Kontextbildung

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
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Unterpunkt zu: Bildpragmatik

English Version: Context-Building Acts


Der Zugang zu nicht-gegen­wärti­gen Situ­ati­onen

Lebewesen beschäftigen sich gemein­hin ausschließ­lich mit der ihnen direkt gege­benen Umwelt. Vergan­genes erscheint allen­falls impli­zit in gera­de akti­vierten Verhal­tenswei­sen, inso­fern diese vorgän­gig durch bestimm­te Situ­atio­nen verän­dert worden sind, Zukünf­tiges als Erfül­lungsbe­dingun­gen aktu­eller Wünsche. Demge­genüber beherrscht der Mensch die Fähig­keit, sich spontan aus dem Hier und Jetzt zu lösen und sein aktu­elles Verhal­ten auch expli­zit an nicht-gegen­wärti­gen Situ­atio­nen auszu­richten. Das zeigt sich nicht zuletzt in der Verwen­dung von Propo­sitio­nen, also von Zeichen­handlun­gen, die über einen Sachbe­zug verfü­gen, insbe­sonde­re den Aussa­gen.

Der spezifische Kontext­bezug, der eine zentra­le funktio­nale Voraus­setzung für Aussa­gen darstellt (⊳ Moda­lität), wird in der Regel durch eine eige­ne Kompo­nente in der Gesamt­zeichen­handlung, die die Aussa­ge bildet, herge­stellt. Das ist die Kontext­bildung. Teilzei­chenhand­lungen, die Hinwei­se darauf geben, dass nun über eine bestimm­te vergan­gene oder zukünf­tige, hypo­theti­sche oder fikti­ve Situ­ation gespro­chen wird oder über eine Situ­ation aus der Perspek­tive eines ande­ren, sind typi­sche Formen der Kontext­bildung (dazu unten mehr).

Das, was linguistisch oft verall­gemei­nert das ‘Diskurs­univer­sum’ einer Gruppe mit­einan­der Kommu­nizie­render genannt wird, besteht, genau­er bese­hen, aus einer dyna­mischen Struktur von verschie­denen Kontex­ten, die auf vielfäl­tige Weise mit­einan­der verbun­den und in­einan­der geschach­telt sein können. Zum einen können indi­vidu­elle sorta­le Objek­te die Kontex­te über ihre raumzeit­liche Ent­wicklung mit­einan­der verbin­den. Zum ande­ren beste­hen Einbet­tungsver­hältnis­se, wenn ein Kontext von einem ande­ren Kontext aus erreich­bar ist, d.h. aus ihm abge­leitet werden kann. Die unmit­telba­re Äuße­rungssi­tuation stellt meist den Ausgangs­punkt für Kontext­bildun­gen dar, die ande­re Kontex­te so in jene einbet­ten, dass die Kommu­nika­tionspart­ner sich nicht nur auf Objek­te in entwe­der dem aktu­ellen oder dem einge­bette­ten Kontext bezie­hen können (⊳ Nomi­nation). Vielmehr sind sie auch in der Lage, Bezie­hungen zwischen beiden (bzw. zwischen den so verfüg­baren Erschei­nungswei­sen ein und dessel­ben Gegen­stands) herzu­stellen.[1]

Ab­bil­dung 1: ‘Or­son Wel­les ist Al­fred Hitch­cock’ – Bei­spiel für un­ei­gent­li­che Iden­ti­täts­aus­sa­gen mit zwei men­ta­len Räu­men bei Fau­con­nier
Die Be­zeich­nung ‘Kon­text­bil­dung’ schließt an die Ter­mi­no­lo­gie von Gil­les Fau­con­nier an, der in [Fau­con­nier 1985a]Fauconnier, Gilles (1985).
Mental Spaces - Aspects of Meaning Construction in Natural Language. Cambridge, MA: MIT Press.

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ei­nen lin­gu­is­ti­schen An­satz zum sprach­li­chen Sach­be­zug aus­ge­ar­bei­tet hat: Ein ‘men­tal space’ be­zeich­net dort ei­ne in­ten­ti­o­na­le Men­ge von Ge­gen­stän­den, auf die man sich sprach­lich be­zieht. Sie werden lingu­istisch durch so genann­te ‘space builder’ erzeugt und können dann komple­xe Einbet­tungsstruk­turen bilden mit verschie­denen Arten von Verbin­dungen zwischen Gegen­ständen in unter­schiedli­chen menta­len Räumen. Mit dieser Konzep­tion kann Faucon­nier eine Reihe von Schwierig­keiten, die sich unter ande­rem bei der lingu­isti­schen Ana­lyse der Refe­renzbe­ziehung für kontra­fakti­sche Aussa­gen und bei unei­gentli­chen Iden­titäts­aussa­gen (vgl. Abb. 1) stellen, auf ele­gante Weise lösen.[2]


Kontextbildung und Kontext­refe­renzie­rung

Der Akt der Kontextbildung umfasst, genau genom­men, zwei Unter­arten. Zum einen kann durch eine (Teil-)Zeichen­handlung ein unab­hängig davon zugäng­licher Kontext ins Spiel gebracht werden: Dies heißt Kontext­refe­renzie­rung. Kontext­refe­renzie­rung geschieht etwa durch expli­zite oder impli­zite Hinwei­se auf Ort und Zeit. Bereits Tempus­anga­ben können so impli­zit einen zeitlich bestimm­ten Kontext in den Fokus rücken, ihn von der Äuße­rungssi­tuation aus “zugäng­lich” machen.[3]

Zum anderen kann ein Kontext durch die (Teil-)Zeichen­handlung zual­lererst erzeugt werden: Es handelt sich dann um eine Kontext­bildung im enge­ren Sinn. Beispiels­weise stellt eine Erzäh­lung eine (sehr komple­xe) Form der Kontext­bildung im enge­ren Sinn dar, da die Menge der darin erwähn­ten Gegen­stände, ihre Verhält­nisse zuein­ander und deren zeitli­che Entwick­lung nicht unab­hängig von der Gesamt­zeichen­handlung, die die Erzäh­lung bildet, beste­hen. Die Wahrheit einer Aussage über diese Gegen­stände kann letztlich nur anhand der Sachbe­züge der Sätze im Text der Erzäh­lung (rela­tiv zu einer ange­nomme­nen Kommu­nika­tionssi­tuation bei der Rezep­tion des Textes; ⊳ Bildre­zeption als Kommu­nika­tionspro­zess) über­prüft werden. Der durch eine solche Kontext­bildung vermit­telte Kontext umfasst nicht einfach die Menge der Sachbe­züge, die im Verlauf des erzähl­ten Textes expli­zit ange­geben werden. Vielmehr handelt es sich um einen der Kontex­te, in denen unter ande­rem all jene Sachbe­züge gelten und weite­re Sachver­halte, die die Rezi­pienten als hier gültig voraus­setzen (Präsup­posi­tionen), sowie die daraus insge­samt mögli­chen Impli­katio­nen (deduk­tive Vollstän­digkeit der Situ­ation); der vermit­telte Kontext ist also zu einem gewis­sen Grad abhän­gig von den Zeichen­handeln­den und damit von der Äuße­rungssi­tuation (herme­neuti­scher Zirkel).

Ein medienverweisendes Satz­adverb, wie etwa ‘in Uwe Johnsons Roman «Jahres­tage»’ ist damit ein auf eine solche Kontext­bildung im enge­ren Sinn verwei­sende Kontext­refe­renzie­rung. Ana­loges gilt für Verwei­se auf ande­re Medien, insbe­sonde­re Bilder und Filme: ‘in Leonar­do da Vincis Gemäl­de «Die Dame mit dem Herme­lin»’, ‘in Alfred Hitch­cocks Film «Verti­go»’. Das legt die Vermu­tung nahe, dass Kontext­bildung im enge­ren Sinn eine grundle­gende kommu­nika­tive Funktion des Bildge­brauchs darstellt (⊳ moda­le Bildthe­orie).

Ungesättigte oder gesät­tig­te Kon­text­bil­dung

Ein augenfälliger Unterschied zwischen den oben erwähnten Bei­spielen für Kontext­bildun­gen liegt darin, dass Tempus­anga­ben, tempo­rale und loka­le Satzad­verbien und adver­biale Ergän­zungen mit Verwei­sen auf medi­ale Werke für sich allei­ne nicht vorkom­men können: Sie sind (im Sinne Freges) unge­sättigt und bedür­fen weite­rer Teilzei­chenhand­lungen, die in der Regel eine Propo­sition rela­tiv zu dem gebil­deten Kontext vollzie­hen. Demge­genüber ergibt eine Erzäh­lung insge­samt eine gesät­tigte, d.h. für sich allei­ne stehen­de Form der Kontext­bildung. Wiede­rum lässt sich diese Abge­schlossen­heit auch für ande­re medi­ale Formen der Kontext­bildung im enge­ren Sinn (auf die, wie oben ange­geben, durch sprachli­che Kontext­refe­renzie­rungen verwie­sen werden kann) anneh­men, insbe­sonde­re Bilder. Ihre Verwen­dung entsprä­che dann einer gesät­tigten Kommu­nika­tionshand­lung mit dem Ziel, einen neuen nun gemein­sam verfüg­baren (komple­xen) Kontext im Diskurs­uni­versum der Kommu­nika­tionspar­tner einzu­führen.

Gleichwohl ist zu beachten, dass eine solche Kontext­bildung in aller Regel nicht nur zum Selbstzweck durchge­führt wird: Sie hat zunächst prinzi­piell den Sinn, die neu einge­führten Kontex­te als Basis für weite­res gemein­schaftli­ches Handeln (insbe­sonde­re auch Reden da­rüber) nutzen zu können. Die gesät­tigte Kontext­bildung steht mithin immer im Rahmen weite­rer kommu­nika­tiver Inter­akti­onen zwischen den Betei­ligten.

Sachbezug und Wahrheit bei Kon­text­bil­dung

Da Kontextbildungen die Basis für Propo­sitio­nen bilden, handelt es sich zumin­dest bei den Kontext­bildun­gen im enge­ren Sinn um Zeichen­handlun­gen, die selbst keinen Sachbe­zug aufwei­sen, da ansons­ten ein infi­niter Regress aufträ­te. Die Kontext­bildung im enge­ren Sinn führt den Kontext zual­lererst ein, auf den sich ein poten­tieller Sachbe­zug der Zeichen­handlung bezie­hen müsste: Die Kontext­bildung eröff­net über­haupt die Möglich­keit, eine ande­re Zei­chen(teil)hand­lung mit Sachbe­zug zu vollzie­hen. Anders gefasst: Da eine Situ­ation nicht einfach einer endli­chen Menge von zutref­fenden Sachver­halten (Tatsa­chen) entspricht, sondern inter­preta­tionsof­fen ist, d.h. prinzi­piell das Poten­tial für unend­lich viele Beschrei­bungen rela­tiv zu ganz verschie­denen Begriffs­feldern umfasst, macht es keinen Sinn, eine endgül­tige endli­che Menge von propo­sitio­nalen Beschrei­bungen anzuneh­men, die einen durch Kontext­bildung inter­subjek­tiv einge­führten Kontext vollstän­dig erfass­te und deren Sachbe­zug daher als Sachbe­zug der kontext­bilden­den Zei­chen(teil)hand­lung aufge­fasst werden könnte (⊳ auch Ekphra­sis).

In der Folge ist es auch nicht ohne Weite­res sinnvoll, den Begriff der Wahrheit auf Kontext­bildun­gen anzu­wenden, wird dieser Begriff doch als Maß dafür verwen­det, ob ein rela­tiv zu einem Kontext behaup­teter Sachver­halt entwe­der deduk­tiv mit einer akzep­tierten Menge von Behaup­tungen über jene Situ­ation verträg­lich ist (Kohä­renzthe­orie der Wahrheit) oder in dem Kontext nachweis­lich (empi­risch) zutrifft (Korres­pondenz­theorie der Wahrheit).

Selbstbezug bei Kon­text­bil­dung

Infolge des fehlenden Sachbe­zugs spielt der Selbstbe­zug bei kontext­bilden­den Zeichen­handlun­gen eine beson­ders wichti­ge Rolle, denn nur die Selbstdar­stellung des eine Kontext­bildung vollzie­henden Kommu­nika­tionsteil­nehmers kann die Aufga­be über­nehmen, eine inter­subjek­tiv verfüg­bare Bezugs­basis für darauf aufbau­ende Sachbe­züge zu liefern. Es ist wichtig, sich klarzu­machen, dass es zwar auch möglich (und in Bemer­kungen über Kontext­bildung sogar unum­gänglich) ist, über Situ­atio­nen/Kon­texte propo­sitio­nal zu reden und sich dabei nomi­nato­risch auf sie zu bezie­hen. Doch bedeu­tet das auch, Situ­atio­nen als Gegen­ständen gegen­über­zutre­ten, die dann ihrer­seits also wieder als Gegen­stände nur in bestimm­ten abstrak­ten Räumen (d.h. speziel­len meta­phori­schen Situ­atio­nen = Kontex­ten) vorkom­men, welche dann ihrer­seits erst durch einen Akt der Kontext­bildung verfüg­bar gemacht werden müssen. Der Akt der Kontext­bildung selbst muss daher in der damit vollzo­genen Selbstdar­stellung kulmi­nieren. In der Kombi­nation von fehlen­dem Sachbe­zug und dem Fokus auf den Selbstbe­zug gehört die Kontext­bildung zu den Bekun­dungen bzw. zum bekun­denden Anteil einer Zeichen­handlung.

Der Selbstbezug von Kontext­bildun­gen muss ganz allge­mein offen­sichtlich in einer Selbstdar­stellung beste­hen, die man durch folgen­de Phrase umschrei­ben kann: ‘Sich darstel­len als jemand, dessen Aufmerk­samkeit sich expli­zit einer ande­ren Situ­ation zuwen­det’. Zwar gehört das osten­tative Zeigen spezi­fischer Spontan­reaktio­nen auf die gemein­te Situ­ation nur im Grenzfall zur Selbst­darstel­lung, doch zeigt dieser sich darin beson­ders deutlich.

Logische und empi­ri­sche Kon­text­bil­dung

Man kann sich natür­lich auch darstel­len als einer, der sich der aktu­ellen Situ­ation auf diese distan­zierte Weise zuwen­det. Aller­dings gibt es in diesem Fall einen deutli­chen Unter­schied zu ande­ren Kontext­bildun­gen: Nur im aktu­ellen Kontext ist es nämlich möglich, eine auf den Kontext bezo­gene konkre­te Propo­sition empi­risch zu über­prüfen. Die senso­moto­rischen Testrou­tinen, die mit der Unter­scheidungs­gewohn­heit asso­ziiert sind, die ihrer­seits durch die Prädi­kation der Propo­sition bestimmt wird, können auf die durch die Nomi­natio­nen der Propo­sition im Kontext iden­tifi­zierten Gegen­stände unmit­telbar ange­wendet werden und liefern so empi­rische Erkennt­nisse. Wird etwa behaup­tet, der Apfel in der entfern­ten heimi­schen Küche sei rot­backig, ist, der Entfer­nung wegen, ein Anschau­en jenes Apfels und Beur­teilen auf Rot­backig­keit nicht ohne Weite­res möglich. Wird hinge­gen behaup­tet, der Apfel hier sei rot­backig, genügt ein Blick auf den anwe­senden Apfel: Unse­re senso­moto­rische Ausstat­tung erlaubt es, die Prädi­kation zu bestä­tigen oder ihr begrün­det zu wider­sprechen.

Die distanzierte Zuwen­dung zur aktu­ellen Situ­ation ist daher eine Kontext­bildung mit empi­rischer Verge­genwär­tigung: kurz empi­rische Kontext­bildung. Ihr stehen die Kontext­bildun­gen mit ledig­lich logi­scher Verge­genwär­tigung (kurz: logi­sche Kontext­bildun­gen) gegen­über: Ohne empi­rischen Zugang kann hier die Wahrheit einer Behaup­tung rela­tiv zu dem Kontext nur kohä­renzthe­oretisch über logi­sche Kompa­tibi­lität mit ande­ren Aussa­gen über den Kontext beur­teilt werden.[4]


Piktoriale Kontext­bil­dung

Wie oben bereits erwähnt können adver­biale Ergän­zungen, die auf ein Bild verwei­sen, als Kontext­refe­renzie­rungen verwen­det werden. So mag etwa der Ausdruck ‘in Picas­sos «Les Demoi­selles d'Avig­non»’ ganz zwanglos als Kontext­bildung etwa für die Behaup­tung, dass ‘drei Frauen eine Art afri­kanische Masken tragen’, dienen. In Abwe­senheit des Bildes bleibt die Kontext­bildung aller­dings rein logisch. Ange­sichts des Bildes aber kann jene Behaup­tung als empi­risch offen­sichtlich falsch entschie­den werden. Die Vermu­tung liegt nahe, dass die Kontext­refe­renzie­rung durch den Verweis auf das Bild tatsäch­lich sekun­där gegen­über der ursprüng­liche­ren Kontext­bildung im enge­ren Sinne durch die Präsen­tation des Bildes selbst ist. In der Tat werden mit Bildern in der Regel indi­vidu­ierte Gegen­stände in einer Art gemein­samer Situ­ation darge­stellt – eine Äuße­rung, die durchaus auch für Roma­ne zutrifft, auch wenn es ansons­ten viele Unter­schiede gibt. Insbe­sonde­re handelt es sich bei der pikto­rialen Kontext­bildung im Gegen­satz zu der rein logi­schen Kontext­bildung durch einen Text um eine zumin­dest partiell empi­risch Kontext­bildung, denn die Geltung der Prädi­katio­nen von visu­ellen Merkma­len oder davon abhän­gigen ande­ren Unter­scheidun­gen können im Bildraum mehr oder weni­ger unmit­telbar über­prüft werden. Die pikto­rial vermit­telten Kontex­te erschei­nen also als partiell mit der je aktu­ellen Verhal­tenssi­tuation verschmol­zen.

Dass ‘Bildverwen­dung grundle­gend visu­ell-empi­rische Kontext­bildung im enge­ren Sinne’ sei ist daher die Kernthe­se der moda­len Bildthe­orie. Dabei ist zu berück­sichti­gen, dass die Kontex­te für verschie­dene Bildar­ten durchaus unter­schiedlich gebil­det werden.

Piktoriale Kontext­bildung bei dar­stel­len­den Bil­dern

Mit Hilfe von darstel­lenden Bildern werden in aller Regel vornehm­lich visu­elle Aspek­te mögli­cher Verhal­tenssi­tuati­onen als Kontex­te für gemein­sames sprachli­ches oder nicht-sprachli­ches Handeln zur Verfü­gung gestellt. Ana­log zur Inter­preta­tion der je aktu­ellen Erschei­nungswei­sen sorta­ler Gegen­stände im Wahrneh­mungsraum als persis­tente Indi­viduen werden auch in den durch pikto­riale Kontext­bildung in einer immer­währen­den Gegen­wart präsen­tierten Erschei­nungen Gege­benheits­weisen zeitlich-ausdau­ernder indi­vidu­eller Gegen­stände begrif­fen: Obwohl von abge­bilde­ten Gegen­ständen meist keine ande­re Gege­benheits­weisen vorlie­gen – also keine Begeg­nungen in ande­rem Kontext möglich sind – verste­hen wir sie als Gegen­stände mit Geschich­te, als Objek­te, denen wir zumin­dest im Prinzip auch in ande­ren Situ­atio­nen wieder (als densel­ben Objek­ten) begeg­nen könnten.[5]

Diese Interpretation spielt vor allem bei Abbil­dungen realer Gegen­stände eine zentra­le Rolle, etwa einem Fahndungs­foto. Gesucht wird ja nicht ein Mensch, der der Pigment­fläche des Bildträ­gers ähnelt, sondern diesem Menschen im Bildraum. Die Nomi­nation ‘dieser Mensch’ ist auf den Kontext bezo­gen, der mit dem Bild eröffnet wird.

Piktoriale Kontext­bil­dung bei trompe l'œils

Die Besonderheiten der speziel­len darstel­lenden Bilder vom Typ des trompe l'œils (oder des immer­siven Bildes) liegen nicht daran, dass bei der unre­flektier­ten Rezep­tion keine Kontext­bildung stattfin­det, da das Bild ja in dem Fall gar nicht als Bild erkannt wird. Tatsäch­lich handelt es sich vielmehr um eine zu gut gelun­gene und dadurch disfunk­tiona­le pikto­riale Kontext­bildung, die sowohl bei der Herstel­lung wie beim reflek­tierten Betrach­ten wieder als ganz norma­len visu­elle Kontext­bildung wirkt (⊳ Dezep­tiver und immer­siver Modus).

Piktoriale Kontext­bil­dung bei lo­gi­schen Bil­dern

Da mit logischen Bildern wenig­stens zum Teil etwas an sich nicht visu­ell Wahrnehm­bares präsen­tiert wird, liegt ihrer Seman­tik eine meta­phori­sche Begriffs­über­tragung vom darge­stellten Bereich in den Bereich sichtba­rer und somit bildlich direkt darstell­barer Enti­täten zugrun­de. Mithin wird eine durch pikto­riale Kontext­bildung bereit­gestell­te Verhal­tenssi­tuation als ein Modell für einen mehr oder weni­ger komple­xen nicht-visu­ellen Zusam­menhang verwen­det. Die kontext­bilden­de Funktion erwei­tert sich damit auf den an sich nicht-wahrnehm­baren Phäno­menbe­reich: Insbe­sonde­re werden auf diese Weise auch belie­bige abstrak­te Zusam­menhän­ge als eine (poten­tielle) Verhal­tenssi­tuation visu­ell erfahr­bar und inter­indi­vidu­ell empi­risch zugäng­lich (⊳ Image Schema­ta).

Piktoriale Kontext­bil­dung bei Bild­zita­ten und ande­ren refle­xiv verwen­deten Bil­dern

Reflexive Zeichenverwen­dungen sind allge­mein abge­leite­te Verwen­dungswei­sen (⊳ Bild in refle­xiver Verwen­dung). Das nun primä­re exemp­lari­sche Vorfüh­ren von Eigen­arten der jewei­ligen Zeichen­nutzung setzt insbe­sonde­re die eigent­liche pragma­tische Funktion des zitier­ten oder refle­xiv verwen­deten Zeichens außer Kraft. Das gilt ana­log auch für Bilder. Eine ursprüng­lich kontext­bilden­de Funktion wäre daher bei refle­xiv verwen­deten Bildern – sofern sie nicht gera­de das zu exem­plifi­zieren­de Merkmal darstellt – nicht mehr wirksam oder jeden­falls nicht mehr unmit­telbar wirksam. Gleichwohl steht dieser Verwen­dungszweck mit vielen ande­ren Aspek­ten des Bildge­brauchs in engem Zusam­menhang, so dass zwar die eigent­liche kontext­bilden­de Funktion aufge­hoben ist, da die Präsen­tation des Bildes nun einem ande­ren Zweck dient, aber einge­bettet in dieser Exemp­lifi­kation gleichwohl ein zentra­ler Faktor bleibt.

Piktoriale Kontext­bildung bei un­gegen­ständ­lichen Bil­dern

Der fehlende Verweis auf räumli­che Gegen­stände im übli­chen (sorta­len) Sinn setzt bei un­gegen­ständli­chen Bildern zunächst den Mecha­nismus außer Kraft, der den Bildraum als visu­ell wahrge­nomme­ne Verhal­tenssi­tuation etab­liert. Daher erscheint es auf den ersten Blick unplau­sibel, auch bei dieser Art von Bildern von Kontext­bildung als ihrer pragma­tischen Grundfunk­tion auszu­gehen.

Allerdings können ungegen­ständli­che Bilder sehr gut als refle­xiv genutz­te Bilder mit nega­tiver Exemp­lifika­tion begrif­fen werden, so dass ihr Verwen­dungszweck einer­seits (infol­ge der refle­xiven Verwen­dung) ohne­hin von der grundle­genden Verwen­dung von Bildern abge­setzt wäre und mehr im Exem­plifi­zieren von Aspek­ten der Bildver­wendung besteht, nicht in der Kontext­bildung. Ande­rerseits betrifft die nega­tive Exemp­lifi­kation bei ihnen gera­de auch die nicht funkti­onie­rende Kontext­bildungs­fähig­keit, die damit wiede­rum ex nega­tivo als typisch für Bilder im Normal­fall bestä­tigt wäre.


Primäre Kontext­bil­dung

In anthro­polo­gischen Bildthe­orien geht es vor allem darum, die Rolle der Fähig­keit, Bilder verwen­den zu können, in den Rahmen der diffe­rentiae speci­ficae philo­sophi­scher Menschen­begrif­fe einzu­ordnen. Aus Sicht der moda­len Bildthe­orie ist daher vor allem zu klären, ob und auf welche Weise die Bildkom­petenz bereits beim Über­gang zum Begriff eines Wesens mit der Fähig­keit zur Kontext­bildung – der primä­ren Kontext­bildung – eine syste­mati­sche Funktion über­nimmt.

In der Tat lassen sich gute Gründe dafür anfüh­ren, dass sich eine primä­re Kontext­bildung nicht rati­onal konzi­pieren lässt ohne die Verwen­dung mindes­tens einer Art wahrneh­mungsna­her Zeichen zu berück­sichti­gen, die als inter­indi­vidu­ell verfüg­bare Grundla­ge für die empi­rische Veran­kerung der Refe­renzfunk­tion propo­sitio­naler Sprache dient ([Schirra & Sachs-Hombach 2006b]Schirra Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2006).
Fähigkeiten zum Bild- und Sprachgebrauch. In Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 54, 6, 887-905.

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, [Schirra & Sachs-Hombach 2011a]Schirra Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2011).
Anthropologie in der systematischen Bildwissenschaft: Auf der Spur des homo pictor.
In Disziplinen der Anthropologie, 145-177.

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und [Schirra & Sachs-Hombach 2013a]Schirra, Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2013).
The Anthropological Function of Pictures.
In Origins of Pictures, ??, im Erscheinen.

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). Die empi­risch-kontext­bilden­de Funktion dieser Prä-Bilder kann gleichwohl nur über eine damit verschal­tete verba­le (d.i. logi­sche) Kontext­bildung stabi­lisiert werden: Bildkom­petenz und Sprachkom­petenz gelten daher als gleichur­sprünglich und logisch von­einan­der abhän­gig. Im Zentrum dieser Abhän­gigkeit steht der Zusam­menhang zwischen dem Begriff »menta­les Bild« und der Situ­ation der primä­ren Kontext­bildung (⊳ Logi­sche Kontext­bildung und menta­le Bilder).
Anmerkungen
  1. Aus­sa­gen mit Iden­ti­täts­sät­zen sind ty­pi­sche Bei­spie­le für Zei­chen­hand­lun­gen mit ei­nem Sach­be­zug, der Ge­gen­stän­de in ver­schie­de­nen Ge­ge­ben­heits­wei­sen – d.h. aus un­ter­schied­li­chen Kon­tex­ten – be­trifft. Wie Fre­ges Ana­ly­se klar ge­macht hat, sind Äuße­run­gen mit Sät­zen wie ‘Der Mor­gen­stern ist (iden­tisch mit dem) der Abend­stern’ nur dann sinn­voll (sprich: in­for­ma­tiv), wenn die be­haup­te­te Iden­ti­tät nicht be­reits aus dem Ver­ste­hen der No­mi­na­ti­o­nen ana­ly­tisch folgt. In­for­ma­tiv ist dann, dass ‘Mor­gen­stern’ und ‘Abend­stern’ – als zwei in ver­schie­de­nen (Klas­sen von) Kon­tex­ten (näm­lich ein­mal nur ‘mor­gens’ und ein­mal nur ‘abends’) auf­tre­ten­de Ge­gen­stän­de – als As­pek­te des­sel­ben sor­ta­len Ge­gen­stand (‘Pla­net Ve­nus’) be­trach­tet wer­den sol­len; vgl. [Fre­ge 1892a]Frege, Gottlob (1996).
    Über Sinn und Bedeutung, zitiert nach der Ausgabe in: Frege, Gottlob: Funktion, Begriff, Bedeutung. Göttingen: Vandenhoeck, 40-65.

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    .
  2. Der Be­griff des Kon­tex­tes geht über Fau­con­niers Be­griff des men­ta­len Raums ins­be­son­de­re in der Hin­sicht hin­aus, dass Kon­tex­te auf die Ver­hal­tens­mög­lich­kei­ten des be­trach­te­ten We­sens in der kon­tex­tu­el­len Si­tu­a­ti­on be­zo­gen sind. Kon­text­bil­dung er­öff­net ent­spre­chend über den Be­griff »space buil­der« hin­aus die Per­spek­ti­ve auf ge­mein­schaft­lich er­wei­ter­te Hand­lungs­spiel­räu­me mit Be­zug auf an­de­re Si­tu­a­ti­o­nen.
  3. Da No­mi­na­ti­o­nen im­mer nur re­la­tiv zu ei­nem als be­kannt vo­r­aus­ge­setz­ten Kon­text funk­ti­o­nie­ren, kön­nen zu­min­dest Kenn­zeich­nun­gen eben­falls als im­pli­zi­te, wenn auch in der Re­gel sehr va­ge Kon­text­re­fe­ren­zie­run­gen ver­wen­det wer­den, so­fern we­der die Äu­ße­rungs­si­tu­a­ti­on noch ein an­de­rer bis­lang ein­ge­führ­ter Kon­text als Be­zug wahr­schein­lich ist (d.h. wenn kein Ge­gen­stand des ent­spre­chen­den Typs dort vor­han­den ist). Bei­spiels­wei­se könn­te im ak­tu­el­len Kon­text plötz­lich von ‘dem Kö­nig von Ku­les­tra’ die Re­de sein. In ei­nem sol­chen Fall wird – als Aus­gangs­punkt für wei­te­re in­for­ma­ti­ve Äu­ße­run­gen bzw. Äu­ße­rungs­tei­le – ein neu­tra­ler, d.h. weit­ge­hend un­spe­zi­fi­scher Kon­text mit ei­nem (pro­to-)ty­pi­schen Ex­em­p­lar der an­ge­ge­be­nen Art er­öff­net, mit­samt dem für Auf­tre­ten die­ser Ge­gen­stän­de ty­pi­schen Um­feld. Die­ser Kon­text dient dann u.a. als Hin­ter­grund für Prä­sup­po­si­ti­o­nen zu und Schluss­fol­ge­run­gen über das Mit­ge­teil­te.
  4. Die Un­ter­schei­dung von lo­gi­scher und em­pi­ri­scher Kon­text­bil­dung mo­di­fi­ziert ei­nen As­pekt der Ge­gen­über­stel­lung von di­e­ge­sis und mi­me­sis aus Pla­tons «Staat» bzw. Aris­to­te­les' «Poe­tik»; ⊳ Mi­me­sis; ⊳ Kon­text: Kon­text und Di­e­ge­se; vgl. Wi­ki­pe­dia: Di­e­ge­sis.
  5. Die Ver­wen­dung dar­stel­len­der Bil­der, etwa in Be­die­nungs­an­lei­tun­gen, wä­re an­sons­ten nicht nach­voll­zieh­bar.
Literatur                             [Sammlung]

[Fau­con­nier 1985a]: Fauconnier, Gilles (1985). Mental Spaces - Aspects of Meaning Construction in Natural Language. Cambridge, MA: MIT Press.

[Fre­ge 1892a]: Frege, Gottlob (1996). Über Sinn und Bedeutung, zitiert nach der Ausgabe in: Frege, Gottlob: Funktion, Begriff, Bedeutung. Göttingen: Vandenhoeck, 40-65. [Schirra & Sachs-Hombach 2006b]: Schirra Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2006). Fähigkeiten zum Bild- und Sprachgebrauch. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Band: 54, Nummer: 6, S. 887-905. [Schirra & Sachs-Hombach 2011a]: Schirra Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2011). Anthropologie in der systematischen Bildwissenschaft: Auf der Spur des homo pictor. In: Meyer, S. & Owzar, A. (Hg.): Disziplinen der Anthropologie. Münster: Waxmann, S. 145-177. [Schirra & Sachs-Hombach 2013a]: Schirra, Jörg R.J. & Sachs-Hombach, Klaus (2013). The Anthropological Function of Pictures. In: Sachs-Hombach, K. & Schirra, J.R.J. (Hg.): Origins of Pictures. Köln: Halem, S. ??, im Erscheinen.


Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Ausgabe 1: 2013

Verantwortlich:

Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [74], Klaus Sachs-Hombach [5] und Emilia Didier [1] — (Hinweis)

Zitierhinweis:

[Schirra 2013g-p]Literaturangabe fehlt.
Bitte in der Bibliographie-Sammlung einfügen als:
- Buch,
- Artikel in Zeitschrift,
- Beitrag in Sammelband,
- Sammelband,
- andere Publikation,
- Glossarlemma.
[Schirra 2013g-p]:
Literaturangabe fehlt.
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