Kippbild
Unterpunkt zu: Bildwahrnehmung
In Situationen des praktischen Lebens ist derartige Instabilität des Wahrnehmens selten. Das schließt nicht aus, dass Momente der umweltbezogenen Wahrnehmung zumindest teils Ausgangspunkt für entsprechende bildnerische Spiele waren und sind.
Phänomenologie (Eingrenzung und Varianten)[2]Oft werden Kippbilder in drei Typen unterteilt[3]: 1) Umspringen von „Figur und Grund“, 2) Ambivalenz von „Bedeutung“ und 3) Mehrdeutigkeit perspektivischer Darstellungen. Diese Typologie ist zwar nicht umfassend und in gewisser Weise sogar irreführend, aber gleichwohl ein brauchbarer erster Zugang.
Figur/Objekt und (Hinter-)Grund können auch bei eher sinnfreien Linien/Flächengrenzen ineinander umschlagen. Derartige Beispiele standen im Mittelpunkt von Rubins Untersuchungen (Abb. 2). Die Unterscheidung von „Figur“ und „Grund“, die man als Betrachter von nichtperspektivischen zweidimensionalen Darstellungen vornimmt, demonstriert, wie stark man dazu neigt, dreidimensionale Verhältnisse („vor“ vs. „hinter“) in Bilder hineinzusehen. Bereits da, wo nur eine schlichte Linie eine Fläche teilt (Abb. 3), sehen wir leicht eine der beiden Teilflächen vor der anderen[6]. Gestaltpsychologen haben sich eingehend mit der Frage beschäftigt, welche abstrakten Qualitäten von Linien/Flächen das Sehen als Figur nahe legen ([Metzger 2008a]). Manche der zahlreichen Variationen der Darstellung von Rubins Becher machen Faktoren der Figurbildung deutlich; schneidet man beispielsweise Rubins Original an der oberen und unteren Kante des Kelchs horizontal ab, so springen die Profile leichter ins Auge als in der ursprünglichen Konstellation (umschließende Flächen werden eher als Grund gesehen, Abb. 4), ein Tausch von hell und dunkel wirkt dieser Tendenz wiederum entgegen (dunklere Flächen sieht man bevorzugt als Figur, Abb. 5).„Das ebenfalls relativ bekannte Bild einer Landschaft, in der sich die Umrisse „Napoleons“/„eines Kapitäns“ – vom charakteristischen Hut bis zu den Füßen – verstecken (z.B. in [Gregory 2000a], Abb. 6), funktioniert nur bedingt als Kippfigur. Hat man die Umrisse, die für den Mann stehen, erst einmal entdeckt, ist ein Umschlagen von Figur und Grund zwar insofern nicht ausgeschlossen, als man abwechselnd die Silhouette des Mannes vor einem dickem Baum oder aber Bäume/Baumstrünke und einen leeren Zwischenraum sehen kann. Aber nicht nur bei breit (auf die „Totale“) eingestellter Aufmerksamkeit kann man Landschaft und Person zugleich sehen; es ist auch möglich, simultan gewundene dünne Baumstämme und die von ihren Konturen geformte Silhouette zu sehen, also zwei sozusagen symbiotische Figuren. Dieses „Vexierbild“ funktioniert – wie viele andere auch – deshalb gut als Bilderrätsel, weil es in die relativ detailreiche Darstellung einer realistischen Szenerie in unwahrscheinlicher Weise Anzeichen eines bedeutsamen Objektes (meist eines Menschen oder anderen Lebewesens) konstruiert. Ist der Betrachter erst einmal über diese Andeutungen gestolpert, springt aus dem Hintergrund der ursprünglichen „Figur“ (hier: Baumgruppe in Landschaft) ein Objekt in die Szene, ohne diese dabei auszulöschen. Das Konstruktionsprinzip solcher Vexier- oder Rätselbilder sorgt eher für einmalige Überraschung als fortgesetztes Kippen.“ ([Schönhammer 2011]: S. 4)
2) Ambivalenz von „Bedeutungen“ („semantisch ambivalente Bilder“). „Diese nicht sehr glückliche Kategorisierung – um unterschiedliche Bedeutungen handelt es sich bei zwei- oder mehrdeutigen Bildern immer – bezieht sich auf Vorlagen, bei denen man abwechselnd die Darstellung verschiedener Objekte sehen kann, ohne dass dabei unbedingt ein Figur-Grund-Wechsel beteiligt wäre. Man könnte also vielleicht besser von „Gesichterwechsel der Figur“ sprechen. Die Rede vom Gesichterwechsel charakterisiert diesem Untertypus von Kippbildern nicht nur im übertragenen Sinn – die nämliche „Figur“ (im Sinne der gestaltpsychologischen Unterscheidung von Figur und Grund) evoziert unterschiedliche Objekte – sondern auch insofern, als es hier in der Regel um Bilder geht, bei denen tatsächlich oft abwechselnd unterschiedliche Gesichter (und/oder Körper) von Menschen oder anderen Tieren aus einer Figur hervortreten (manchmal sind das Gesichter/Körper der nämlichen Gattung, manchmal wechselt die Gattung; auch Darstellungen menschlicher Totenköpfe sind verbreitet)[7].“ ([Schönhammer 2011]: S. 4f) Berühmte Beispiele für Gesichter-Kippbilder tauchten zunächst im 19. und frühen 20. Jh. in humoristischen Publikationen auf und haben heute einen festen Platz in psychologischen Lehrbüchern und populärwissenschaftlichen Darstellungen spektakulärer Wahrnehmungsphänomene. Besonders prominent ist jener Kopf, der auf den ersten Blick meist als der einer Ente gesehen wird, aber auch in den eines Hasen umschlagen kann (Abb. 7).[8]Der in Harvard lehrende Psychologe Jastrow hatte den Enten-Hasen-Kopf am Übergang zum 20. Jh. in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht [Brugger 1999a]. Einige Bemerkungen im Spätwerk Ludwig Wittgensteins (siehe unten) haben diese Gesichterkippfigur gewissermaßen philosophisch geadelt. Ein weiteres sozusagen klassisches Kippbild vereint die Ansicht einer alten Frau (im ganz leicht dem Betrachter zugewandten Profil) mit der Darstellung des Gesichts einer jungen Frau, das vom Betrachter dreiviertel abgewandt ist (Abb. 8);[9] wie beim Enten- vs. Hasenkopf schließen sich beide Sichtweisen aus. Manchmal ist ein partieller Figur-Grund-Wechsel in die Metamorphose der Figur einbezogen. So erscheint im Kippbild „Ratte vs. Mann mit Brille“ (Abb. 9) ein Bereich einmal als Grund zwischen Körper und Schwanz der Ratte und wird mit dem Umschlagen zur Wange des Mannes. „Ähnlich verhält es sich bei der Grafik „Sara Nader“ (Abb. 10) aus der Feder des amerikanischen Psychologen Roger N. Shepard ([Shepard 1990a]: S. 76)[10]. Allerdings kann man bei diesem Bild beide Sehweisen – Saxophonspieler und en face Porträt einer Frau – gleichzeitig wahrnehmen, was wohl daher rührt, dass jene Flächen, die eines der beiden Augen, den Mund und den Nasenflügel des weiblichen Gesichts anzeigen, entweder isoliert vom Schattenriss des Saxophonspielers sind (Auge) oder sich nicht zwingend in die Einheit von Mann und Instrument fügen (Mund, Nasenflügel). Man kann sogar auch noch gleichzeitig gewahren, dass das sozusagen freischwebende Auge einen Vogel darstellt. Sofern die Aufmerksamkeit nicht zu sehr auf eines der drei „Gesichter“ (Mann, Frau, Vogel) fokussiert, machen diese sich den Platz im Wahrnehmungsakt nicht streitig.“ ([Schönhammer 2011]: S. 6) „‚Gesichter-Kippbilder‘ sind also von Bildern zu unterscheiden, die Darstellungen mehrerer Gesichter bzw. Körper bergen, welche zwar womöglich – im Sinne eines Bilderrätsels – nicht alle sofort gesehen werden und auch dann, wenn sie einmal entdeckt wurden, abwechselnd ins Zentrum der Aufmerksamkeit treten können, deren gleichzeitige Wahrnehmung aber nicht ausgeschlossen ist. Nur dann, wenn die wesentlichen Anzeichen für die konkurrierenden Gesichter in der jeweiligen Alternative einen sinnvollen Platz finden, schlägt die Wahrnehmung um. Ansonsten kann man eben zwei oder mehrere Gesichter/Körper zugleich sehen, ob sie nun mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander stehen oder in eine hierarchische Beziehung zueinander gesetzt sind (wie beispielsweise da, wo kleine Darstellungen von Menschen nach Art der Jahreszeiten-Gemälde von Arcimboldo Partien eines Porträts bilden)[11].“ ([Schönhammer 2011]: S. 6) „Bilder, die in Arcimboldos Manier Gesichter und Körper zu einem übergeordneten Gesicht (oder eben Totenkopf) zusammenstellen, legen einen Wechsel der Fokussierung nahe, ohne im strengen Sinn Kippbilder zu sein.[12] Diese Verschiebung von Akzenten der Betrachtung ist einem Wechsel der Aufmerksamkeit vergleichbar, wie man ihn vornimmt, wenn man sich auf Details eines Bildes konzentriert oder gar die Pinselstriche (allgemein: Merkmale der Darstellungsweise) fokussiert. Selbst wenn man bei der Untersuchung der Oberfläche eines Bildes für Momente das Dargestellte völlig ausklammert, fehlt hier – wie auch beim Fokuswechsel bei Bilderrätseln – das typische Erlebnis verblüffenden Hin-und-her-Kippens. Wenn Ernst Gombrich den Übergang von Sehen des Bildinhalts zu einem radikal auf die Malweise gerichteten kunstwissenschaftlichen Blick mit dem Kippbilderlebnis gleichsetzt ([Gombrich 2002a]), was der Kunsttheoretiker Richard Wollheim aus verschiedenen Gründen in Frage stellte (siehe unten), wird er u. a. der Tatsache nicht gerecht, dass das Kippen zwar auch durch Konzentration aktiv beeinflusst werden kann, aber – anders als eine ausblendende Vertiefung in die Darstellungsweise – immer als Widerfahrnis erlebt wird (dieser jederzeit individuelle überprüfbare Befund wird auch durch Ergebnisse der experimentellen Forschung bestätigt; siehe unten). Frei nach Lichtenberg: Kippbilder vermitteln das Erlebnis ‚Es sieht!‘.“ ([Schönhammer 2011]: S. 7)
Eine Zeichnung (Abb. 11), in der wir spontan die Projektion eines Gitter-Würfels ausmachen (mögen auch andere Körper zum nämlichen Bild führen), bleibt allerdings auch im Wahrnehmungsakt mehrdeutig: in der Regel kippt die Ansicht der unveränderten Vorlage zwischen zwei unterschiedlich im Raum gelagerten Würfeln hin und her, sieht man, anders gesagt, Ecken vor- bzw. zurückspringen. Diese Kippfigur ist unter der Bezeichnung Necker-Würfel geläufig; genannt nach jenem Schweizer Geologen und Kristallographen, der das Kippen beim Betrachten von durchsichtigen Kantendarstellungen von Kristallformen im Jahr 1832 schriftlich festgehalten hatte (vgl. [Wade et al. 2010a]). Als „Machs Buch“ (Abb. 13) wird die Verbindung zweier Parallelogramme bezeichnet, die in der Regel zunächst als geöffnetes „Buch“ (bzw. geknickte Karte) gesehen wird[13], das (die) dem Betrachter den Rücken zuwendet. Alternativ blickt man in das aufgeschlagene Buch hinein ([Mach 1987a]). Eine Reihe von schräg angeordneten „Knickfiguren“ ergibt die „Schrödersche Treppe“ (Abb. 14), bei der Untersicht und Aufsicht ineinander umschlagen können. Netzwerke von Parallelogrammen erscheinen als Texturen von Quadern/Würfeln, deren Ecken man mal nach innen, mal außen springen sieht – ein Motiv das sich in griechischen und römischen Mosaiken findet und auch bei Möbelfurnieren vorkommt ([Gregory 2000a]). Perspektivische Mehrdeutigkeit hat Konsequenzen für die Wahrnehmung von Bewegung: Bei einäugiger Betrachtung tritt die plötzliche Umstülpung auch bei einem Drahtwürfelwürfel auf;[14] dreht sich das Gebilde, so kehrt sich mit dem Umspringen die wahrgenommene Drehrichtung um.[15] Das geschieht auch, wenn man die Projektion eines rotierenden Drahtwürfels betrachtet. Ein Beispiel für eine natürliche Situation, bei der die Bewegungsrichtung in den Augen des Betrachters umschlagen kann, nennt Otto Klemm: „Die Windmühle, die man als dunklen Schattenriß am Horizont schräg von der Seite sieht, dreht sich je nach perspektivischer Vorstellung in verschiedener Richtung." Die Computeranimation „spinning dancer“ spielt ebenfalls mit einer (weitgehenden) perspektivischen Äquivalenz entgegengesetzter Tiefenausrichtungen von Körpern, von denen man lediglich die Silhouette sieht. [16]
Zwischenresümee
Weitere Typen von KippfigurenEin weiterer Typus von Kippbildern, bei dem es um räumliche Tiefe geht, sind Bilder mit Schattenindikatoren, die sowohl auf konvexe als auch auf konkave Wölbungen hinweisen können (Abb.); in Lehrbüchern wird dieser Aspekt von Schattierungswahrnehmung meist zugunsten vermeintlich eindeutiger Wölbungswahrnehmung in Abhängigkeit von der impliziten Lage der Lichtquelle („Licht von oben“ vs. „von unten“) vernachlässigt (demonstriert durch Drehung des Bildes um 180°); bereits die oben bzw. unten angedeuteten Schatten schließen indessen ein Kippen zwischen konvexem und konkavem Eindruck nicht aus, dreht man die Demonstrationsbeispiele um 90°, verlagert also das Helligkeitsgefälle auf eines zwischen rechter und linker Seite, so erleichtert dies die Fluktuation der Sichtweisen. Unter natürlichen Umständen tritt Wölbungsambivalenz beispielsweise im Hinblick auf die Segel entfernter Schiffe auf.[19] Die Scheinbewegung, die man durch benachbarte, in schneller Abfolge aufleuchtende bzw. verlöschende Lämpchen erzeugen kann, ist bei geeigneter Anordnung – etwa bei acht in gleichem Abstand auf einer Kreislinie angeordneten Lämpchen, von denen jeweils 4 im schnellen Wechsel aufleuchten – ambivalent hinsichtlich der Richtung. Bei statischen Bildern mit zweidimensionalen geometrischen Figuren kann ein Umspringen der wahrgenommenen Ausrichtung eintreten. Die drei Richtungen etwa, auf welche die Spitzen eines gleichseitigen Dreiecks zeigen, kann man nicht zugleich sehen (bei horizontaler oder vertikaler Ausrichtung einer der Seiten tendiert man spontan dazu, die dieser jeweils gegenüberliegende Spitze als richtungsweisend wahrzunehmen; [Attneave 1971a] und [Wittgenstein 1990a]). Schließlich ordnen sich Muster beim Betrachten in unsteter Weise (Abb. 16, [Metzger 2008a]&[Stadler & Kruse 1995a]); auch hier gehen meist Wechsel der wahrgenommenen Gruppierung mit solchen der wahrgenommenen Ausrichtung von Elementen des Musters Hand in Hand. Psychologische und neurowissenschaftliche Diskussion
Nicht einmal die Frage, ob es überhaupt sinnvoll ist, sich mit dem Phänomen zu beschäftigen, ist unstrittig: Neben dem Hauptstrom der Forschung, in dem das Thema stets gegenwärtig blieb, hielten Anhänger einer „ökologisch“ – sprich: an den natürlichen Umständen des Wahrnehmens – orientierten Forschung Distanz: Man habe es hier nicht mit potentiell besonders erhellenden Grenzfällen des Wahrnehmens zu tun – wie bis heute von jenen, die Kippfiguren untersuchen, meist mehr oder minder ausdrücklich argumentiert wird –, sondern mit denaturierten Vorgaben einer lebensfernen Laborforschung.[21] Zu betonen, dass die meisten natürlichen Wahrnehmungssituationen sich vom Betrachten von Kippbildern unterscheiden, schließt indessen nicht aus, dass solche Bilder – ex negativo – Prinzipien der Ökologie des Wahrnehmens verdeutlichen können. Entsprechend kann eine Forschungsperspektive, die auf den Umwelt- und Handlungsbezug des Wahrnehmens orientiert ist, ihrerseits das Verständnis von Kippbildern befördern ([Leopold & Logothetis 1999a]). Seit langem wird diskutiert, ob das Umschlagen der Wahrnehmung von einer Art Ermüdung („Sättigung“) in Nervennetzen rühren könnte; da diesbezüglich meist relativ frühe Stufen der Reizverarbeitung unter Verdacht stehen, gilt die Sättigungstheorie auch als „Bottom-up-Hypothese“. Dem steht die Vermutung gegenüber, dass nicht zuletzt Wissen und Aufmerksamkeit, also (eher bewusste) mentale Prozesse, die den „Automatismen“ grundlegender Module des visuellen Systems nachgelagert bzw. übergeordnet sind, eine wesentliche Rolle spielen („Top-down-Hypothesen“). Die im Laufe der Zeit angehäuften empirischen Befunde deuten, das sei einem Ausblick auf Methoden und Ergebnisse der experimentellen Erforschung von Kippphänomenen vorausgeschickt, darauf hin, dass die Wahrheit jenseits dieser plakativen (und zugleich unscharfen) Entgegensetzung liegt. Für den Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler war die Ermüdungserklärung Bestandteil der These, Wahrnehmen überhaupt basiere – analog zu in der Physik untersuchten Erscheinungen – auf antagonistischen Prozessen neuronaler Selbstorganisation. Das Kippen gilt hier ganz ausdrücklich als generelles Funktionsprinzip des Gehirns, welches bei stabilen Wahrnehmungen nur nicht zu Bewusstsein komme. Diese Behauptung mag den Reiz eines Paradoxes haben, ist aber hinsichtlich des namhaft gemachten allgemeinen Funktionsprinzips nicht mehr als eine metaphorisch formulierte Vermutung; und anderseits erscheint diese These nicht gerade darauf angelegt, die Besonderheit von Wahrnehmungsprozessen, bei denen es zum Kippen kommt, zu erklären. In diese Tradition stellen sich neuere Bemühungen multistabiles Wahrnehmen im Rahmen des systemtheoretischen Zugangs der „Synergetik“ [Kruse & Stadler 1995a] als Schlüssel zum Verständnis des Wahrnehmens zu nutzen. Wenn in diesem Sinn das Kippen als „herausragendes methodologisches Fenster für das Messen der Dynamik des visuellen Systems“ [Kruse et al. 1995a] angesprochen wird, bleibt es nicht aus, dass u. a. Analogien von Kippfiguren und mathematischen Modellierungen der Quantenmechanik ins Feld geführt werden ([Caglioti 1995a]). Untersuchungsmethoden:
Ergebnisse
Ungeachtet der offenen Fragen angesichts der hier schlaglichtartig angedeuteten komplexen Befundlage kann man festhalten, dass Kippbilder wohl eher durch Deutungen zu erhellen sind, welche bedenken, wie sich diese Situationen zum prinzipiellen Handlungs- bzw. Umweltbezug des Wahrnehmens verhalten, als durch losgelöste Modelle der Selbstorganisation bzw. Analogien zu physikalischen Phänomenen. Philosophische DiskussionSpätestens mit Wittgensteins Beispiel des Hasen-Enten-Kopfs (H-E-Kopf) hat das Kippbild Eingang in den philosophischen Diskurs gefunden (vgl. nochmals Abb. 7 oben). Wittgenstein Interesse für das Kippbild rührt aus seiner Fragestellung zur unterschiedlichen Verwendungsweisen des Ausdrucks „sehen“ her (vgl. [Glock 2000a] und [Rager 1997a]). So unterscheiden wir das gewöhnliche Sehen-von vom Sehen-als. Beispielsweise lässt sich das gewöhnliche Sehen einer Wolke vom Sehen einer Wolke als Schaf unterscheiden. Eine andere Art von Unterscheidung liegt im Falle des H-E-Kopfes vor, wenn man ihn entweder als Hasenbild oder als Entenbild sieht. Wittgenstein spricht in diesem Fall von Aspektsehen oder Aspektwechsel. Die Frage, die ihn dabei u.a. interessiert, lautet, ob der Aspektwechsel jeweils mit einem Wechsel eines Wahrnehmungserlebnisses einhergeht und dieser Wahrnehmungserlebniswechsel erklären kann, warum wir eben das eine mal einen Hasen und das andermal eine Ente sehen. Klar scheint ja erst einmal zu sein, dass wir beim Betrachten des H-E-Kopfs in gewisser Hinsicht jedes Mal das gleiche wahrnehmen oder sehen, egal ob wir entweder gerade der Aspekt des Hasen- oder des Entenkopfs aufleuchtet. Nach Wittgenstein kann uns hier die Gestalttheorie nicht weiter helfen, der zufolge wir beim Sehen des Hasen- bzw. des Entenkopfes jeweils unterschiedliche Gestalten wahrnehmen würden (vgl. [Glock 2000a]: S. 43 und [Krkac 2010a]). Die Gestalt ist ja jedes Mal dieselbe, der Unterschied liegt alleine in unserem Seherlebnis, dass das eine Mal im Sehen eines Hasenbildes und das andere Mal im Sehen eines Entenbildes besteht. Vor ähnlichen Problemen wie der Gestalttheoretiker steht der Repräsentationalist, der behauptet, dass unsere Wahrnehmung in einem inneren Bild des wahrgenommen Gegenstandes besteht. Auch für ihn gilt, dass er nur schwerlich leugnen kann, dass das Hasen- oder Entenbild also der jeweilige Aspekt, den der Betrachter wahrnimmt, erst einmal auf der gleichen Repräsentation beruhen muss (nämlich in beiden Fällen auf einer, die auf der Umrissform des H-E-Kopfes beruht). Wie aber kann der Repräsentationalist die unterschiedlichen Wahrnehmungserlebnisse erklären? Der Repräsentationalist wird auf diese Frage ohne Zusatzannahmen keine befriedigende Antwort geben können (vgl. [Macpherson 1996a]).[22] Nach Wittgenstein kann weder die Gestalttheorie noch der Repräsentationalismus eine Erklärung für das Aspektsehen anbieten. Wittgensteins eigene Lösung besteht dagegen darin, dass Sehen-als nicht als eine reine Form der Wahrnehmung zu betrachten ([Wittgenstein 1971a]: S. 524): „Das ‚Sehen-als …‘ gehört nicht zur Wahrnehmung. Und darum ist es wie ein Sehen und wieder nicht ein Sehen.“ Das Aufleuchten des Aspekts ist nach Wittgenstein „halb Seherlebnis, halb ein Denken“ (ebd. S. 524). Zum Aspektsehen muss also eine kognitive Leistung hinzukommen, die über eine bloße Wahrnehmung hinausgeht (vgl. [Glock 2000a]: S. 44 f.). Aspektsehen ist für Wittgenstein eine kognitive Fähigkeit und das Fehlen dieser Fähigkeit, die Aspektblindheit, ist für ihn vergleichbar mit Farbenblindheit oder „dem Mangel des musikalischen Gehörs‘“ (ebd. 552). Die Aspektblindheit zeigt sich aber nicht in dem Fehlen bestimmter Wahrnehmungen, sondern in der Unfähigkeit kognitiv auf bestimmte Fragen zu reagieren. Anders gesagt, die Fähigkeit den Aspekt zu sehen, zeigt sich in bestimmten sprachlichen Reaktionen, etwa „jetzt sehe ich’s“. Dieser Ausdruck, mit dem ich mein Erlebnis des Aspektwechsles mitteile, ist zumindest in einer Hinsicht vergleichbar mit dem Schrei, der meinen Schmerz anzeigt. Beide beziehen sich nicht auf mentale Gegenstände (innere Bilder) sondern sind Ausdruck eines Erlebnisses. Innerhalb der Bildwissenschaften hat sich an prominenter Stelle Ernst Gombrich auf Wittgensteins Überlegungen bezogen ([Gombrich 1977a]: S. 21). Für Gombrich ist Wittgensteins Auseinandersetzung mit Kippbildern deshalb von Bedeutung, weil nach Gombrich auch beim Betrachten von Bildern eine Art von Aspektwechsel stattfindet, nämlich wenn wir zwischen der Illusion des Sehens des Bildraums oder des Bildsujets und dem bloßen Sehens des Bildträgers hin- und herwechseln. So wüssten wir zwar, dass wir in Wirklichkeit einen zweidimensionalen Gegenstand sehen, auch wenn wir die Illusion haben, einen dreidimensionalen zu sehen. Gombrich vergleicht dieses Phänomen mit dem Aspektwechsel beim Hasen-Enten-Kopf. Richard Wollheim weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, dass dieser Vergleich fehlgeleitet ist: Beim H-E-Kopf wechseln wir nicht zwischen dem Sehen des H-E-Kopfs und dem Bildträger, sondern zwischen zwei Bildinhalten ([Wollheim 1982a]: S. 199). Wollheims Kritik weist daraufhin, dass wir zwei Fälle bei Bildern unterscheiden sollten. Auf der einen Seite können wir zwischen dem Bildinhalt und dem Bildträger unterscheiden und auf der anderen Seite zwischen zwei Bildinhalten eines Bildträgers. Nur im letzten Fall liegt nach Wollheim ein echter Aspektwechsel vor. Dies wird auch darin deutlich, dass wir bei echten Aspektwechsel nicht gleichzeitig beide Aspekte wahrnehmen können, während dies bei Bildern kein Problem und nach Wollheim sogar die Voraussetzung für das Sehen von Bildern ist. Bei Bildern müssen wir nach Wollheim gleichzeitig Bildträger und Bildinhalt wahrnehmen („twofoldness“). Wollheim unterscheidet in dieser Hinsicht das Sehen-in (hier liegt ein zweiheitliches Sehen vor) vom Sehen-als (einer Art des Aspektsehens). Wichtig in diesem Zusammenhang ist für Wollheim die Lokalitätsbedingung: beim Sehen-als können wir immer auf die Stelle hinweisen, die Ursache für die beiden Aspekte ist (z.B. beim H-E-Kopf die Löffel bzw. der Schnabel). Gleiches ist bei Sehen-in nicht notwendigerweise möglich. Wollheims Auffassung wird u.a. von Dominic Lopes kritisiert. Seine Gegenbeispiele sind Trompe l'œil Bilder, bei denen es uns zuweilen nicht möglich ist, den Bildträger zu sehen und gegenstandslose Bilder, die keinen Bildinhalt besitzen ([Lopes 1996a]: § 2.3). Gegen Lopes lässt sich einwenden, dass eine Person, der es im Fall eines Trompe l'œils Gemälde nicht gelingt, den Bildträger zu sehen, eben nicht das Gemälde als Bild sieht, sondern nur vermeintlich den dargestellten Gegenstand. Dies trifft auch für den Fall zu, dass die Person selbst weiß, dass sie nicht den Gegenstand selbst sieht. Es handelt sich in diesem Fall also um eine optische Täuschung vergleichbar mit der Müller-Lyer-Täuschung, bei der die Linien auch dann dem Betrachter unterschiedlich lang erscheinen können, wenn er weiß, dass sie gleich lang sind. Eine Illusion dieser Art liegt aber beim Sehen von Bildern nicht vor. Vielmehr gehört es zum Sehen von Bildern dazu (twofoldness!), dass wir gleichzeitig den Bildträger und das Bildsujet sehen. Im Fall von gegenstandslosen Bildern kann auf Lopes entgegnet werden, dass auch bei diesen ein zweiheitliches Sehen vorliegt, nämlich zum einen das Sehen des zweidimensionalen Bildträgers und des vermeintlichen dreidimensionalen Bildraums. Siehe auch: |
Anmerkungen
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[Schönhammer 2011]: Schönhammer, Rainer (2011). Stichwort: Kippbilder. Verantwortlich: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [95], Klaus Sachs-Hombach [52], Franziska Kurz [21], Rainer Schönhammer [9], Eva Schürmann [1] und Jakob Steinbrenner [1] — (Hinweis) |