Chinesische Kalligraphie: Unterschied zwischen den Versionen
K |
K (Seitenzahlen ergänzt) |
||
Zeile 11: | Zeile 11: | ||
<!--Ab hier: eigentlicher Inhalt--> | <!--Ab hier: eigentlicher Inhalt--> | ||
− | Auf der Basis der chinesischen Schrift­zeichen ent­wickelte sich Schrift zu einer hohen Kunst des persön­lichen Ausdrucks. Die Schrift­typen, die charak­teris­tische graphi­sche Form und die Struktur der chine­sischen Schrift­zeichen haben diese Entwick­lung der Kalli­graphie erst ermög­licht (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>). | + | Auf der Basis der chinesischen Schrift­zeichen ent­wickelte sich Schrift zu einer hohen Kunst des persön­lichen Ausdrucks. Die Schrift­typen, die charak­teris­tische graphi­sche Form und die Struktur der chine­sischen Schrift­zeichen haben diese Entwick­lung der Kalli­graphie erst ermög­licht (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>, S. 1). |
Zeile 21: | Zeile 21: | ||
[[Datei:BilleterNormalschriftZhaoMengfu2.jpg|thumb|Ab­bil­dung 4: Die Nor­mal- oder Stan­dard­schrift 楷書 kăi​shū]] | [[Datei:BilleterNormalschriftZhaoMengfu2.jpg|thumb|Ab­bil­dung 4: Die Nor­mal- oder Stan­dard­schrift 楷書 kăi​shū]] | ||
[[Datei:Wang_Xizhi.jpg|thumb|Abbildung 5: «Vor­wort zum Tref­fen bei der Or­chi­de­en-​Pa­go­de» von Wang Xizhi 王羲之]] | [[Datei:Wang_Xizhi.jpg|thumb|Abbildung 5: «Vor­wort zum Tref­fen bei der Or­chi­de­en-​Pa­go­de» von Wang Xizhi 王羲之]] | ||
− | Die vier Haupt­schrift­ar­ten ent­wi­ckel­ten sich auf­ein­an­der fol­gend (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>). Die ers­ten be­kann­ten Schrift­zei­chen sind In­schrif­ten auf Ora­kel­kno­chen (''jiǎgǔwén'' 甲骨文 ‘Ora­kel­kno­chen­schrift’, vgl. Abb. 1) der Shang 商-​Dy­nas­tie (ca.16.-​11. Jh. v. Chr.), so­wie auf Bron­ze­ge­fä­ßen (''jīnwén'' 金文 ‘Bron­ze­schrift’) der Shang und Zhou 周 (ca. 1045-​221 v. Chr.; <bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>). In die­ser frü­hen Pha­se exis­tier­te von den meis­ten Schrift­zei­chen ei­ne Viel­zahl an Schreib­wei­sen. Zur Zeit der Reichs­ei­ni­gung Chi­nas in der Qin 秦-​Dy­nas­tie (221-​207 v. Chr.) wur­de durch die Ein­füh­rung der klei­nen Sie­gel­schrift (''xiǎozhuàn'' 小篆; vgl. Abb. 2) ein ein­heit­li­ches Schrift­sys­tem kon­sti­tu­iert; etwa im 1. Jh. n. Chr. lös­te die an Strich­for­men re­du­zier­te, schneller schreibbare Kanz­lei­schrift (''lìshū'' 隸書; vgl. Abb. 3) die­se als Ge­brauchs­schrift ab. Da­mit und mit der Ein­füh­rung des Pin­sels und dem Pa­pier war der Weg für die Schrift­kunst ge­bahnt (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>). Mit den Kur­siv­schrif­ten des 4. Jh., der halb­kur­si­ven Schreib- bzw. Ak­ti­ons­schrift (''xíngshū'' 行書) und der Gras­schrift (''cǎoshū'' 草書), ka­men wei­te­re, schnel­le­re Schrift­for­men hin­zu, die In­di­vi­du­a­li­tät und künst­le­ri­schen Aus­druck för­der­ten (<bib id='Tseng 1993a'>Tseng 1993a</bib>). Mit der Stan­dar­di­sie­rung der Kanz­lei­schrift zur Nor­mal- oder Mo­dell­schrift (''kǎishū'' 楷書; vgl. Abb. 4) war die Ent­wick­lung der Ty­pen vor­läu­fig (bis zum 20. Jh.) ab­ge­schlos­sen.<ref> Ei­ne Über­sicht über Ur­sprung und Ent­wick­lung der chi­ne­si­schen Schrift, die Form und in­ne­re Struk­tur der Schrift­zei­chen und die He­raus­bil­dung der Schrift­ar­ten gibt <bib id='Qiu 2000a'>Qiu 2000a</bib>. </ref> Seit der Tang 唐–​Dy­nas­tie (618-​907) ist sie die Stan­dard­schrift in Chi­na. In der Fol­ge bil­de­ten sich aus den be­ste­hen­den Ty­pen eine Viel­zahl an Schul- und In­di­vi­du­al­sti­len he­raus (<bib id='Ledderose 2003a'>Led­de­ro­se 2003a</bib>). | + | Die vier Haupt­schrift­ar­ten ent­wi­ckel­ten sich auf­ein­an­der fol­gend (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>). Die ers­ten be­kann­ten Schrift­zei­chen sind In­schrif­ten auf Ora­kel­kno­chen (''jiǎgǔwén'' 甲骨文 ‘Ora­kel­kno­chen­schrift’, vgl. Abb. 1) der Shang 商-​Dy­nas­tie (ca.16.-​11. Jh. v. Chr.), so­wie auf Bron­ze­ge­fä­ßen (''jīnwén'' 金文 ‘Bron­ze­schrift’) der Shang und Zhou 周 (ca. 1045-​221 v. Chr.; <bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 12-17). In die­ser frü­hen Pha­se exis­tier­te von den meis­ten Schrift­zei­chen ei­ne Viel­zahl an Schreib­wei­sen. Zur Zeit der Reichs­ei­ni­gung Chi­nas in der Qin 秦-​Dy­nas­tie (221-​207 v. Chr.) wur­de durch die Ein­füh­rung der klei­nen Sie­gel­schrift (''xiǎozhuàn'' 小篆; vgl. Abb. 2) ein ein­heit­li­ches Schrift­sys­tem kon­sti­tu­iert; etwa im 1. Jh. n. Chr. lös­te die an Strich­for­men re­du­zier­te, schneller schreibbare Kanz­lei­schrift (''lìshū'' 隸書; vgl. Abb. 3) die­se als Ge­brauchs­schrift ab. Da­mit und mit der Ein­füh­rung des Pin­sels und dem Pa­pier war der Weg für die Schrift­kunst ge­bahnt (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 26, S. 35). Mit den Kur­siv­schrif­ten des 4. Jh., der halb­kur­si­ven Schreib- bzw. Ak­ti­ons­schrift (''xíngshū'' 行書) und der Gras­schrift (''cǎoshū'' 草書), ka­men wei­te­re, schnel­le­re Schrift­for­men hin­zu, die In­di­vi­du­a­li­tät und künst­le­ri­schen Aus­druck för­der­ten (<bib id='Tseng 1993a'>Tseng 1993a</bib>, S. 287). Mit der Stan­dar­di­sie­rung der Kanz­lei­schrift zur Nor­mal- oder Mo­dell­schrift (''kǎishū'' 楷書; vgl. Abb. 4) war die Ent­wick­lung der Ty­pen vor­läu­fig (bis zum 20. Jh.) ab­ge­schlos­sen.<ref> Ei­ne Über­sicht über Ur­sprung und Ent­wick­lung der chi­ne­si­schen Schrift, die Form und in­ne­re Struk­tur der Schrift­zei­chen und die He­raus­bil­dung der Schrift­ar­ten gibt <bib id='Qiu 2000a'>Qiu 2000a</bib>. </ref> Seit der Tang 唐–​Dy­nas­tie (618-​907) ist sie die Stan­dard­schrift in Chi­na. In der Fol­ge bil­de­ten sich aus den be­ste­hen­den Ty­pen eine Viel­zahl an Schul- und In­di­vi­du­al­sti­len he­raus (<bib id='Ledderose 2003a'>Led­de­ro­se 2003a</bib>). |
: | : | ||
Zur Zeit der sechs Dynastien (Liù Cháo 六朝 3.-6.Jh.) entwickelte sich die Schrift zu einer von der Schicht der Literaten-Beamten<ref> Die Literaten-Beamten bildeten jene dünne Oberschicht und Elite, die sich sukzessive seit den ersten Jahrhunderten n.Chr. herausgebildet hatte und die Träger der staatlichen Macht und der kulturellen Überlieferung war. Ihren Mitgliedern ermöglichte sie eine literarische Ausbildung, welche die Vertrautheit mit klassischen kanonischen Texten, die Befähigung, selbst Gedichte und Prosa zu verfassen, und die Beherrschung der Kalligraphie umfasste. Die Ausbildung wurde in staatlichen Examina geprüft; diese stellten den normalen Zugang zu einer Beamtenkarriere dar und waren somit der Schlüssel zu einer gehobenen Stellung und politischem Einfluss. (<bib id='Ledderose 2003a'></bib>).</ref> gepflegten Kunstform und löste sich infolgedessen aus der handwerklichen Anonymität. Man begann Schriftkunstwerke aufgrund ihres ästhetischen Wertes zu schätzen. Technische Meisterschaft sowie die in der Schrift zum Ausdruck kommende Persönlichkeit und kunsthistorische Bildung des Schreibers wurden zu Bewertungskriterien der ästhetischen Qualität von Schrift(kunstwerken). Zwar musste eine gute Schrift Individualität besitzen, jedoch musste sie zudem erkennen lassen, dass ihr Schreiber die Geschichte der Schriftkunst theoretisch wie auch praktisch beherrschte; dem Schreiber und dem Betrachter waren die stilistischen Zitate und Schichten eines Schriftkunstwerkes bewusst. Seit der Zeit der sechs Dynastien gibt es Schriftsammlungen und eine theoretische Literatur zur Schriftkunst, deren ästhetische Terminologie weitgehend der Poetik entlehnt ist und die ihrerseits auf die ca. 500 v. Chr. entstehende Maltheorie einwirkte. Wang Xizhi 王羲之 (303-361) ist der berühmteste Kalligraph dieser Zeit und der gesamten Kalligraphiegeschichte überhaupt (<bib id='Ledderose 2003a'>Ledderose 2003</bib>; vgl. Abb. 5). | Zur Zeit der sechs Dynastien (Liù Cháo 六朝 3.-6.Jh.) entwickelte sich die Schrift zu einer von der Schicht der Literaten-Beamten<ref> Die Literaten-Beamten bildeten jene dünne Oberschicht und Elite, die sich sukzessive seit den ersten Jahrhunderten n.Chr. herausgebildet hatte und die Träger der staatlichen Macht und der kulturellen Überlieferung war. Ihren Mitgliedern ermöglichte sie eine literarische Ausbildung, welche die Vertrautheit mit klassischen kanonischen Texten, die Befähigung, selbst Gedichte und Prosa zu verfassen, und die Beherrschung der Kalligraphie umfasste. Die Ausbildung wurde in staatlichen Examina geprüft; diese stellten den normalen Zugang zu einer Beamtenkarriere dar und waren somit der Schlüssel zu einer gehobenen Stellung und politischem Einfluss. (<bib id='Ledderose 2003a'></bib>).</ref> gepflegten Kunstform und löste sich infolgedessen aus der handwerklichen Anonymität. Man begann Schriftkunstwerke aufgrund ihres ästhetischen Wertes zu schätzen. Technische Meisterschaft sowie die in der Schrift zum Ausdruck kommende Persönlichkeit und kunsthistorische Bildung des Schreibers wurden zu Bewertungskriterien der ästhetischen Qualität von Schrift(kunstwerken). Zwar musste eine gute Schrift Individualität besitzen, jedoch musste sie zudem erkennen lassen, dass ihr Schreiber die Geschichte der Schriftkunst theoretisch wie auch praktisch beherrschte; dem Schreiber und dem Betrachter waren die stilistischen Zitate und Schichten eines Schriftkunstwerkes bewusst. Seit der Zeit der sechs Dynastien gibt es Schriftsammlungen und eine theoretische Literatur zur Schriftkunst, deren ästhetische Terminologie weitgehend der Poetik entlehnt ist und die ihrerseits auf die ca. 500 v. Chr. entstehende Maltheorie einwirkte. Wang Xizhi 王羲之 (303-361) ist der berühmteste Kalligraph dieser Zeit und der gesamten Kalligraphiegeschichte überhaupt (<bib id='Ledderose 2003a'>Ledderose 2003</bib>; vgl. Abb. 5). | ||
Zeile 28: | Zeile 28: | ||
==Engere Begriffs­bestim­mung== | ==Engere Begriffs­bestim­mung== | ||
− | Die ästhetische Dimension der chinesischen Kalligraphie gründet auf den chinesischen Schriftzeichen (''hànzi'' 漢字). Durch sie wird die [[Komposition]], d.h. Striche, Abstände und die Richtung des Schreibens und Lesens festgelegt; ihre innere Struktur wird durch die darin vorkommenden Striche bestimmt.<ref> Zu den verschiedenen Strichformen in der Kalligraphie und der Komposition der Schriftzeichen vgl. <bib id= 'Chiang 1973a'>Chiang 1973a</bib>, S. 150-188. </ref> Es gibt acht grundlegende Striche: Punkt (''diǎn'' 點), horizontal (''héng'' 橫), vertikal (''shù'' 豎), abgesetzt und gekrümmt (''zhé'' 折), Haken (''goū'' 鈎), links hinunter (''piě'' 撇), rechts hinauf (''tí'' 提) und rechts hinunter (''nà'' 捺). Die Striche werden in einer festgelegten Reihenfolge geschrieben, wobei jedes Schriftzeichen unabhängig vom Komplexitätsgrad den gleichen Raum eines imaginären Quadrats einnimmt (<bib id='Alleton 2003a'>Alleton 2003a</bib>, <bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>). Der Schreiber muss die gegebene graphische Form der Schriftart akzeptieren, in der er das Schriftkunstwerk zu verfassen gedenkt, auch ist der umzusetzende Text nicht immer sein eigener; sein Beitrag liegt vielmehr in der Nuancierung des Stils, die er in die Schrift einbringt. Durch die Grenzen, die der Kalligraphie mittels der gegebenen Schrifttypen gesetzt sind, ist jede Variation identifizierbar und einem bestimmten Kalligraphen zuzuordnen (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>). Das Erlernen der Kalligraphie erfordert Jahre gewissenhafter und steter Übung, wozu zunächst Schriftvorlagen alter Meister kopiert werden. Erst wenn der Schreiber die verschiedenen Stile durchdrungen hat, ist er in der Lage einen eigenen Stil zu entwickeln. Von alters her haben die Meister ihre Schüler dazu angeregt, dafür zusätzlich Inspiration in der Natur zu suchen (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>, <bib id='Kwo 1981a'>Kwo 1981a</bib>) Ein zentrales ästhetisches Problem der Kalligraphie besteht darin, entgegen der durch stete Übung bedingten Rationalisierung spontaner Effekte eine ursprüngliche Spontaneität zu erhalten bzw. wiederzugewinnen (<bib id='Ledderose 2003a'>Ledderose 2003a</bib>). | + | Die ästhetische Dimension der chinesischen Kalligraphie gründet auf den chinesischen Schriftzeichen (''hànzi'' 漢字). Durch sie wird die [[Komposition]], d.h. Striche, Abstände und die Richtung des Schreibens und Lesens festgelegt; ihre innere Struktur wird durch die darin vorkommenden Striche bestimmt.<ref> Zu den verschiedenen Strichformen in der Kalligraphie und der Komposition der Schriftzeichen vgl. <bib id= 'Chiang 1973a'>Chiang 1973a</bib>, S. 150-188. </ref> Es gibt acht grundlegende Striche: Punkt (''diǎn'' 點), horizontal (''héng'' 橫), vertikal (''shù'' 豎), abgesetzt und gekrümmt (''zhé'' 折), Haken (''goū'' 鈎), links hinunter (''piě'' 撇), rechts hinauf (''tí'' 提) und rechts hinunter (''nà'' 捺). Die Striche werden in einer festgelegten Reihenfolge geschrieben, wobei jedes Schriftzeichen unabhängig vom Komplexitätsgrad den gleichen Raum eines imaginären Quadrats einnimmt (<bib id='Alleton 2003a'>Alleton 2003a</bib>, S. 46f., <bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>, S. 26). Der Schreiber muss die gegebene graphische Form der Schriftart akzeptieren, in der er das Schriftkunstwerk zu verfassen gedenkt, auch ist der umzusetzende Text nicht immer sein eigener; sein Beitrag liegt vielmehr in der Nuancierung des Stils, die er in die Schrift einbringt. Durch die Grenzen, die der Kalligraphie mittels der gegebenen Schrifttypen gesetzt sind, ist jede Variation identifizierbar und einem bestimmten Kalligraphen zuzuordnen (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>). Das Erlernen der Kalligraphie erfordert Jahre gewissenhafter und steter Übung, wozu zunächst Schriftvorlagen alter Meister kopiert werden. Erst wenn der Schreiber die verschiedenen Stile durchdrungen hat, ist er in der Lage, einen eigenen Stil zu entwickeln. Von alters her haben die Meister ihre Schüler dazu angeregt, dafür zusätzlich Inspiration in der Natur zu suchen (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>, <bib id='Kwo 1981a'>Kwo 1981a</bib>, S. 57-58). Ein zentrales ästhetisches Problem der Kalligraphie besteht darin, entgegen der durch stete Übung bedingten Rationalisierung spontaner Effekte eine ursprüngliche Spontaneität zu erhalten bzw. wiederzugewinnen (<bib id='Ledderose 2003a'>Ledderose 2003a</bib>). |
: | : | ||
[[Datei:Huai Su.jpg|thumb|Abbildung 6: «Selbstdarstellung» in Wilder Grasschrift 狂草 kuáng căo von Huai Su (Detail), Tang-Dynastie (618-907)]] | [[Datei:Huai Su.jpg|thumb|Abbildung 6: «Selbstdarstellung» in Wilder Grasschrift 狂草 kuáng căo von Huai Su (Detail), Tang-Dynastie (618-907)]] | ||
Zeile 36: | Zeile 36: | ||
Der Ästhetik der Kalligraphie liegt die Vorstellung zugrunde, dass der individuelle Pinselzug ein unmittelbarer, sichtbar gewordener „Abdruck“ der Persönlichkeit ist (<bib id='Ledderose 1985a'>Ledderose 1985a</bib>). Da Kalligraphie somit gewissermaßen in einem graphologischen Sinne als Ausdruck des Charakters verstanden wird, gibt es keine scharfe Trennlinie zwischen rein ästhetischen und etwa moralisch-politischen Wertkategorien. Das bedeutet, dass eine Schrift aufgrund der in ihr zum Ausdruck kommenden moralischen Qualitäten des Schreibenden an ästhetischem Wert gewinnen kann (<bib id='Ledderose 2003a'>Ledderose 2003a</bib>). Kalligraphie erhält damit eine ethische Dimension: Wer schön schreiben will, muss vordringlich nach innerer Schönheit streben (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>). Die Überzeugung, dass der Mensch durch die Disziplin der Kunst geformt werden, dass Ästhetik somit im Dienste der Ethik nutzbar gemacht werden kann, führte zu einer Vervielfältigung von Regeln, Methoden und Gesetzen der Kalligraphie (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>). Mit der Vorstellung, dass jedes Schriftzeichen die inneren Regungen des Schreibers offenbare, ist Kalligraphie zudem eine einzigartige Direktheit bzw. Prägnanz zu eigen (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>): ''yī zì jiàn xīn'' 一字見心 („in einem Zeichen sieht man schon das Herz“) (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>). Ein druckschriftlicher Text benötigt demgegenüber eine Anzahl von Wörtern, um etwas auszudrücken. Kalligraphie vermag damit direkt zu erreichen, was einem [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichensystem]] nur indirekt gelingen kann (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>; auch ⊳ [[Text als Bild, konkrete Poesie]]). | Der Ästhetik der Kalligraphie liegt die Vorstellung zugrunde, dass der individuelle Pinselzug ein unmittelbarer, sichtbar gewordener „Abdruck“ der Persönlichkeit ist (<bib id='Ledderose 1985a'>Ledderose 1985a</bib>). Da Kalligraphie somit gewissermaßen in einem graphologischen Sinne als Ausdruck des Charakters verstanden wird, gibt es keine scharfe Trennlinie zwischen rein ästhetischen und etwa moralisch-politischen Wertkategorien. Das bedeutet, dass eine Schrift aufgrund der in ihr zum Ausdruck kommenden moralischen Qualitäten des Schreibenden an ästhetischem Wert gewinnen kann (<bib id='Ledderose 2003a'>Ledderose 2003a</bib>). Kalligraphie erhält damit eine ethische Dimension: Wer schön schreiben will, muss vordringlich nach innerer Schönheit streben (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>). Die Überzeugung, dass der Mensch durch die Disziplin der Kunst geformt werden, dass Ästhetik somit im Dienste der Ethik nutzbar gemacht werden kann, führte zu einer Vervielfältigung von Regeln, Methoden und Gesetzen der Kalligraphie (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>). Mit der Vorstellung, dass jedes Schriftzeichen die inneren Regungen des Schreibers offenbare, ist Kalligraphie zudem eine einzigartige Direktheit bzw. Prägnanz zu eigen (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>): ''yī zì jiàn xīn'' 一字見心 („in einem Zeichen sieht man schon das Herz“) (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>). Ein druckschriftlicher Text benötigt demgegenüber eine Anzahl von Wörtern, um etwas auszudrücken. Kalligraphie vermag damit direkt zu erreichen, was einem [[Zeichen, Zeichenträger, Zeichensystem|Zeichensystem]] nur indirekt gelingen kann (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>; auch ⊳ [[Text als Bild, konkrete Poesie]]). | ||
: | : | ||
− | Eine gute Kalligraphie ist eine ausgewogenen Komposition ihrer integralen Bestandteile, die einzelnen Striche und Punkte, müssen ein harmonisches Ganzes bilden (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>). Lebendigkeit, Energie, Spannung und Rhythmus sind hierbei ausschlaggebende Charakteristika (<bib id= 'Chen 2009a'>Chen 2009</bib>). Da ein ausgeführter Strich nicht mehr korrigiert werden kann, steht vor der Ausführung ein Konzept der Komposition, ''yì zài bǐ qián'' 議在筆前 (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>). Hierzu zählt auch die richtige Platzierung der Leeräume zwischen den konstitutiven Elementen des Bildes ( <bib id='Kwo 1981a'>Kwo 1981a</bib>). „Leere und Fülle“ sollen dabei ein organisches Ganzes bilden (<bib id= 'Chen 2009a'>Chen 2009</bib>). Des Weiteren muss die richtige Technik angewandt werden. Neben der Kontrolle des Pinsels ist ein angemessener Tuscheauftrag erforderlich (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>). Fundamentales und konstituierendes Element eines Zeichens ist die Linie. Eine gute Linie muss Kraft (lì 力) enthalten, d.h. sie muss eine gewisse Stärke und Festigkeit widerspiegeln. Einer kraftvollen Linie ist zudem ''Qi'' (''qì'' 氣) zueigen. ''Qi'' ist hier als innere Dynamik zu begreifen, welche die Linien und Punkte umgibt, sie alle als eine Einheit zusammenfasst (<bib id='Kwo 1981a'>Kwo 1981a</bib>) und somit die direkt sichtbare Schönheit der äußeren Form bestimmt. Die innere Schönheit, die passende Zusammenstellung der Striche, Punkte, Zeichen und Zeilen, ein wohlproportioniertes Arrangement, wird als ‘Yun’ (''yùn'' 韵) bezeichnet. Die Schönheit in der Kalligraphie, ihr ''ästhetischer Gehalt'' ist ''Qiyun'' 氣韵, die Verbindung von ''Qi'' und ''Yun'' (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>). | + | Eine gute Kalligraphie ist eine ausgewogenen Komposition ihrer integralen Bestandteile, die einzelnen Striche und Punkte, müssen ein harmonisches Ganzes bilden (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 197-199). Lebendigkeit, Energie, Spannung und Rhythmus sind hierbei ausschlaggebende Charakteristika (<bib id= 'Chen 2009a'>Chen 2009</bib>, <bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 200). Da ein ausgeführter Strich nicht mehr korrigiert werden kann, steht vor der Ausführung ein Konzept der Komposition, ''yì zài bǐ qián'' 議在筆前 (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 222). Hierzu zählt auch die richtige Platzierung der Leeräume zwischen den konstitutiven Elementen des Bildes ( <bib id='Kwo 1981a'>Kwo 1981a</bib>, S. 66). „Leere und Fülle“ sollen dabei ein organisches Ganzes bilden (<bib id= 'Chen 2009a'>Chen 2009</bib>). Des Weiteren muss die richtige Technik angewandt werden. Neben der Kontrolle des Pinsels ist ein angemessener Tuscheauftrag erforderlich (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 201). Fundamentales und konstituierendes Element eines Zeichens ist die Linie. Eine gute Linie muss Kraft (lì 力) enthalten, d.h. sie muss eine gewisse Stärke und Festigkeit widerspiegeln. Einer kraftvollen Linie ist zudem ''Qi'' (''qì'' 氣) zueigen. ''Qi'' ist hier als innere Dynamik zu begreifen, welche die Linien und Punkte umgibt, sie alle als eine Einheit zusammenfasst (<bib id='Kwo 1981a'>Kwo 1981a</bib>, S. 64f) und somit die direkt sichtbare Schönheit der äußeren Form bestimmt. Die innere Schönheit, die passende Zusammenstellung der Striche, Punkte, Zeichen und Zeilen, ein wohlproportioniertes Arrangement, wird als ‘Yun’ (''yùn'' 韵) bezeichnet. Die Schönheit in der Kalligraphie, ihr ''ästhetischer Gehalt'' ist ''Qiyun'' 氣韵, die Verbindung von ''Qi'' und ''Yun'' (<bib id='Chen 2009a'>Chen 2009a</bib>, <bib id='Kwo 1981a'>Kwo 1981a</bib>, S. 74-75). |
Version vom 7. Dezember 2014, 15:06 Uhr
Unterpunkt zu: Schriftbildlichkeit
Auf der Basis der chinesischen Schriftzeichen entwickelte sich Schrift zu einer hohen Kunst des persönlichen Ausdrucks. Die Schrifttypen, die charakteristische graphische Form und die Struktur der chinesischen Schriftzeichen haben diese Entwicklung der Kalligraphie erst ermöglicht ([Chen 2009a]Literaturangabe fehlt.
Die Schrift – Entwicklung der SchrifttypenDie vier Hauptschriftarten entwickelten sich aufeinander folgend ([Heng 2003a]Literaturangabe fehlt. Zur Zeit der sechs Dynastien (Liù Cháo 六朝 3.-6.Jh.) entwickelte sich die Schrift zu einer von der Schicht der Literaten-Beamten[2] gepflegten Kunstform und löste sich infolgedessen aus der handwerklichen Anonymität. Man begann Schriftkunstwerke aufgrund ihres ästhetischen Wertes zu schätzen. Technische Meisterschaft sowie die in der Schrift zum Ausdruck kommende Persönlichkeit und kunsthistorische Bildung des Schreibers wurden zu Bewertungskriterien der ästhetischen Qualität von Schrift(kunstwerken). Zwar musste eine gute Schrift Individualität besitzen, jedoch musste sie zudem erkennen lassen, dass ihr Schreiber die Geschichte der Schriftkunst theoretisch wie auch praktisch beherrschte; dem Schreiber und dem Betrachter waren die stilistischen Zitate und Schichten eines Schriftkunstwerkes bewusst. Seit der Zeit der sechs Dynastien gibt es Schriftsammlungen und eine theoretische Literatur zur Schriftkunst, deren ästhetische Terminologie weitgehend der Poetik entlehnt ist und die ihrerseits auf die ca. 500 v. Chr. entstehende Maltheorie einwirkte. Wang Xizhi 王羲之 (303-361) ist der berühmteste Kalligraph dieser Zeit und der gesamten Kalligraphiegeschichte überhaupt ([Ledderose 2003]Literaturangabe fehlt.
Engere BegriffsbestimmungDie ästhetische Dimension der chinesischen Kalligraphie gründet auf den chinesischen Schriftzeichen (hànzi 漢字). Durch sie wird die Komposition, d.h. Striche, Abstände und die Richtung des Schreibens und Lesens festgelegt; ihre innere Struktur wird durch die darin vorkommenden Striche bestimmt.[3] Es gibt acht grundlegende Striche: Punkt (diǎn 點), horizontal (héng 橫), vertikal (shù 豎), abgesetzt und gekrümmt (zhé 折), Haken (goū 鈎), links hinunter (piě 撇), rechts hinauf (tí 提) und rechts hinunter (nà 捺). Die Striche werden in einer festgelegten Reihenfolge geschrieben, wobei jedes Schriftzeichen unabhängig vom Komplexitätsgrad den gleichen Raum eines imaginären Quadrats einnimmt ([Alleton 2003a]Literaturangabe fehlt. Die Grasschrift, insbesondere die Wilde Grasschrift (kuángcǎo 狂草), ist der freieste Schrifttyp, die Gesetze und Regeln der übrigen Stile schränken sie nicht ein; die Striche der einzelnen Schriftzeichen sind durchgehend miteinander verbunden ([Chen 2009a]Literaturangabe fehlt. Der Ästhetik der Kalligraphie liegt die Vorstellung zugrunde, dass der individuelle Pinselzug ein unmittelbarer, sichtbar gewordener „Abdruck“ der Persönlichkeit ist ([Ledderose 1985a]Literaturangabe fehlt. Eine gute Kalligraphie ist eine ausgewogenen Komposition ihrer integralen Bestandteile, die einzelnen Striche und Punkte, müssen ein harmonisches Ganzes bilden ([Ch’en 1966a]Literaturangabe fehlt.
Der Einfluss der Kalligraphie auf die MalereiIn dem Bestreben, sich von der professionellen, handwerklichen Malerei, die sich im allgemeinen durch starke Farbigkeit und eine sehr realistische Darstellung auszeichnete, zu distanzieren, setzten die Literaten auf eine Malerei, die sich nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch an der Kalligraphie orientierte. Die bildnerischen Mittel, insbesondere der Pinselstrich, gewannen dadurch an Selbständigkeit und gestalterischem Eigenleben; die Darstellung wurde dem gewählten Pinselduktus angepasst. Diese Tendenz setzte sich in der Yuan 元-Zeit (1271-1368) allgemein durch - womit die Malerei von ihrer reinen Abbildfunktion und der unbedingten Forderung nach der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit befreit wurde. Wie schon die Kalligraphie wandelte sich das Bild damit zur „gestalteten Manifestation der Künstlerpersönlichkeit“ [Ledderose 2003a]Literaturangabe fehlt. |
Anmerkungen
[Alleton 2003a]:
Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Chen 2009a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Chiang 1973a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Ch’en 1966a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Heng 2003a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Kwo 1981a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Ledderose 1985a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Ledderose 2003a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Qiu 2000a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. [Tseng 1993a]: Literaturangabe fehlt. Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als: - Buch, - Artikel in Zeitschrift, - Beitrag in Sammelband, - Sammelband, - andere Publikation, - Glossarlemma. Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Julia Nissen [83], Joerg R.J. Schirra [45] und Sandra Gilgan [10] — (Hinweis) |