Komposition
Unterpunkt zu: Bildsyntax
Komposition, Bildsyntax und StilEtymologisch bezeichnet ‘Komposition’ etwas Zusammengesetztes und ist daher weitgehend identisch mit der Bildsyntax; der übliche Wortgebrauch mit seiner Herkunft aus der Musik impliziert jedoch ein wesenlich stärkeres Moment der hierarchischen Organisation von Teilen als im syntaktischen Kontext. Es ist gerade diese Bestimmung, die dem Begriff der Komposition einen metaphorischen Charakter verliehen und ihn für Jahrzehnte zur Grundlage aller Bildkritik hat werden lassen. Mehr als viele andere Begriffe ist die Entlehnung der Komposition aus dem Repertoire der Kunstwissenschaft für ihre eigene Bestimmung wichtig geworden; kein Kunstwerk ist ohne sie denkbar. Dass jedes Bild als Komposition aufzufassen ist kann dagegen keine direkte Konnotation zur Kunst nach sich ziehen. Jedes Bild – von der mimetischen Darstellung eines präzise erkennbaren Ausschnitts der Realität bis zur monochromen, nur durch ihre Kante definierten Fläche – kann als Komposition gesehen, begriffen und beurteilt werden. In der Ästhetik ist die Komposition Grundlage eines Geschmacksurteils; diese Bestimmung gilt dann für alle Sinnesorgane: Ein Duft wird ebenso komponiert wie ein Menu, ein Musikstück oder ein Bild. Im Bereich des Tastsinns – für die bildende Kunst primär im Bereich der Skulptur – ist die Komposition Element einer sinnlichen Substitution; was nicht erfühlt werden kann oder darf, wird als Komposition in die Anschauung transformiert. Für die Malerei wird diese Substitution zu einer eigenen Unterkategorie der Komposition, der Faktur als visuelle Evokation einer haptischen Sensation (⊳ Textur). In allen diesen Kontexten fungiert Komposition – ähnlich wie der Begriff des Stils ([Gumbrecht 1986a]) – als sprachliche Konvention mit hohem Konnotationspotential und ist eine der wesentlichen Beschreibungskategorien der Ästhetik. Im Sinn des Geschmacksurteils wird eine Komposition dann als ausgewogen und positiv beurteilt, wenn die Anordnung ihrer Teile und des Ganzen in klaren, einfach beschreibbaren Verhältnissen zu bestimmen ist – hier gibt es eine ontologische Interdependenz der Komposition zur Mathematik. Die letztliche Unbestimmtheit des Ausdrucks ‘Komposition’ – vor allem in seinem Alltagsgebrauch – macht ihn zu einer Generalmetapher, semiotisch gesprochen: zu einem Leerzeichen der Bildsyntax, denn das Verhältnis von ikonischen Teilen eines Bildes zueinander oder zum Ganzen samt seinem Umraum ist begrifflich durch andere syntaktische Kategorien – sprachliche und/oder mathematische Formdifferenzen – leichter zu fassen als durch eine meist metaphysisch umwölkte Komposition ([Worringer 1908a]). Anders als in der Musik, in der die Komposition durch die Notation nach einem festen Regelwerk (und dessen gezielter Verletzung im Detail) fixiert ist, hat die Komposition für die Bildsyntax nicht mehr die Bedeutung, die sie ursprünglich für die Selbstdefinition eines Fachs wie der Kunstgeschichte hatte.
Elemente der KompositionKomposition ist die Anordnung von Zeichen auf der Fläche des Bildes. Dies geschieht unabhängig von einer formalen Definition dieser Zeichen. Komponiert werden können Linien, Flächen, Farben, Perspektiven, Körper(teile) sowie deren Kombinationen und Integrale. Zwei Ebenen der Komposition sind zu unterscheiden: die aktive, intendierte und auf Effekt ausgerichtete Tätigkeit des Zusammenfügens in einer Komposition sowie der Prozess im Erkennen einer Komposition bei der Betrachtung eines Bildes. Beide Ebenen können unabhängig voneinander konstruiert werden, weisen aber auch gemeinsame Elemente auf, die sich als umgangssprachliche Nebel über das Verständnis eines Bildaufbaus legen. Dies geschieht vor allem da, wo die Anordnung so getroffen wird, dass die verschiedenen Zeichen zueinander in hierarchischen Beziehungen stehen und dadurch gewichtet wie gewertet werden. Insbesondere ikonologische Untersuchungen von Kunstwerken und bildlichen Darstellungen bedienen sich der Komposition als Grundlage von Werturteilen im Kontext einer Interpretation. Der aktive Begriff einer Komposition impliziert also die Anordnung von Zeichen im Bild; dies setzt nicht unbedingt voraus, dass diese Anordnung – wie etwa in den klassischen Medien der bildenden Kunst – willentlich und wissentlich getroffen wird. Es ist nachgerade ein Spezifikum der technischen Bildmedien seit dem Auftreten von Camera Obscura und Fotografie, dass die Ausrichtung eines Zeichengeräts und die Auswahl eines zu betrachtenden Ausschnitts sämtliche Elemente einer – auch und gerade – subordinierenden Komposition nach sich zieht. Selbstverständlich sind Bilder aus Automaten und generativen, auch computierenden Konstruktionen als Kompositionen anzusehen; allein die nachfolgende Interpretation wird durch das Wissen einer solchen Genese verändert. Dennoch impliziert die Verwendung des Begriffs der Komposition zwei intendierte Nutzungen: die der wissentlichen Anordnung von Elementen in einer noch zu schaffenden Komposition – prinzipiell als Arbeit des (musikalischen) Komponisten, (visuellen) Künstlers oder (alle Sinne umfassenden) Designers verstanden; andererseits als Grundlage der Erkenntnis der ästhetischen, künstlerischen oder geschmacksbildenden Elemente eines gegebenen Werks, Objekts oder Prozesses. Die aktive Definition der Komposition ist in der Geschichte der Ästhetik direkt mit der Entwicklung des Geniebegriffs gekoppelt ([Sulzer 1774a]). Das Zusammenstellen einer gelingenden Komposition, gleich in welchem Medium, entzieht sich der sprachlichen Kritik durch Dritte – allein der Nachvollzug kann in Form einer Hermeneutik gefasst werden. Im aktiven Bereich der Fügung einer Komposition kann nicht einmal mehr von einer klaren Distinktion ihrer einzelnen Teile ausgegangen werden, zumal dies dem Autoren/Künstler/Komponisten im Prozess der Verfertigung nicht bewusst werden muss. Allerdings sind hier definitorische Grenzen gegeben, die sich durch die Geschichte der Kunst in allen ihren Ausprägungen gezogen haben: Vom Einsatz halluzinogener Mittel im kreativen Prozess bis zur Nutzung zufälliger, autopoëtischer und schließlich automatisch generierender Verfahren im Finden und Arrangieren einzelner Teile der Komposition ist die Genese eines Werks immer wieder im Begriff der Kunst kritisiert worden. Mit Joseph Beuys mag zwar davon gesprochen werden, dass jeder Mensch ein Künstler sei – aber eine Komposition aus dem Computer ist in dieser Sicht niemals als Kunstwerk zu beschreiben ([Klotz 1995a]: S. 64). Einfacher ist die Komposition als Moment der Erkenntnis von Bildern zu fassen: Wo ein Rahmen, Rand oder Umraum gegeben sind, können diese proportional unterteilt werden, darin enthaltene Flächen nach ihren Teilen und Zusammenhängen überprüft, dreidimensionale Formen auf ihre Verhältnismäßigkeit nach innen und außen betrachtet werden; und diese Erkenntnisse lassen sich mit einiger Übung in Worte fassen. Erkenntnis und Beschreibung einer Komposition sind demnach erste Schritte einer Bildhermeneutik, insbesondere für alle die Fälle, wo nicht ein mediales Vorwissen, reproduktives Vorbild oder reproduzierbarer Sinneseindruck (Klang, in geringerem Maße Geruch oder Geschmack) aufgerufen werden kann. Diese Betrachtung ist für jedes Bild gegeben, das als solches erkannt wird, unabhängig von irgendeiner Definition seiner Genese oder Eigenschaft als Musikstück, Kunstwerk, Designobjekt, Medien-Image oder wissenschaftliche Illustration. Allerdings setzt die Bildung eines auf der Komposition beruhenden, positiven Geschmacksurteils einen Konventionalisierungsprozess in Gang, der in (zeitlich) spätere Definitionen von Kunst einfließt. In diesen Prozess der Konventionalisierung mündet eine Betrachtung des Vorgangs der Erkenntnis einer Komposition in einem gegebenen Ganzen (Werk), die zu einer Binnendifferenzierung als Grundlage der Speicherung im Gedächtnis führt: Aus einer kompositorischen Betrachtung werden ikonische Superzeichen herausgebrochen, die als Fragmente im Gedächtnis verbleiben, wo sie bei Abruf als neuer, memorierter Sinneseindruck zusammengesetzt, also komponiert werden. Dieser Vorgang ist unter dem Begriff der »Formkonstanz« an zahlreichen Gegenständen des Alltags überprüft worden, wobei sich in der Re-Komposition enorme Abweichungen ergeben können, ohne dass das Wiederkennen eines Objekts oder Zeichenkomplexes darunter leidet ([Biederman 1995a]). Allerdings macht die Betrachtung derartiger Prozesse im Mikro- und Makrobereich der Zeichenerkennung und –validisierung unter dem Begriff der Komposition wenig Sinn, weil sie einerseits in ihrer Physiologie zu schnell ablaufen, um noch mit einem Begriff der Intentionalität verbunden zu werden, andererseits aber auch nicht wirklich zu einem tieferen Verständnis der formalen Zusammenhänge in einem Bild führen. Siehe auch:
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Inhaltsverzeichnis
Anmerkungen
[Biederman 1995a]: Biederman, Irving (1995). Visual object recognition. In: Kosslyn, S. F. & Osherson, D. N. (Hg.): An Invitation to Cognitive Science, Volume 2., Visual Cognition. Cambridge MA: ??, S. 121-165, 2nd edition.
[Gumbrecht 1986a]: Gumbrecht, Hans Ulrich (1986). Schwindende Stabilität der Wirklichkeit. Eine Geschichte des Stilbegriffs. In: Gumbrecht, H. U. & Pfeiffer, K. L. (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kunstwissenschaftlichen Diskurses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 726-787. [Klotz 1995a]: Klotz, Heinrich (1995). Zur Ästhetik der elektronischen Kunst. In: Klotz, H. (Hg.): Eine neue Hochschule (für neue Künste). Stuttgart: Cantz Verlag, S. 59-68, Schriftenreihe der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Bd.5. [Sulzer 1774a]: Sulzer, Johann Georg (1771-74). Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Lexikon der Künster und der Ästhetik. Leipzig, Digitale Bibliothek Bd. 67, Berlin, 2004. [Worringer 1908a]: Worringer, Wilhelm (1908). Abstraktion und Einfühlung, Ein Beitrag zur Stilpsychologie. Bonn: ??, Berlin, 1959. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [25] — (Hinweis) |