Chinesische Kalligraphie: Unterschied zwischen den Versionen
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Die vier Haupt­schrift­ar­ten ent­wi­ckel­ten sich auf­ein­an­der fol­gend (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>). Die ers­ten be­kann­ten Schrift­zei­chen sind In­schrif­ten auf Ora­kel­kno­chen (''jiǎgǔwén'' 甲骨文, „Ora­kel­kno­chen­schrift“, vgl. Abb. 1) der Shang 商-​Dy­nas­tie (ca.16.-​11. Jh. v. Chr.), so­wie auf Bron­ze­ge­fä­ßen (''jīnwén'' 金文, „Bron­ze­schrift“) der Shang und Zhou 周 (ca. 1045-​256 v. Chr.). In die­ser frü­hen Pha­se exis­tier­te von den meis­ten Schrift­zei­chen ei­ne Viel­zahl an Schreib­wei­sen (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 12ff., S. 15ff.). Zur Zeit der Reichs­ei­ni­gung Chi­nas in der Qin 秦-​Dy­nas­tie (221-​206 v. Chr.) wur­de durch die Ein­füh­rung der Klei­nen Sie­gel­schrift (''xiǎozhuàn'' 小篆; vgl. Abb. 2) ein ein­heit­li­ches Schrift­sys­tem kon­sti­tu­iert (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 26). Etwa im 1. Jh. n. Chr. lös­te die an Strich­for­men re­du­zier­te, schneller schreibbare Kanz­lei­schrift (''lìshū'' 隸書; vgl. Abb. 3) die­se als Ge­brauchs­schrift ab (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 35). Da­mit und mit der Ein­füh­rung des Pin­sels und dem Pa­pier war der Weg für die Schrift­kunst ge­bahnt (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 38). Mit den Kur­siv­schrif­ten des 4. Jh., der halb­kur­si­ven Schreib- bzw. Ak­ti­ons­schrift (''xíngshū'' 行書) und der Gras­schrift (''cǎoshū'' 草書), ka­men wei­te­re, schnel­le­re Schrift­for­men hin­zu, die In­di­vi­du­a­li­tät und künst­le­ri­schen Aus­druck för­der­ten (<bib id='Tseng 1993a'>Tseng 1993a</bib>, S. 287). Mit der Stan­dar­di­sie­rung der Kanz­lei­schrift zur Nor­mal- oder Mo­dell­schrift (''kǎishū'' 楷書; vgl. Abb. 4) war die Ent­wick­lung der Ty­pen vor­läu­fig (bis zum 20. Jh.) ab­ge­schlos­sen (<bib id='Ledderose 2003a'>Led­de­ro­se 2003a</bib>).<ref> Ei­ne Über­sicht über Ur­sprung und Ent­wick­lung der chi­ne­si­schen Schrift, die Form und in­ne­re Struk­tur der Schrift­zei­chen und die He­raus­bil­dung der Schrift­ar­ten gibt <bib id='Qiu 2000a'>Qiu 2000a</bib>. </ref> Seit der Tang 唐–​Dy­nas­tie (618-​907) ist sie die Stan­dard­schrift in Chi­na. In der Fol­ge bil­de­ten sich aus den be­ste­hen­den Ty­pen eine Viel­zahl an Schul- und In­di­vi­du­al­sti­len he­raus (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 50). | Die vier Haupt­schrift­ar­ten ent­wi­ckel­ten sich auf­ein­an­der fol­gend (<bib id='Heng 2003a'>Heng 2003a</bib>). Die ers­ten be­kann­ten Schrift­zei­chen sind In­schrif­ten auf Ora­kel­kno­chen (''jiǎgǔwén'' 甲骨文, „Ora­kel­kno­chen­schrift“, vgl. Abb. 1) der Shang 商-​Dy­nas­tie (ca.16.-​11. Jh. v. Chr.), so­wie auf Bron­ze­ge­fä­ßen (''jīnwén'' 金文, „Bron­ze­schrift“) der Shang und Zhou 周 (ca. 1045-​256 v. Chr.). In die­ser frü­hen Pha­se exis­tier­te von den meis­ten Schrift­zei­chen ei­ne Viel­zahl an Schreib­wei­sen (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 12ff., S. 15ff.). Zur Zeit der Reichs­ei­ni­gung Chi­nas in der Qin 秦-​Dy­nas­tie (221-​206 v. Chr.) wur­de durch die Ein­füh­rung der Klei­nen Sie­gel­schrift (''xiǎozhuàn'' 小篆; vgl. Abb. 2) ein ein­heit­li­ches Schrift­sys­tem kon­sti­tu­iert (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 26). Etwa im 1. Jh. n. Chr. lös­te die an Strich­for­men re­du­zier­te, schneller schreibbare Kanz­lei­schrift (''lìshū'' 隸書; vgl. Abb. 3) die­se als Ge­brauchs­schrift ab (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 35). Da­mit und mit der Ein­füh­rung des Pin­sels und dem Pa­pier war der Weg für die Schrift­kunst ge­bahnt (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 38). Mit den Kur­siv­schrif­ten des 4. Jh., der halb­kur­si­ven Schreib- bzw. Ak­ti­ons­schrift (''xíngshū'' 行書) und der Gras­schrift (''cǎoshū'' 草書), ka­men wei­te­re, schnel­le­re Schrift­for­men hin­zu, die In­di­vi­du­a­li­tät und künst­le­ri­schen Aus­druck för­der­ten (<bib id='Tseng 1993a'>Tseng 1993a</bib>, S. 287). Mit der Stan­dar­di­sie­rung der Kanz­lei­schrift zur Nor­mal- oder Mo­dell­schrift (''kǎishū'' 楷書; vgl. Abb. 4) war die Ent­wick­lung der Ty­pen vor­läu­fig (bis zum 20. Jh.) ab­ge­schlos­sen (<bib id='Ledderose 2003a'>Led­de­ro­se 2003a</bib>).<ref> Ei­ne Über­sicht über Ur­sprung und Ent­wick­lung der chi­ne­si­schen Schrift, die Form und in­ne­re Struk­tur der Schrift­zei­chen und die He­raus­bil­dung der Schrift­ar­ten gibt <bib id='Qiu 2000a'>Qiu 2000a</bib>. </ref> Seit der Tang 唐–​Dy­nas­tie (618-​907) ist sie die Stan­dard­schrift in Chi­na. In der Fol­ge bil­de­ten sich aus den be­ste­hen­den Ty­pen eine Viel­zahl an Schul- und In­di­vi­du­al­sti­len he­raus (<bib id='Ch’en 66a'>Ch’en 1966a</bib>, S. 50). | ||
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− | Zur Zeit der Sechs Dynastien (Liù Cháo 六朝 3.-6.Jh.) entwickelte sich die Schrift zu einer von der Schicht der Literaten-Beamten<ref> Die Literaten-Beamten bildeten jene dünne Oberschicht und Elite, die sich sukzessive seit den ersten Jahrhunderten n.Chr. herausgebildet hatte und die Träger der staatlichen Macht und der kulturellen Überlieferung war. Ihren Mitgliedern ermöglichte sie eine literarische Ausbildung, welche die Vertrautheit mit klassischen kanonischen Texten, die Befähigung, selbst Gedichte und Prosa zu verfassen, und die Beherrschung der Kalligraphie umfasste. Die Ausbildung wurde in staatlichen Examina geprüft. Diese stellten den normalen Zugang zu einer Beamtenkarriere dar und waren somit der Schlüssel zu einer gehobenen Stellung und politischem Einfluss | + | Zur Zeit der Sechs Dynastien (Liù Cháo 六朝 3.-6.Jh.) entwickelte sich die Schrift zu einer von der Schicht der Literaten-Beamten<ref> Die Literaten-Beamten bildeten jene dünne Oberschicht und Elite, die sich sukzessive seit den ersten Jahrhunderten n.Chr. herausgebildet hatte und die Träger der staatlichen Macht und der kulturellen Überlieferung war. Ihren Mitgliedern ermöglichte sie eine literarische Ausbildung, welche die Vertrautheit mit klassischen kanonischen Texten, die Befähigung, selbst Gedichte und Prosa zu verfassen, und die Beherrschung der Kalligraphie umfasste. Die Ausbildung wurde in staatlichen Examina geprüft. Diese stellten den normalen Zugang zu einer Beamtenkarriere dar und waren somit der Schlüssel zu einer gehobenen Stellung und politischem Einfluss (<bib id='Ledderose 2003a'></bib>).</ref> gepflegten Kunstform und löste sich infolgedessen aus der handwerklichen Anonymität. Man begann Schriftkunstwerke aufgrund ihres ästhetischen Wertes zu schätzen. Technische Meisterschaft sowie die in der Schrift zum Ausdruck kommende Persönlichkeit und kunsthistorische Bildung des Schreibers wurden zu Bewertungskriterien der ästhetischen Qualität von Schrift(kunstwerken). Zwar musste eine gute Schrift Individualität besitzen, jedoch musste sie zudem erkennen lassen, dass ihr Schreiber die Geschichte der Schriftkunst theoretisch wie auch praktisch beherrschte. Sowohl dem Schreiber als auch dem Betrachter waren die stilistischen Zitate und Schichten eines Schriftkunstwerkes bewusst. Seit der Zeit der Sechs Dynastien gibt es Schriftsammlungen und eine theoretische Literatur zur Schriftkunst, deren ästhetische Terminologie weitgehend der Poetik entlehnt ist und die ihrerseits auf die um ca. 500 entstehende Maltheorie einwirkte. Wang Xizhi 王羲之 (303-361) ist der berühmteste Kalligraph jener Zeit und der gesamten Kalligraphiegeschichte überhaupt (<bib id='Ledderose 1985a'>Ledderose 1985a</bib>; <bib id='Ledderose 2003a'>Ledderose 2003a</bib>; vgl. Abb. 5). |
Version vom 14. Dezember 2014, 10:35 Uhr
Unterpunkt zu: Schriftbildlichkeit
Auf der Basis der chinesischen Schriftzeichen entwickelte sich Schrift zu einer hohen Kunst des persönlichen Ausdrucks. Die Schrifttypen, die charakteristische graphische Form und die Struktur der chinesischen Schriftzeichen haben diese Entwicklung der Kalligraphie erst ermöglicht ([Chen 2009a]Chen, Tingyou (2009).
China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 13).
Die Schrift – Entwicklung der SchrifttypenDie vier Hauptschriftarten entwickelten sich aufeinander folgend ([Heng 2003a]Heng, Jiuan (2003).Calligraphy. In Encyclopedia of Chinese Philosophy, 25-28. Eintrag in Sammlung zeigen). Die ersten bekannten Schriftzeichen sind Inschriften auf Orakelknochen (jiǎgǔwén 甲骨文, „Orakelknochenschrift“, vgl. Abb. 1) der Shang 商-Dynastie (ca.16.-11. Jh. v. Chr.), sowie auf Bronzegefäßen (jīnwén 金文, „Bronzeschrift“) der Shang und Zhou 周 (ca. 1045-256 v. Chr.). In dieser frühen Phase existierte von den meisten Schriftzeichen eine Vielzahl an Schreibweisen ([Ch’en 1966a]Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 12ff., S. 15ff.). Zur Zeit der Reichseinigung Chinas in der Qin 秦-Dynastie (221-206 v. Chr.) wurde durch die Einführung der Kleinen Siegelschrift (xiǎozhuàn 小篆; vgl. Abb. 2) ein einheitliches Schriftsystem konstituiert ([Ch’en 1966a]Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 26). Etwa im 1. Jh. n. Chr. löste die an Strichformen reduzierte, schneller schreibbare Kanzleischrift (lìshū 隸書; vgl. Abb. 3) diese als Gebrauchsschrift ab ([Ch’en 1966a]Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 35). Damit und mit der Einführung des Pinsels und dem Papier war der Weg für die Schriftkunst gebahnt ([Ch’en 1966a]Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 38). Mit den Kursivschriften des 4. Jh., der halbkursiven Schreib- bzw. Aktionsschrift (xíngshū 行書) und der Grasschrift (cǎoshū 草書), kamen weitere, schnellere Schriftformen hinzu, die Individualität und künstlerischen Ausdruck förderten ([Tseng 1993a]Tseng, Yu-ho (1993). A History of Chinese Calligraphy. Hongkong: Chinese University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 287). Mit der Standardisierung der Kanzleischrift zur Normal- oder Modellschrift (kǎishū 楷書; vgl. Abb. 4) war die Entwicklung der Typen vorläufig (bis zum 20. Jh.) abgeschlossen ([Ledderose 2003a]Ledderose, Lothar (2003). Kalligraphie. In Das große China-Lexikon, 366-367. Eintrag in Sammlung zeigen).[1] Seit der Tang 唐–Dynastie (618-907) ist sie die Standardschrift in China. In der Folge bildeten sich aus den bestehenden Typen eine Vielzahl an Schul- und Individualstilen heraus ([Ch’en 1966a]Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 50). Die Malerei der Literaten. In Im Schatten hoher Bäume. Malerei der Ming- und Qing-Dynastie (1368-1911) aus der Volksrepublik China, 10-21. Eintrag in Sammlung zeigen; [Ledderose 2003a]Ledderose, Lothar (2003). Kalligraphie. In Das große China-Lexikon, 366-367. Eintrag in Sammlung zeigen; vgl. Abb. 5).
Engere BegriffsbestimmungDie ästhetische Dimension der chinesischen Kalligraphie gründet auf den chinesischen Schriftzeichen (hànzi 漢字). Durch sie wird die Komposition, d.h. werden Striche und Abstände, wie auch die Richtung des Schreibens und Lesens festgelegt. Die innere Struktur der Schriftzeichen wird durch die darin vorkommenden Striche bestimmt.[3] Es gibt acht grundlegende Striche: Punkt (diǎn 點), horizontal (héng 橫), vertikal (shù 豎), abgesetzt und gekrümmt (zhé 折), Haken (goū 鈎), links hinunter (piě 撇), rechts hinauf (tí 提) und rechts hinunter (nà 捺). Die Striche werden in einer festgelegten Reihenfolge geschrieben, wobei jedes Schriftzeichen unabhängig vom Komplexitätsgrad den gleichen Raum eines imaginären Quadrats einnimmt ([Alleton 2003a]Alleton, Viviane (2003).Schrift. In Das große China-Lexikon, 651-654. Eintrag in Sammlung zeigen; [Chen 2009a]Chen, Tingyou (2009). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 14; [Heng 2003a]Heng, Jiuan (2003). Calligraphy. In Encyclopedia of Chinese Philosophy, 25-28. Eintrag in Sammlung zeigen). Der Schreiber muss die gegebene graphische Form der Schriftart akzeptieren, in der er das Schriftkunstwerk zu verfassen gedenkt, auch ist der umzusetzende Text nicht immer sein eigener. Sein Beitrag liegt vielmehr in der Nuancierung des Stils, die er in die Schrift einbringt. Durch die Grenzen, die der Kalligraphie mittels der gegebenen Schrifttypen gesetzt sind, ist jede Variation identifizierbar und einem bestimmten Kalligraphen zuzuordnen ([Ch’en 1966a]Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 222; [Heng 2003a]Heng, Jiuan (2003). Calligraphy. In Encyclopedia of Chinese Philosophy, 25-28. Eintrag in Sammlung zeigen). Das Erlernen der Kalligraphie erfordert Jahre gewissenhafter und steter Übung, wozu zunächst Schriftvorlagen alter Meister kopiert werden. Erst wenn der Schreiber die verschiedenen Stile durchdrungen hat, ist er in der Lage, einen eigenen Stil zu entwickeln. Von alters her haben die Meister ihre Schüler dazu angeregt, dafür zusätzlich Inspiration in der Natur zu suchen ([Chen 2009a]Chen, Tingyou (2009). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S.60; [Kwo 1981a]Kwo, Da-wei (1981). Chinese Brushwork – Its History, Aesthetics and Techniques. Montclair: Allanheld & Schram. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 57f.). Ein zentrales ästhetisches Problem der Kalligraphie besteht darin, entgegen der durch stete Übung bedingten Rationalisierung spontaner Effekte eine ursprüngliche Spontaneität zu erhalten bzw. wiederzugewinnen ([Ledderose 2003a]Ledderose, Lothar (2003). Kalligraphie. In Das große China-Lexikon, 366-367. Eintrag in Sammlung zeigen). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S.77; vgl. Abb. 6 und 7). Mit den Typen der Grasschriften, die zum Teil an die Grenze der Lesbarkeit gehen, gewinnt die Linie, die gesamte Komposition, an Eigenleben. Der Inhalt tritt zugunsten des ästhetischen Moments in den Hintergrund. Kalligraphie wird damit zur abstrakten Kunst. Der Akt des Schreibens selbst wird zur Aktionskunst, die den vergänglichen Moment der Performanz übersteigt, denn in den Pinselspuren bleiben die Bewegungen des Schreibers, festgehalten auf Papier, für jeden Betrachter nachvollziehbar ([Heng 2003a]Heng, Jiuan (2003). Calligraphy. In Encyclopedia of Chinese Philosophy, 25-28. Eintrag in Sammlung zeigen). Da sich Technik und Materialien der Kalligraphie seit dem 4. Jh. nicht mehr änderten, sind die ästhetischen Maßstäbe über die Jahrhunderte hinweg auf Schriftkunstwerke anwendbar ([Ledderose 1985a]Ledderose, Lothar (1985). Die Malerei der Literaten. In Im Schatten hoher Bäume. Malerei der Ming- und Qing-Dynastie (1368-1911) aus der Volksrepublik China, 10-21. Eintrag in Sammlung zeigen). Die Malerei der Literaten. In Im Schatten hoher Bäume. Malerei der Ming- und Qing-Dynastie (1368-1911) aus der Volksrepublik China, 10-21. Eintrag in Sammlung zeigen). Da Kalligraphie somit gewissermaßen in einem graphologischen Sinne als Ausdruck des Charakters verstanden wird, gibt es keine scharfe Trennlinie zwischen rein ästhetischen und etwa moralisch-politischen Wertkategorien. Das bedeutet, dass eine Schrift aufgrund der in ihr zum Ausdruck kommenden moralischen Qualitäten des Schreibenden an ästhetischem Wert gewinnen kann ([Ledderose 2003a]Ledderose, Lothar (2003). Kalligraphie. In Das große China-Lexikon, 366-367. Eintrag in Sammlung zeigen). Kalligraphie erhält damit eine ethische Dimension: wer schön schreiben will, muss vordringlich nach innerer Schönheit streben ([Chen 2009a]Chen, Tingyou (2009). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 60). Die Überzeugung, dass der Mensch durch die Disziplin der Kunst geformt werden, dass Ästhetik somit im Dienste der Ethik nutzbar gemacht werden kann, führte zu einer Vervielfältigung von Regeln, Methoden und Gesetzen der Kalligraphie ([Heng 2003a]Heng, Jiuan (2003). Calligraphy. In Encyclopedia of Chinese Philosophy, 25-28. Eintrag in Sammlung zeigen). Mit der Vorstellung, dass jedes Schriftzeichen die inneren Regungen des Schreibers offenbare, ist Kalligraphie zudem eine einzigartige Direktheit bzw. Prägnanz zu eigen: yī zì jiàn xīn 一字見心 („in einem Zeichen sieht man schon das Herz“) ([Chen 2009a]Chen, Tingyou (2009). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 65). Ein druckschriftlicher Text benötigt demgegenüber eine Anzahl von Wörtern, um etwas auszudrücken. Kalligraphie vermag damit direkt zu erreichen, was einem Zeichensystem nur indirekt gelingen kann ([Heng 2003a]Heng, Jiuan (2003). Calligraphy. In Encyclopedia of Chinese Philosophy, 25-28. Eintrag in Sammlung zeigen; auch ⊳ Text als Bild, konkrete Poesie). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 54; [Ch’en 1966a]Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 197-199). Lebendigkeit, Energie, Spannung und Rhythmus sind hierbei ausschlaggebende Charakteristika ([Chen 2009a]Chen, Tingyou (2009). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 43). Da ein ausgeführter Strich nicht mehr korrigiert werden kann, steht vor der Ausführung ein Konzept der Komposition, yì zài bǐ qián 議在筆前 ([Ch’en 1966a]Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 222). Hierzu zählt auch die richtige Platzierung der Leeräume zwischen den konstitutiven Elementen des Bildes ([Kwo 1981a]Kwo, Da-wei (1981). Chinese Brushwork – Its History, Aesthetics and Techniques. Montclair: Allanheld & Schram. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 66). „Leere und Fülle“ sollen dabei ein organisches Ganzes bilden ([Chen 2009a]Chen, Tingyou (2009). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 54f.). Des Weiteren muss die richtige Technik angewandt werden. Neben der Kontrolle des Pinsels ist ein angemessener Tuscheauftrag erforderlich ([Ch’en 1966a]Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 200f.). Fundamentales und konstituierendes Element eines Zeichens ist die Linie. Eine gute Linie muss Kraft (lì 力) enthalten, d.h. sie muss eine gewisse Stärke und Festigkeit widerspiegeln. Einer kraftvollen Linie ist zudem Qi (qì 氣) zueigen. Qi ist hier als innere Dynamik zu begreifen, welche die Linien und Punkte umgibt, sie alle als eine Einheit zusammenfasst ([Kwo 1981a]Kwo, Da-wei (1981). Chinese Brushwork – Its History, Aesthetics and Techniques. Montclair: Allanheld & Schram. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 64f.) und somit die direkt sichtbare Schönheit der äußeren Form bestimmt. Die innere Schönheit, die passende Zusammenstellung der Striche, Punkte, Zeichen und Zeilen, ein wohlproportioniertes Arrangement, wird als Yun (yùn 韵) bezeichnet. Die Schönheit in der Kalligraphie, ihr ästhetischer Gehalt ist Qiyun 氣韵, die Verbindung von Qi und Yun ([Chen 2009a]Chen, Tingyou (2009). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 86ff.; [Kwo 1981a]Kwo, Da-wei (1981). Chinese Brushwork – Its History, Aesthetics and Techniques. Montclair: Allanheld & Schram. Eintrag in Sammlung zeigen, S. 74f.).
Der Einfluss der Kalligraphie auf die MalereiIn dem Bestreben, sich von der professionellen, handwerklichen Malerei, die sich im allgemeinen durch starke Farbigkeit und eine sehr realistische Darstellung auszeichnete, zu distanzieren, setzten die Literaten auf eine Malerei, die sich nicht nur technisch, sondern auch ästhetisch an der Kalligraphie orientierte. Die bildnerischen Mittel, insbesondere der Pinselstrich, gewannen dadurch an Selbständigkeit und gestalterischem Eigenleben. Die Darstellung wurde dem gewählten Pinselduktus angepasst. Diese Tendenz setzte sich in der Yuan 元-Zeit (1260-1368) allgemein durch - womit die Malerei von ihrer reinen Abbildfunktion und der unbedingten Forderung nach der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit befreit wurde ([Heng 2003a]Heng, Jiuan (2003).Calligraphy. In Encyclopedia of Chinese Philosophy, 25-28. Eintrag in Sammlung zeigen; [Ledderose 1985a]Ledderose, Lothar (1985). Die Malerei der Literaten. In Im Schatten hoher Bäume. Malerei der Ming- und Qing-Dynastie (1368-1911) aus der Volksrepublik China, 10-21. Eintrag in Sammlung zeigen). Wie schon die Kalligraphie wandelte sich das Bild damit zur „gestalteten Manifestation der Künstlerpersönlichkeit“ ([Ledderose 1985a]Ledderose, Lothar (1985). Die Malerei der Literaten. In Im Schatten hoher Bäume. Malerei der Ming- und Qing-Dynastie (1368-1911) aus der Volksrepublik China, 10-21. Eintrag in Sammlung zeigen).[4] |
Anmerkungen
[Alleton 2003a]: Alleton, Viviane (2003). Schrift. In: Staiger, B. et al. (Hg.): Das große China-Lexikon. Hamburg: WBG, S. 651-654.
[Chen 2009a]: Chen, Tingyou (2009). China: Die Kalligraphie. Beijing: China Intercontinental Press. [Chiang 1973a]: Chiang, Yee (1973). Chinese Calligraphy – An Introduction to Its Aesthetic and Technique. Cambridge, Massachusetts, London: Havard University Press. [Ch’en 1966a]: Ch'en, Chih-mai (1966). Chinese Calligraphers and Their Art. Carlton: Melbourne University Press. [Heng 2003a]: Heng, Jiuan (2003). Calligraphy. In: Cua, A.S. (Hg.): Encyclopedia of Chinese Philosophy. London, New York: Routledge, S. 25-28. [Kwo 1981a]: Kwo, Da-wei (1981). Chinese Brushwork – Its History, Aesthetics and Techniques. Montclair: Allanheld & Schram. [Ledderose 1985a]: Ledderose, Lothar (1985). Die Malerei der Literaten. In: Ledderose, L. (Hg.): Im Schatten hoher Bäume. Malerei der Ming- und Qing-Dynastie (1368-1911) aus der Volksrepublik China. Baden-Baden: Staatl. Kunsthalle, S. 10-21. [Ledderose 2003a]: Ledderose, Lothar (2003). Kalligraphie. In: Staiger, B.; Friedrich, S. & Schütte, H. (Hg.): Das große China-Lexikon. Hamburg: WBG, S. 366-367. [Qiu 2000a]: Qiu Xigui (2000). Chinese Writing. New Haven: Birdtrack Press. [Tseng 1993a]: Tseng, Yu-ho (1993). A History of Chinese Calligraphy. Hongkong: Chinese University Press. Ausgabe 1: 2014 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Julia Nissen [83], Joerg R.J. Schirra [45] und Sandra Gilgan [10] — (Hinweis) |