Perspektivik

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
Version vom 27. Dezember 2011, 20:18 Uhr von Sonja Zeman (Diskussion | Beiträge) (Perspektivik als anthropologische Basisprämisse)
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Unterpunkt zu: Bildwahrnehmung


Perspektivik als relationales Prinzip

Der Terminus Perspektivik referiert auf ein basales kognitives Prinzip, das auf der grundlegenden Disposition menschlicher Raumwahrnehmung basiert, als konkrete Objekte für das sehende, an einen Körper gebundene Subjekt immer nur aus einem bestimmten Blickwinkel erfassbar sind: Beim Blick auf eine Statue bestimmt der Standort des Betrachters, ob die Vorder-, Rück-, Ober- oder Unterseite des Objekts wahrnehmbar ist. Im kanonischen Fall der konkreten Perzeptionssituation ist dieser Standort bedingt durch das Hier und Jetzt des Betrachters: die wahrgenommenen Aspekte sind Resultat des jeweiligen spatio-temporalen Standorts, während jeder Positionswechsel einen Wechsel der Ansicht und damit eine Veränderung der Erscheinung des jeweiligen Objekts nach sich zieht (vgl. [Foppa 2002: 17]Foppa, Klaus (2002).
Know­ledge and Perspec­tive Setting. What Possi­ble Conse­quences on Conver­sation Do we Have to Expect?.
In Perspec­tive and Perspec­tiva­tion in Dis­course, 15–23.

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; [Graumann 2002: 25f.]Graumann, Carl Friedrich (2002).
Ex­plicit and Im­plicit Perspec­tivity.
In Perspec­tive and Perspec­tivation in Dis­course, 25–39.

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). Gemäß dieser aus dem Leibapriori ableitbaren „Grundbedingung aller Wahrnehmung“ ([Köller 2004: 11]Köller, Wilhelm (2004).
Perspek­tivi­tät und Sprache. Zur Struktur von Ob­jek­tivie­rungsfor­men in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin, New York: de Gruyter.

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) erweist sich das Prinzip der Perspektivik als standortabhängige Relation zwischen wahrnehmenden Subjekt und wahrgenommenen Objekt. In dieser Hinsicht hat Dürer das Auge, den „Gegenwurf“ (als Lehnübersetzung zu lat. objectum) und den Abstand zwischen diesen beiden Bezugspunkten für die Beschreibung von Perspektive als konstitutiv erachtet: „Daz erst ist daz awg, daz do siht. Daz ander ist der gegen würff, der gesehen wirt. Daz trit ist dy weiten do tzwischen.“ ([Rupprich [Dürer] 1969: 373]Rupprich, Hans (1969).
Dürer, schriftli­cher Nachlaß. Band 2: Die Anfän­ge der theore­tischen Studien. Das Lehrbuch der Male­rei: Von der Mass der Menschen, der Pferde, der Gebäu­de; Von der Perspek­tive; Von Farben. Ein Unter­richt alle Mass zu ändern. Berlin: Deutscher Verein für Kunst­wissen­schaft.

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) [1]

Von dieser „natürlichen“ Perspektivität (perspectiva naturalis) als grundlegend kognitivem wie genuin relationalem Konzept ist die „künstliche“ Perspektivität (perspectiva artificialis) als Darstellungsmodus zu unterscheiden, die auf einer Übertragung dieses Grundprinzips basiert und aufgrund der Differenz zwischen Urbild und Abbild in einem Spannungsverhältnis zu „natürlichen“ Perspektivierungsstrukturen steht. In dieser abstrakten Bedeutung erweist sich das Prinzip der Perspektivik für die Symbolsysteme Bild und Sprache gleichermaßen als basal. Vor dem Hintergrund erkenntnistheoretischer Fragestellungen ist Perspektivität zudem als Ordnungsbegriff zu verstehen, der hinsichtlich der konzeptionellen Erfassung von Bedeutungsinhalten durch die Relation zwischen Objekt- und Subjektsphäre bestimmt ist. Das Prinzip der Perspektivik ist damit vor dem Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Kognition, Symbolsystem und seinem Verhältnis zur Welt zu beschreiben, wie sie innerhalb der Bildwissenschaft für die Problembereiche von → Mimesis, → Naturalismus und Realismus, → Ähnlichkeit und wahrnehmungsnahe Zeichen verhandelt wird.


Perspektivik: Perspektiven und „die Perspektive“

Der Terminus Perspektive entstammt dem Bereich der visuellen Wahrnehmung und führt etymologisch zurück auf lat. perspicere ‚genau sehen‘. In dieser Bedeutung bezeichnet die perspectiva naturalis (bzw. perspectiva communis, visio perspectiva) als Übersetzung des griechischen Begriffs der optike techné (vgl. [Boehm 1969: 11]Boehm, Gottfried (1969).
Stu­dien zur Perspek­tivi­tät. Philo­sophie und Kunst in der frühen Neu­zeit. Heidel­berg: Carl Winter.

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) ursprünglich die antike und mittelalterliche Theorie des „direkten, reflektierten oder gebrochenen Sehens“ ([Damisch 2010: 85]Damisch, Hubert (2010).
Der Ur­sprung der Perspek­tive. Zürich: Dia­phanes.

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). Von dieser „natürlichen“ Perspektive als psychophysiologischem Anschauungsmodus ist die perspectiva artificialis als Darstellungsmodus (vgl. [Thaliat 2005: 204]Thaliat, Babu (2005).
Perspek­tivierung als Moda­lität der Symbo­lisie­rung. Erwin Panof­skys Unter­nehmung zur Auswei­tung und Präzi­sierung des Symbo­lisie­rungspro­zesses in der Philo­sophie der symbo­lischen Formen von Ernst Cassi­rer. Würzburg: Königs­hausen & Neumann.

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) bzw. „Perspektive der Maler“ ([Damisch 2010: 11]Damisch, Hubert (2010).
Der Ur­sprung der Perspek­tive. Zürich: Dia­phanes.

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) zu trennen, wie sie terminologisch auch unter den Begriffen der Angewandten Perspektive, ars perspectiva, künstlerische bzw. künstliche Perspektive gefasst wird und sie sich beispielsweise als Farb-, Licht- und Luftperspektive bzw. Bedeutungs-/Relevanzperspektive etc. objektiviert zeigt (→ Perspektive und Projektion). Seit der Renaissance wird der Terminus der künstlichen Perspektive nun nicht vorzugsweise als allgemeine Bezeichnungsweise für Projektionsverfahren spatialer Darstellung verwendet, sondern ebenfalls als Bezeichnung für den spezifischen Darstellungsmodus der Zentral- bzw. Linearperspektive als systematische Verfahrensweise zur Darstellung des dreidimensionalen Raumes auf einer zweidimensionalen Oberfläche ([O'Riley 1998: 17]Literaturangabe fehlt.
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), die seit ihrer Entwicklung im 14. Jahrhundert als der korrekte Darstellungsmodus der visio perspectiva menschlicher Wahrnehmung gilt und damit zur Perspektive per se wird. Diese Bedeutungsverengung ist bereits in der Bezeichnung Dürers der (Zentral-)Perspektive als durchsehung abzulesen (Item prospectiua ist ein lateinisch wort, pedewt ein durchsehung, [Rupprich [Dürer] 1969: 373]Rupprich, Hans (1969).
Dürer, schriftli­cher Nachlaß. Band 2: Die Anfän­ge der theore­tischen Studien. Das Lehrbuch der Male­rei: Von der Mass der Menschen, der Pferde, der Gebäu­de; Von der Perspek­tive; Von Farben. Ein Unter­richt alle Mass zu ändern. Berlin: Deutscher Verein für Kunst­wissen­schaft.

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), als das Bild des „Durchblicks“ das linearperspektivische Konzept der Zentrierung des Blickfelds impliziert.

Vor der Doppeldeutigkeit des Begriffs der Perspektive erweist sich das Konzept der Perspektivik damit zum einen als universale Basisprämisse für jede Wahrnehmungs- wie Darstellungsform (→ Abschnitt 3), zugleich wird vor dem Hintergrund der obigen Begriffsbestimmung deutlich, dass zwischen den jeweiligen Ausprägungen von Perspektivität in Abhängigkeit zum jeweiligen kulturhistorischen Bedingungsgefüge zu differenzieren ist (→ Abschnitt 4). Diese Ambiguität spiegelt sich exemplarisch in den Kontroversen um den Status der Zentralperspektive wider: auf der individuellen Ebene in der Frage nach dem Verhältnis des zentralperspektivischen Darstellungs- zum „natürlichen“ Wahrnehmungsmodus („Natürlichkeitsparadoxon“), auf der kulturellen Ebene in der Kontroverse um den Status als „symbolische Form“ bzw. kulturgebundenes Dispositiv (→ Abschnitt 4.2).

Perspektivik als anthropologische Basisprämisse

Perspektivik als kognitives Basiskonzept: Der Standort des Betrachters

Während die spatio-temporale Gebundenheit des Individuums eine unhintergehbare Basisprämisse stellt, setzt das Prinzip der Perspektivik als standortgebundene Wahrnehmung eines Objekts gleichzeitig implizit die Gegebenheit potentieller Alternativen zum jeweils aktuellen Blickwinkel voraus. Die Erkenntnis der mit dieser Grunddisposition verbundenen Relativität der Betrachtung und die daran geknüpfte Fähigkeit, sich von der eigenen Perspektive lösen zu können und andere potentielle Standorte als gleichberechtigte Alternativen zu erkennen, stellt die Voraussetzung für perspektivisches Denken, wie es als inhärentes Charakteristikum der menschlichen Kognition gilt (vgl. Canisius 1987: xiii), muss ontogenetisch aber erst erworben werden: Leibapriorisch bedingt ist die primäre Phase der Entwicklung monoperspektivisch geprägt, als Kinder in diesem frühen Stadium zunächst nicht in der Lage sind, sich mental an einen anderen Sehepunkt versetzen zu können (vgl. Brunner-Traut 1992; Graumann 2002: 29). Erst durch die Überwindung des „intellektuellen Egozentrismus“ (Piaget/Inhelder 1972) kommt es mit der Entwicklung des Bewusstseins des eigenen Subjekts als Voraussetzung einer Theory of Mind zur Ausprägung der Fähigkeit perspektivischen Denkens. Das bewusste Einnehmen einer Perspektive und deren Vermittlung sind in diesem Sinne abstrakte mentale Fähigkeiten. Obgleich ausgehend vom konkreten „Augenpunkt“ innerhalb der Perzeptionssituation ist damit der point of view als Ausgangspunkt der Perspektivensetzung nicht mit der physikalischen Verortung eines aktuellen Betrachters gleichzusetzen. Dies gilt auch für bildliche Darstellungen, als auch dort der Ausgangspunkt einer Perspektive – analog zur Konzeptionalisierung von Raum-Relationen in der Sprache (vgl. Levinson 2003) – als abstraktes Projektionszentrum zu verstehen ist, der „außerräumlich imaginär“ (Boehm 1969: 18) bleibt, vgl. Graumann 2002:

Perspektivität als pragmatische Kategorie: „Subjektivität“

Perspektivik als erkenntnistheoretische Kategorie: Relativität und Point of view

Perspektivik im Schnittpunkt bildwissenschaftlicher Fragestellungen

Anmerkungen
  1. Dürer nennt an dieser Stelle insgesamt fünf konstitutive Elemente der prospectiva, wobei die beiden weiteren Merkmale („Daz firt: alding sicht man durch gerad linj, daz sind dy kürtzesten linj. Item daz fünft ist dy teillung von ein ander der ding, dy dw sichst.“; Rupprich [Dürer] 1969: 373) durch die spezifische Charakteristik der Zentralperspektive bedingt sind, die für Dürer als „die“ Perspektive gilt.
Literatur                             [Sammlung]

[O'Riley 1998: 17]:
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[Boehm 1969: 11]: Boehm, Gottfried (1969). Stu­dien zur Perspek­tivi­tät. Philo­sophie und Kunst in der frühen Neu­zeit. Heidel­berg: Carl Winter.

[Damisch 2010: 11]: Damisch, Hubert (2010). Der Ur­sprung der Perspek­tive. Zürich: Dia­phanes. [Foppa 2002: 17]: Foppa, Klaus (2002). Know­ledge and Perspec­tive Setting. What Possi­ble Conse­quences on Conver­sation Do we Have to Expect?. In: Graumann, C. F. & Kall­meyer, W. (Hg.): Perspec­tive and Perspec­tiva­tion in Dis­course. Amster­dam, Phila­delphia: Benja­mins, S. 15–23. [Graumann 2002: 25f.]: Graumann, Carl Friedrich (2002). Ex­plicit and Im­plicit Perspec­tivity. In: Graumann, C. F. & Kall­meyer, W. (Hg.): Perspec­tive and Perspec­tivation in Dis­course. Amster­dam, Phila­delphia: Benja­mins, S. 25–39. [Köller 2004: 11]: Köller, Wilhelm (2004). Perspek­tivi­tät und Sprache. Zur Struktur von Ob­jek­tivie­rungsfor­men in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin, New York: de Gruyter. [Rupprich [Dürer] 1969: 373]: Rupprich, Hans (1969). Dürer, schriftli­cher Nachlaß. Band 2: Die Anfän­ge der theore­tischen Studien. Das Lehrbuch der Male­rei: Von der Mass der Menschen, der Pferde, der Gebäu­de; Von der Perspek­tive; Von Farben. Ein Unter­richt alle Mass zu ändern. Berlin: Deutscher Verein für Kunst­wissen­schaft. [Thaliat 2005: 204]: Thaliat, Babu (2005). Perspek­tivierung als Moda­lität der Symbo­lisie­rung. Erwin Panof­skys Unter­nehmung zur Auswei­tung und Präzi­sierung des Symbo­lisie­rungspro­zesses in der Philo­sophie der symbo­lischen Formen von Ernst Cassi­rer. Würzburg: Königs­hausen & Neumann.


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Zeman, Sonja

Seitenbearbeitungen durch: Sonja Zeman [59], Dimitri Liebsch [23] und Joerg R.J. Schirra [22] — (Hinweis)