Grundbegriffe der Bildlichkeit

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
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Hauptpunkt zu: Bildlichkeit: Bedingungen und Folgen


Der vorparadigmatische Zustand der Bildwissenschaft

Eine sich neu konstituierende Wissenschaftsdisziplin ist in der Regel zunächst damit beschäftigt, ihren Gegenstandsbereich zu bestimmen. Bereits dieser Arbeitsschritt lässt sich für gewöhnlich nicht vollkommen problemlos bewältigen. Über die Frage, wie weit der Gegenstandsbereich einer Disziplin zu reichen habe, werden häufig kontroverse grundlagentheoretische Debatten geführt. Viele dieser Debatten gründen auf dem Umstand, dass der Begriff, der einer Wissenschaftsdisziplin ihren Namen gibt, in der Regel nicht schon von sich aus Aufschluss über die konkreten Phänomene gibt, auf die er sich bezieht.

Am Beispiel der Bildwissenschaft lässt sich dieser Sachverhalt gut vor Augen führen. Begrifflich ist hier völlig unstrittig, dass die Untersuchung von Bildphänomenen im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit steht. Weitaus weniger unkontrovers ist jedoch, welcher Phänomenbereich genau von einer Bildwissenschaft historisch wie systematisch überblickt werden sollte. Soll sich die Bildwissenschaft nur solchen Phänomenen zuwenden, die einem engeren Bildbegriff entsprechen (Gemälde, Zeichnungen, Fotografien usw.); oder sind auch andere Phänomene gleichberechtigt zu berücksichtigen, die weitere mediale Register umfassen, welche aus konventioneller Sicht eher nur mittelbar mit Facetten des Bildlichen zusammenhängen (z.B. Diagramme, Ornamente, Kalligrafie, Schriftbilder)? Alleine über diese grundlegende Frage lassen sich Diskussionen führen, die in ausformulierter Form ganze Bücherregale füllen.

Ein ähnlicher Sachverhalt lässt sich im Hinblick auf die Frage feststellen, welche Gesichtspunkte als elementare Bestandteile einer allgemeinen Theorie des Bildes zu gelten haben. Genauer gefragt: Welche Aspekte des Ikonischen lassen sich zu Grundbegriffen des Bildlichen verdichten? Welche Faktoren sind unbedingt zu berücksichtigen, wenn theoretisch konzise und adäquat über das Phänomen der Bildlichkeit reflektiert werden soll? Auch über diese grundbegrifflichen Fragen lässt sich ausgiebig und kontrovers diskutieren. Potenziert wird dieser Sachverhalt durch die Tatsache, dass es sich bei der Idee einer allgemeinen Bildwissenschaft um ein relativ junges akademisches Unterfangen handelt. Die „bildwissenschaftliche Forschungssituation“, notiert etwa Klaus Sachs-Hombach, befindet sich „insgesamt“ in einem „vorparadigmatischen Stadium“ ([Sachs-Hombach 2003a]: S. 12f.). Aus dem Faktum, dass die Klärung dessen, was den Kern des Bildbegriffs ausmacht, nicht ohne Weiteres herbeigeführt werden kann,[1] folgt nicht zuletzt auch der Umstand, dass die Suche nach allgemeinen Grundbegriffen des Bildlichen bei Weitem nicht abgeschlossen ist.

Auf der Suche nach den Elementen einer allgemeinen Bildtheorie

Dass sich im Rahmen der intensiv geführten jüngeren bildwissenschaftlichen Debatte kein Begriffsrepertoire herausbilden konnte, welches zur Untersuchung grundlagentheoretischer Bildreflexionen herangezogen werden könnte, lässt sich unterdessen nicht behaupten. Auch wenn über die methodischen und disziplinären Fundamente einer allgemeinen Bildwissenschaft noch in vielen Punkten keine weitreichende Einigkeit erzielt werden konnte, sind durchaus Konzepte und Begrifflichkeiten in Umlauf gekommen, die theorieübergreifend als bildwissenschaftliche termini technici Anerkennung gefunden haben. Auch stimmen Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster Fach- und Theorierichtungen häufig darin überein, welche Phänomene und Begriffe zur Eingrenzung der Kategorie der Bildlichkeit eingehend zu analysieren sind.

Weitgehender Konsens besteht etwa darüber, dass Bildlichkeit stets in einem Spannungsfeld von Absenz und Präsenz steht. Was auf einem Bild zu sehen ist, wird häufig als eine artifizielle „Anwesenheit ohne Gegenwart“ ([Mersch 2002a]: S. 70) charakterisiert.[2] Bildern wird auf diese Weise eine gewisse visuelle bzw. ikonische Evidenz zugesprochen, die in manchen Bildtheorien nicht nur in einem metaphorischen Sinne als phantomhaft oder phantasmatisch beschrieben wird.

Die wohl größte Verbreitung weist (zumindest in der deutschsprachigen Bilddebatte) das von Gottfried Boehm eingeführte Konzept der ikonischen Differenz auf (vgl. [Boehm 1994a]; [Boehm 2011a]). Reflektiert wird durch dieses Konzept der Umstand, wonach bildliche Sinneinheiten allererst in bzw. auf einer als Bildgrund fungierenden „überschaubaren Gesamtfläche“ ([Boehm 1994a]: S. 30) in Erscheinung treten können. In diesem Zusammenhang wird auch häufig darauf hingewiesen, dass Bildlichkeit mit einer deiktischen Doppelstruktur korreliert. Bilder zeigen demnach nicht einfach nur etwas, worauf in spezifisch ikonischer Weise Bezug genommen wird; vielmehr zeigen sie immer auch sich mitsamt ihrer „materielle[n] Faktizität“ ([Finke 2007a]: S. 61) (Zeigen und Sich-Zeigen). Oder anders gesagt: „Zwar erzeugen Bilder Sichtbarkeiten – nämlich jene Formen, die Objekte bedeuten können –, im selben Moment aber stellen sie sich selbst als etwas Materielles aus, das wiederum nicht mit der Bedeutung kongruent ist.“ ([Finke 2007a]: ebd.)

Diskutiert wird in diesem Kontext oft die Tatsache, dass das Was einer bildlichen Darstellung insofern immerzu stilistisch präfiguriert ist, als jede Darstellung durchweg mit einer bestimmten Darstellungsweise – einem eigentümlichen Wie des bildlich Sichtbaren – einhergeht (vgl. [Schürmann 2012b]). Dass der fundamentale Stilcharakter eines jeden Bildes zudem aufs Engste mit Phänomenen der Rahmung zusammensteht, in deren Grenzen Sichtbarkeit sich als bildliche überhaupt zu konstituieren vermag, umschreibt dabei keinesfalls eine belanglose Trivialität, sondern einen Sachstand, der für die grundbegriffliche Konturierung einer allgemeinen Bildwissenschaft von größter Bedeutung ist (vgl. [Schürmann 2012a]).

Auch dem Begriff des Raums kommt in der bildwissenschaftlichen Forschungsdebatte zunehmend ein besonderer Stellenwert zu. Dass die Medialität des Bildes wesentlich raumbestimmt ist, ist spätestens seit Lessings Laokoon ein prägnanter bildtheoretischer Topos (vgl. [Lessing 1974a]), doch wird dieser erst seit verhältnismäßig kurzer Zeit vor dem Hintergrund neuerer Bildtheorien weiterführend und kritisch aufgegriffen (vgl. [Günzel 2012a]). Reflektiert wird in diesem Kontext etwa die Frage, auf welche Weise es Bildern gelingt, Raum darzustellen bzw. zu konstruieren. Dieses Problem wird nicht nur auf technischem Wege untersucht (beispielsweise über die Rekonstruktion der dem zentralperspektivischen Darstellungsverfahren zugrunde liegenden Gesetze, die bereits seit Jahrhunderten bekannt sind), sondern gerade auch wahrnehmungsphilosophisch. Verbreitet ist hier vor allem der Versuch, auf phänomenologischer Basis die Differenzen zwischen der Wahrnehmung bildlicher Raumkonstellationen und solchen nicht-bildlicher Natur in Erfahrung zu bringen. Diese Vorgehensweise gründet auf folgender Hoffnung: Wird verstanden, inwieweit sich die Wahrnehmung eines Bildes von der eines gewöhnlichen Raumdings unterscheidet, lassen sich so generalisierbare Rückschlüsse über die Natur sowohl der Bild- als auch der Normalwahrnehmung gewinnen, die für die Formulierung einer allgemeinen Theorie des Bildes als unerlässlich gewertet werden können (vgl. [Wiesing 2009a]).

Grundbegriffliche Forschungsfragen stellen sich schließlich auch in Bezug auf Themenbereiche ein, die zumindest auf den ersten Blick eher in einem erweiterten Sinne mit der Kategorie der Bildlichkeit in Zusammenhang stehen. Dies betrifft zum Beispiel die philosophische Erörterung des Weltbild-Begriffs. Im alltäglichen Sprachgebrauch assoziiert man mit diesem Begriff für gewöhnlich eine in sich geschlossene Geisteshaltung, die auf persönlicher oder kollektiver Ebene mit einer bestimmten Mentalität oder Ideologie verwoben ist. In der Philosophie kommt ihm insbesondere in perspektivistischen Erkenntnistheorien ein zentraler Stellenwert zu. Spätestens seit Kant wird der Prozess der Erkenntnis als eine geistige Aktivität verstanden, in der weltliche Gegenstände und Sachverhalte keineswegs passiv abgebildet, sondern vielmehr tätig gestiftet werden. Unter anderem der Kulturphilosoph Ernst Cassirer hat in diesem Zusammenhang häufig von einer „ursprünglichen Bildkraft“ ([Cassirer 1923a]: S. 21) des Geistes geredet, die mit der Konstruktion von spezifischen „Weltbildern“ kulminiere (vgl. [Cassirer 1925a]: S. 39). Das Ereignis der Erkenntnisgewinnung wird hier als ein grundsätzlich plastischer (d.h. stets veränderlicher) Prozess der Bildung von Welten angesehen, die in ähnlicher Form auf einer schöpferischen Tätigkeit des Geistes beruhen, wie dies bei der Erstellung eines materiellen Bildwerkes der Fall ist. Die ausdrückliche Rede von Weltbildern ist in diesem Kontext in vielen Punkten freilich metaphorisch zu verstehen. Nichtsdestotrotz spiegelt sich in ihr die keinesfalls nur in einem übertragenen Sinne zu begreifende Auffassung wider, wonach unser Wissen von und über Welt ähnlich perspektivisch zugeschnitten ist wie die Sichtbarkeitsgebilde bildlicher Artefakte.


Anmerkungen
  1. Nicht umsonst trägt eine der meistzitierten bildwissenschaftlichen Anthologien den Titel Was ist ein Bild? (vgl. [Boehm 1994c]) – eine Frage, die in den darin versammelten Beiträgen mitnichten einstimmig beantwortet wird und vielleicht gerade deshalb zu weiterführenden Studien zur allgemeinen Bilderfrage animieren sollte.
  2. Vgl. hierzu vor allem [Wiesing 2005a].
Literatur                             [Sammlung]

[Boehm 1994a]: Boehm, Gottfried (1994). Die Wie­der­kehr der Bilder. In: Boehm, G. (Hg.): Was ist ein Bild?. München: Fink, S. 11-38.

[Boehm 1994c]: Boehm, Gottfried (Hg.) (1994). Was ist ein Bild?. München: Fink. [Boehm 2011a]: Boehm, Gottfried (2011). Iko­nische Diffe­renz. Rhein­sprung 11 – Zeit­schrift für Bildkri­tik, Band: 1, S. 170-​178. [Cassirer 1923a]: Cassirer, Ernst (1923). Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Berlin: Bruno Cassirer. [Cassirer 1925a]: Cassirer, Ernst (1925). Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Berlin: Bruno Cassirer. [Finke 2007a]: Finke, Marcel (2007). Mate­riali­tät und Perfor­mati­vität. Ein bild­wissen­schaftli­cher Versuch über Bild/​Körper. In: Reichle, I. & Siegel, S. & Spelten, A. (Hg.): Verwand­te Bilder. Die Fragen der Bild­wissen­schaft. Berlin: Kadmos, S. 57–78. [Günzel 2012a]: Günzel, Stephan (2012). Raum|Bild. Zur Logik des Medialen. Berlin: Kadmos. [Lessing 1974a]: Lessing, Gotthold Ephraim (1974). Lao­koon oder über die Grenzen der Male­rei und Poesie. In: Göpfert, H. G. (Hg.): Werke, Bd. 6. München: Hanser, S. 7-​187. [Mersch 2002a]: Mersch, Dieter (2002). Was sich zeigt. Mate­riali­tät, Präsenz, Ereig­nis. München: Fink. [Sachs-Hombach 2003a]: Sachs-​Hom­bach, Klaus (2003). Das Bild als kommu­nika­tives Medium. Ele­mente einer allge­meinen Bild­wissen­schaft. Köln: Halem. [Schürmann 2012a]: Schürmann, Eva (2012). Das Wie der Rahmung. Über die parergonale Verfassung künstlerischen Darstellens. In: Bertram, G. & Feige, D. (Hg.): Die Sinnlichkeit der Künste. Beiträge zur ästhetischen Reflexivität. Berlin/Zürich: Diaphanes, S. 75-86. [Schürmann 2012b]: Schürmann, Eva (2012). Stil als Artikulation einer Haltung. In: Deines, St. & Seel, M. (Hg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Berlin: Suhr­kamp, S. 296-315. [Wiesing 2005a]: Wiesing, Lambert (2005). Arti­fiziel­le Präsenz. Studien zur Philo­sophie des Bildes. Frank­furt/M.: Suhr­kamp. [Wiesing 2009a]: Wiesing, Lambert (2009). Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.


Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [35], Mark A. Halawa [20], Eva Schürmann [8] und Sebastian Spanknebel [3] — (Hinweis)