodman 1968a]). Er unterschied Typen von künstlerischen Zeichenkomplexen (gedruckte Literatur, Tanz, Musik, Malerei, Fotografie u.a.) im Hinblick auf ihre Notierbarkeit und stellte für das Bild u.a. die fehlende Disjunktivität der Zeichen fest: Bildliche Zeichenschemata seien syntaktisch und semantisch dicht ([Goodman 1968a]: S. 130ff, 148ff; ⊳ Syntaktische Dichte),[5] eine Zerlegung in kleinere Zeicheneinheiten sei demnach für ein Bild nicht möglich. Goodman beschreibt darüber hinaus mit der Exemplifikation eine bildtypische Art der Bezugnahme. Bei der Exemplifikation verweist das Bild auf ein Etikett, d.h. ein Prädikat, das auf es selbst zutrifft: Es exemplifiziert z.B. eine Farbe, einen Kontrast oder metaphorisch auch eine Stimmung ([Goodman 1968a]: S. 52ff und 253). Diese Art von Zeichenbezug ist unabhängig von der Existenz eines Bildreferenten und trifft auch auf nicht-figurative (abstrakte) Bilder zu. Die Peirce’sche Semiotik, die neben den strukturalistischen Ansätzen die einflussreichste zeichentheoretische Richtung innerhalb der Semiotik ist, ist keineswegs primär auf Sprache ausgerichtet, sondern wesentlich universeller konzipiert und erscheint von daher mit ihren allgemeinen (dreigliedrigen) Grundbegriffen für eine Anwendung auf Bilder als Zeichen prädestiniert. Auch wenn Peirce selbst keine Bildtheorie vorgelegt hat, so ist doch sein Begriffssystem in bildtheoretischen Arbeiten immer wieder genutzt worden (vgl. [Deledalle 1979a], [Schönrich 1990a], [Nöth & Santaella 2000a], [Nöth 2005a], [Nöth 2007a], [Halawa 2008a]). So stützen sich zum Beispiel Nöth und Santaella ([Nöth & Santaella 2000a]) und Nöth ([Nöth 2007a]) bei der Diskussion der Zeichenhaftigkeit von abstrakten Bildern auf Peirce’s Begriff des puren Ikons, das „nichts anderes repräsentieren könne als Formen und Gefühle“ ([Peirce CP] 4.544) und damit ein selbst-referentielles Zeichen sei (vgl. [Nöth 2011a]: S. 304ff).
Methoden und spezifische Fragestellungen der BildsemiotikSchon früh hat sich in der Bildsemiotik gezeigt, dass eine Analogie von sprachlichen und bildlichen Zeichenprozessen nur sehr bedingt besteht und dass es spezifischer Beschreibungsmodelle und Instrumentarien bedarf, um den Zeichencharakter von Bildern angemessen herauszuarbeiten. So ist zum Beispiel die Annahme einer doppelten Artikulation (eine mögliche Zerlegung von Zeichen in bedeutungstragende und bedeutungsunterscheidende Elemente), wie sie für die Sprache typisch ist, für das Bild nicht haltbar. Sinnvoll ist es dagegen, wie Groupe µ ([Groupe µ 1979a]) es vorgeschlagen hat, für Bilder die ikonische von der plastischen Bedeutungsebene zu unterscheiden. Die ikonische Bedeutungsschicht enthält die figurative Lesart des Bildes, d.h. die bildhaft akzentuierte Darstellung dreidimensionaler Szenen oder Gegenstände, während die plastische Bedeutungsschicht das Zeichenpotential des Bildes als flächigen Gegenstand umfasst: sein Format, seine Pigmentierung, seine Textur. Intuitive Segmentierungen von Bildern nach plastischen Kriterien sind zum Beispiel in strukturalsemantischen Arbeiten methodische Ausgangspunkte für die Bildanalyse (vgl. [Sonesson 1993a]: S. 228ff; ⊳ Bildmorphologie). Bildsemiotische Theorien haben sich inzwischen breit entfächert (vgl. [Blanke 1998a] und [Nöth 2011a]: S. 299). Es gibt nicht nur eine Vielzahl von Modellen, sondern auch verschiedene Methoden[6] sowie unterschiedliche Schwerpunktsetzungen. Sonesson ([Sonesson 1993b]) unterscheidet vier methodische Herangehensweisen für die Bildsemiotik:
Eine grundlegende bildsemiotische Frage bleibt die Frage nach der Ikonizität von Bildern, d.h. die Frage nach der Ähnlichkeit von Bildträger und Bildinhalt bzw. Referent als einer bildspezifischen Relation. Peirce, auf den der Begriff des Ikons in seiner semiotischen Verwendung zurückgeht, grenzt das Ikon zeichentypologisch innerhalb einer Trichotomie der Objektrelation (Verhältnis von Zeichenträger und Referent)[7] gegen den Index und das Symbol ab (⊳ Symbol, Index, Ikon). Er versteht unter einem Ikon ein Zeichen, „das auf das bezeichnete Objekt allein auf Grund von ihm eigenen Eigenschaften verweist“ ([Peirce CP] 2.247), wobei es der Universalkategorie der »Erstheit«, einer Kategorie der Unmittelbarkeit angehört.[8] Der Grad, zu dem ein solcher Verweis aufgrund einer Ähnlichkeit von Zeichenträger und Referent zustande kommt, bemisst die Ikonizität des Zeichens. Peirce (CP 2.277) unterscheidet folgerichtig für das Ikon selbst wiederum triadisch
Der Grad der Ikonizität ist in dieser Reihenfolge abnehmend. Schon Gombrich ([Gombrich 1962a]) hatte die Annahme der generellen Ikonizität von Bildern relativiert. Eine radikalere Sicht findet sich sowohl bei Goodman ([Goodman 1968a]) als auch bei Eco ([Eco 1968a], [Eco 1976a]), die die Ikonizität als grundlegende Eigenschaft von Bildern zurückgewiesen und stattdessen den hohen Grad an Konventialität betont haben. Groupe µ entwickelte hingegen ein eigenes triadisches Modell des ikonischen Zeichens ([Groupe µ 1992a]: S. 136, vgl. [Blanke 1998b] und [Blanke 2003a]), in dem zwischen den Bezug von Bildträger („Signifikant“) und Referenten ein Bezug auf einen ikonischen Typ geschoben wird, eine kognitive Invariante. Bildträger und Referent weisen darin insofern Ähnlichkeit auf, als sie beide Merkmale des ikonischen Typs aufweisen (vgl. [Blanke 1998b]: S. 287). Sonesson ([Sonesson 1989a]: S. 220ff), der die Ikonizitätsdebatte ausführlich kommentiert hat, spricht sich ebenfalls für eine Aufrechterhaltung des Konzepts der Ikonizität aus, die er – bildspezifischer – ‘Piktoralität’ nennt. Auch er nimmt jedoch keineswegs eine naive Ähnlichkeitsbeziehung von Bildträger und Referent an, sondern setzt gerade eine grundlegende Verschiedenheit der dominanten lebensweltlichen Hierarchien für Bildträger und Referent voraus, damit das Bild überhaupt als Zeichen für den Referenten gelten kann ([Sonesson 1989a]: S. 249). Neben der Ikonizität von Bildern ist auch die Indexikalität von Fotografien im Rückgriff auf Peirce diskutiert worden (vgl. [Nöth 2000b]: S. 497). Ein Index ist nach Peirce ein Zeichen, das aufgrund einer Kausalitäts- bzw. Kontiguitätsbeziehung auf den Referenten („object“) verweist (vgl. [Peirce CP] 2.248). Für die Fotografie ist durch den physikalischen Prozess der Belichtung generell eine Indexikalität anzunehmen. Jedoch können auch in der Fotografie andere bildliche Zeichenprozesse diesen Referenzbezug dominieren. Umgekehrt können indexikalische Prozesse innerhalb der Bildkomposition zu indexikalischen Bedeutungstransfers führen, ein Phänomen, das Nöth ([Nöth 1975a]: S. 29ff, [Nöth 2011a]: S. 312f) beschrieben hat und das nicht nur für (inszenierte) Fotografien gilt. Eine weitere bildsemiotische Schwerpunktsetzung liegt bei der Analyse von Bildern im Zusammenspiel mit Zeichenträgern anderer Modalitäten, z.B. Sprache und Ton. Schon Barthes ([Barthes 1964c]) thematisierte das Verhältnis von Bild und Text, doch vor allem die sozialsemiotischen Arbeiten von Kress & van Leeuwen ([Kress & Leeuwen 1996a], [Kress & Leeuwen 2001a]) haben der Frage nach Multimodalität einen fundierten theoretischen Rahmen gegeben, der auch den umfangreichen Arbeiten von Stöckl ([Stöckl 2004a], [Stöckl 2004c], [Stöckl 2010a]) zu diesem Thema zugrunde liegt (⊳ Sprach-Bild-Bezüge).
Abgrenzung zu anderen BildtheorienAnders als andere Bildtheorien haben wir es bei der Bildsemiotik mit einem wissenschaftssoziologisch ausgesprochen heterogenen Forschungsbereich zu tun, der zudem weder begrifflich, noch methodisch einheitlich ist. Das liegt unter anderem daran, dass die Semiotik inter- bzw. transdisziplinär angelegt ist, wodurch völlig verschiedenartige Forschungshintergründe und Diskurse aufeinandertreffen. Geeint werden bildsemiotische Ansätze jedoch durch die Grundannahme, dass Bilder (komplexe) Zeichen sind und dass es die Aufgabe der Bildsemiotik bleibt zu zeigen, wie sich bildliche Bedeutung von anderen Bedeutungskonstitutionen unterscheiden. Methodisch bleiben die Wege dabei verschieden und sollen es auch. Phänomenologische Bildtheorien grenzen sich zum Teil entschieden und explizit gegen die semiotischen ab (vgl. [Böhme 1999a]: S. 10, [Wiesing 1998a]), wobei deren Annahmen über bildsemiotische Theorien dabei oft zu kurz greifen (vgl. [Nöth 2005a]: S. 33-35). Die Bildsemiotik ist heute Bestandteil einer allgemeinen transdisziplinären Bildwissenschaft, die sich jenseits einer Fixierung auf Bildkommunikation oder auf Kunst (vgl. [Posner 2003a]: S. 18) bewegt, und stattdessen mediale und wahrnehmungstheoretische Aspekte angemessen berücksichtigt (vgl. [Sachs-Hombach 2003a]: S. 11). Siehe auch:
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Anmerkungen
[Barthes 1961a]:
Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Barthes 1963a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Barthes 1964a]: Barthes, Roland (1990). Rhetorik des Bildes (1964). In: Barthes, Roland (Hg.): Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. ???, aus dem Französischen von Hornig, Dieter. [Barthes 1964c]: Ausgabe 1: 2014 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [46] — (Hinweis) |