Text als Bild, konkrete Poesie

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
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Unterpunkt zu: Schriftbildlichkeit


Theoretischer Hintergrund: Schriftgestalt und Schriftbildlichkeit in literarischen Texten

Schriftliche Texte haben immer auch eine „Textgestalt“, und als solche wirken sie immer auch bildlich bzw. schriftbildlich in dem Sinne, dass sie nicht nur linear gelesen, sondern auch auf einen Blick in ihrer Gestalt auf der Fläche angeschaut bzw. erfasst werden. Wolfgang Raible spricht von der „Semiotik der Textgestalt“ und verweist darauf, dass die Zweidimensionalität der Schreibfläche vielfältig für die Strukturierung von Texten genutzt wird: etwa durch Überschriften, Absätze, Einrückungen, Fußnoten und Endnoten (vgl. [Raible 1991a]). Andere AutorInnen sprechen allgemeiner von der „Sichtbarkeit der Schrift“ (vgl. [Strätling & Witte 2006a]). Diese Sichtbarkeit, die Gestalthaftigkeit schriftlicher Texte, kann in unterschiedlicher Weise gehandhabt und in verschiedenem Maße reflektiert werden. Dies trifft auch und insbesondere für Texte aus dem Bereich der Literatur zu. Die Sichtbarkeit der Schrift wird in den verschiedenen literarischen Genres unterschiedlich stark ausgebeutet, einige Genres konstituieren sich überhaupt erst als solche über die Textgestalt. Polaschegg zum Beispiel macht auf die genuine Schriftbildlichkeit der Lyrik als literarischer Gattung aufmerksam, indem sie gegen die traditionelle Auffassung von der Lyrik als einer akustischen Kunst zur Geltung bringt, dass Gedichte immer schon „auf einen Blick“, das heißt anhand ihrer schriftbildlichen Erscheinung, als solche erkannt werden (vgl. [Polaschegg 2011a]. So ist es vor allem die durch Zeilenumbrüche markierte Versform, die dem Gedicht seinen unverwechselbaren visuellen Charakter gibt. Lyrik lebt von der spannungsvollen Differenz zwischen dem simultanen Sehen der Gestalt und der sukzessiven Lektüre der Schriftzeichen. Auch Witte verweist auf die visuelle Dimension der Lyrik, die durch die graphisch markierte Versform, das „Versbild“, gekennzeichnet ist (vgl. [Witte 2011a]). Der Begriff des „Versbildes“ impliziert für ihn dabei die spezifische (schriftbildliche) Sichtbarkeit einer komplexen Form der verbalen Sequentialisierung, die zwischen Sehen und Lesen produktiv zu changieren ermöglicht, und z.B. einzelne Wörter eines Gedichtes über Zeilenumbrüche „erratisiert“, „transgrammatikalisiert“ und diese in ganz neuen Konstellationen wahrnehmbar werden lässt. Jedoch lässt sich auch für literarische Prosa-Texte plausibel machen, dass Texte in ihrer Gestalt, und in diesem Sinne in ihrer (schrift-)bildlichen Dimension wahrgenommen werden und wirken (können) (vgl. [Giertler 2011a]). Auch Kalligraphie und Typographie sind Felder/Praktiken, in denen mit der Sichtbarkeit der Schrift bzw. mit der Textgestalt gearbeitet wird.

Text als Bild: Visuelle Poesie

In ganz besonders intensiver, radikaler und zugleich reflektierter Weise wurde und werden die Sichtbarkeit der Schrift und die Gestalthaftigkeit schriftlicher Texte in den unterschiedlichen Formen visueller Poesie genutzt bzw. ausgestellt. Visuelle Poesie ist in diesem Sinne als ein Sammelbegriff für alle Arten von Dichtung zu verstehen, bei denen die visuelle Präsentation eines Textes ein wesentliches Element der künstlerischen Konzeption darstellt, bei der der Schöpfer/die Schöpferin des Textes also die (schrift-)bildlichen Gestaltqualitäten der Schrift bewusst und intensiv nutzt. Im engeren Sinne verbunden wird der Begriff visuelle Poesie meistens mit experimentellen Arbeiten der literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts: etwa dem Dadaismus oder dem italienischen und russischen Futurismus in der ersten Jahrhunderthälfte sowie mit der literarischen Strömung der sogenannten „Konkreten Poesie“, die sich insbesondere im deutschsprachigen Raum ab den 1950er Jahren formierte, wie aber auch mit der sowjetischen Samisdat-Literatur.

Die „visuelle Poesie“ in diesem (mit der Avantgarde-Literatur verknüpften engeren) Sinne muss wohl als eine spezifisch europäische Gegenbewegung gegen das ansonsten im europäischen Kulturkreis dominierende Lesbarkeits-Paradigma der Schrift, das mit einer „Sichtbarkeitsvergessenheit“ einhergeht, verstanden werden. Diese Sichtbarkeits- und Materialitätsvergessenheit in Bezug auf die Schrift hat es in außereuropäischen Schriftkulturen in dieser Art vermutlich nie gegeben, da hier z.B. die Kalligraphie eine viel größere Wertschätzung genießt. Darüber hinaus ist zu bemerken, dass es Artefakte visueller Poesie auch in Europa bereits seit der Antike gegeben hat. Man denke an antike und barocke Figurengedichte (vgl. [Dencker 2011a]: S. 583ff.).

In der visuellen Poesie werden dabei ganz unterschiedliche schriftbildliche Gestaltqualitäten von Texten erzeugt, entweder über die Handschrift, die Schreibmaschinenschrift oder über die Typographie. Eine, aber eben nur eine Möglichkeit unter vielen ist dabei, dass der Text – wie im Fall der gerade erwähnten Figurengedichte – so geschrieben oder gesetzt wird, dass die Gestaltumrisse von raumzeitlichen Gegenständen oder visuellen Symbolen (die in bestimmter Weise mit dem Inhalt des geschriebenen Textes spielerisch korrespondieren) an der Gestalt des Textes selber sichtbar werden Diese Art Texte sind in ihrer buchstäblichen Figürlichkeit dann in derselben Weise als bildhaft-ikonisch aufzufassen wie die figürliche Zeichnung oder die gegenständliche Malerei. Um auch die anderen möglichen visuellen Gestaltungsaspekte von literarischen Texten im allgemeinen – und dann eben in diesem Falle der visuellen Poesie – in den Blick zu bekommen, ist vorgeschlagen worden, begrifflich zwischen dem Gestaltaspekt von Schriften und dem Bildaspekt von Schriften zu differenzieren und von Schriften als Bildern nur dann zu reden, wenn tatsächlich Figuren ikonisch abgebildet werden (vgl. [Polaschegg 2011a]).

Was sind nun diese anderen – über die Figürlichkeit hinausgehenden – Gestaltungsmöglichkeiten von Texten, die in der visuellen Poesie experimentell und spielerisch genutzt bzw. exemplifiziert werden? Es finden sich Experimente mit der räumlichen Dimension der Schrift, z. B. mit verschiedenen Schriftgrößen oder -farben für Buchstaben oder Wörter, und Experimente mit der räumlichen Positionierung der Buchstaben/Worte auf der Schreibfläche, ihrem konstellativen (Re-)Arrangement auf der Buchseite. Darüber hinaus finden sich Versuche, das Gestische der jeweiligen Schreibhandlung im Geschriebenen als Spur sichtbar zu machen sowie zudem Hybridbildungen aus Schrift und Bild (wie bei den sogenannten „Sprachblättern“ von Carlfriedrich Claus), begrifflich häufig als skripturale Malerei zusammengefasst, bei der die Übergänge zwischen Bild, Ornament und Schrift nicht eindeutig sind und meistens bewusst an der Schnittstelle von Lesbarkeit/Unlesbarkeit operiert wird. Dabei wird beim Leser/Betrachter ein Spiel von Semantisierung / Desemantisierung / Resemantisierung in Gang gesetzt. Für die Arbeiten der russischen Avantgarde der 1910er und 20er Jahre hat Georg Witte eine Typologie schriftbildlicher Verfahren entwickelt (vgl. [Witte 2005a]).

Konkrete Poesie

Die „Konkrete Poesie“ ist eine künstlerische Strömung ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die sich im Anschluss an den Begriff bzw. die Bewegung der „Konkreten Kunst“, vertreten vor allem durch den Schweizer Max Bill, seit den 1950er Jahren den materialen Basiselementen der Poesie in ihren einerseits visuellen und andererseits akustischen Darstellungsmedien zuwendet. Wichtige deutschsprachige Vertreter sind Eugen Gomringer, Franz Mon, Helmut Heißenbüttel, Hansjörg Mayer, Max Bense und Claus Bremer, international ist der Schwede Öyvind Fahlström zu nennen, der 1953 ein „Manifest für konkrete Poesie“ verfasste und damit auch den Namen prägte, die brasilianische Gruppe Noigandres sowie die Wiener Gruppe um H.C. Artmann. Die Aufmerksamkeit dieser Autoren gilt den einzelnen Buchstaben, Satzzeichen und Wörtern im Geschriebenen und den Lauten, (bzw. auch dem Klang der Stimme) im Gesprochenen.

Im Visuellen soll dabei die experimentelle graphische Anordnung der Wörter, Buchstaben und/oder Sätze neue „Konstellationen“ und damit auch neue – makrotypographische – Bedeutungsdimensionen eröffnen. Mit dem Begriff der Konstellation greift Gomringer in seiner programmatischen Schrift „vom vers zur konstellation“ (1955 erstmals publiziert, im Folgenden zitiert nach [Gomringer 1997a]) auf einen Begriff Mallarmés zurück und bezeichnet damit „die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung. [...] sie erlaubt das spiel. sie erlaubt die reihenbildung der wortbegriffe a, b, c und deren mögliche variationen“ ([Gomringer 1997a]: S. 16). Er bezieht sich also auf die Anordnung von verknapptem und syntaktisch unverbundenem Wortmaterial auf der weißen Papierfläche inklusive der Zwischen- und Umgebungsräume.

Ein weiteres Kennzeichen der ansonsten als künstlerische Strömung durchaus heterogenen Konkreten Poesie ist die akustische Dimension ihrer Wortkunst: So werden die visuellen Konstellationen von einigen Autoren, etwa von Ernst Jandl, intoniert, wodurch allein durch die Prosodie eine Art Dialog (vgl. [Dencker 2011a]: S. 631) entstehen kann. Die deutschsprachige Strömung der Konkreten Poesie sowie die ihr am nächsten stehende brasilianische Künstlergruppe Noigandres haben durch ihre Programmatik wie keine anderen eine selbstbewusste Identität entwickelt, die bis heute zur Weiterentwicklung visueller Dichtung inspiriert (vgl. [Drucker 1996a]: S. 58).

Visuelle Poesie im Computerzeitalter

Kinetische Poesie in vielfältiger Form beweglicher, veränderlicher Buchstaben- oder Wortfolgen findet sich nicht erst, seit es Computer gibt. Beispiele dafür sind filmische Realisationen, (Neon)Lichtinstallationen, Laufschriften und Projektionen (vgl. [Dencker 2011a]: S. 104ff.). Auch die durch den Computer leicht hervorrufbare Zufallskombinatorik zur Generierung von visueller Poesie findet sich schon in frühen Beispielen textpermutativer Techniken oder technisch analoger Poesie-Automaten (vgl. [Dencker 2011a]: S. 177ff.). Dennoch bietet die heutige Computertechnologie fraglos das weitaus größte Spektrum an medialer Kombinatorik: Durch die neuen Möglichkeiten des Gebrauchs der Schrift in Computerprogrammen bzw. im Internet bieten sich kaum begrenzte Möglichkeiten einer „animierten“ bzw. „operativen“ visuellen Poesie: Schriften/Texte werden nicht nur filmisch in Bewegung versetzt, sondern werden als ausführbare Programme oder Links programmiert (z.B. [Cramer 2011a]). Dencker unterscheidet insgesamt elf Typen computergesteuerter kinetischer Poesie, die von ihm chronologisch sortiert eine große Bandbreite umfassen: von ersten, noch linear strukturierten Texten, die am Computer mit zufallsgesteuerten Programmen erstellt wurden über nicht-lineare Hypertexte, Hypermedia, Interaktions- und Kollaborationstexten bis hin zu code-basierten selbstagierenden Texten (vgl. ([Dencker 2011a]: S. 265f.).

Vertreter visueller Poesie
  • Pierre Albert-Birot (Frankreich) [1]
  • H.C. Artmann (Österreich) [2]
  • Guillaume Apollinaire (Frankreich) [3]
  • Hugo Ball (D) [4]
  • Josef Bauer (Österreich) [5]
  • Max Bense (Deutschland) [6]
  • Chris Bezzel (D)
  • Claus Bremer (D)
  • Theo Breuer (D)
  • Joan Brossa (Spanien; Katalonien)
  • Giorgio Camastro (D)
  • Carlo Carrá (Italien)
  • Carlfriedrich Claus (DDR)
  • Guillermo Deisler (Chile; DDR)
  • Reinhard Döhl (D)
  • Klaus Peter Dencker (D)
  • Lazar El Lissitzky (Russland)
  • Öyvind Fahlström (Schweden)
  • Brigitta Falkner (Österreich)
  • León Ferrari (Argentinien)
  • Lutz Fleischer (D)
  • Heinz Gappmayr (Österreich)
  • Ilse Garnier (Deutschland, Frankreich)
  • Pierre Garnier (Frankreich)
  • Eugen Gomringer (D)
  • Ferreira Gullar (Brasilien)
  • Raoul Hausmann (Österreich/D)
  • Helmut Heißenbüttel (D)
  • Werner Herbst (Österreich)
  • Christine Huber (Österreich)
  • Ernst Jandl (Österreich)
  • Johannes Jansen (DDR)
  • Gerhard Jaschke (Österreich)
  • Eduardo Kac (Brasilien)
  • Christian Katt (Österreich)
  • Ilse Kilic (Österreich)
  • Boris Konstriktor (Russland)
  • Richard Kostelanetz (USA)
  • Stéphane Mallarmé (Frankreich)
  • Filippo Marinetti (Italien)
  • Décio Pignatari (Brasilien)
  • Alberto Pimenta (Portugal)
  • Karl Riha (D)
  • Rodchenko, Alexander (Russland)
  • Axel Rohlfs (D)
  • Mario Rotter (Österreich)
  • Gerhard Rühm (Österreich)
  • Konrad Balder Schäuffelen (Deutschland)
  • Mira Schendel (Brasilien)
  • Valeri Scherstjanoi (Russland, Deutschland)
  • Kurt Schwitters (Deutschland)
  • Rudolf Sikora (Tschechoslowakei)
  • Christian Steinbacher (Österreich)
  • José Juan Tablada (Mexiko) (1871-1945)
  • Tristan Tzara (Rumänien/Frankreich)
  • Liesl Ujvary (Österreich)
  • Günter Vallaster (Österreich)
  • Jiři Valoch (Tschechoslowakei)
  • Fritz Widhalm (Österreich)
  • Hansjörg Zauner (Österreich)




Anmerkungen
Literatur                             [Sammlung]

[Cramer 2011a]: Cramer, Florian (2001). Netzkunst und konkrete Poesie.
web.
link: netzliteratur.net/cramer/netzkunst_konkrete_poesie.htm.

[Dencker 2011a]: Dencker, Klaus Peter (2011). Optische Poesie: Von den prähistorischen Schriftzeichen bis zu den digitalen Experimenten der Gegenwart. Berlin, New York: de Gruyter. [Drucker 1996a]: Drucker, Johanna (1996). Experimental, Visual, and Concrete Poetry: A Note on Historical Context and Basic Concepts. In: Jackson,D.; Vos, E. & Drucker, J. (Hg.): Experimental – Visual – Concrete: Avant-garde Poetry since the 1960s. Amsterdam, Atlanta: Rodopi, S. 39–61. [Giertler 2011a]: Giertler, Mareike (2011). Lesen als Akt des Sehens der Schrift - Am Beispiel von Kafkas Betrachtungen im Erstdruck. Sprache und Literatur, Band: 42, Nummer: 107, S. 25-36, Themenheft „Schriftbildlichkeit“, hg. von Sybille Krämer und Mareike Giertler. [Gomringer 1997a]: Gomringer, Ernst (1997). Theorie der Konkreten Poesie, Texte und Manifeste 1954-1997. Wien: Edition Splitter. [Polaschegg 2011a]: Polaschegg, Andrea (2011). Literatur auf einen Blick. Zur Schriftbildlichkeit der Lyrik. In: Krämer, S.; Cancik-Kirschbaum, E. & Totzke, R. (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin: Akademie Verlag, S. 245-264. [Raible 1991a]: Raible, Wolfgang (1991). Die Semiotik der Textgestalt. Erscheinungsformen und Folgen eines kulturellen Evolutionsprozesses. Heidelberg: Universitätsverlag Winter. [Strätling & Witte 2006a]: Strätling,Susanne & Witte, Georg (Hg.) (2006). Die Sichtbarkeit der Schrift. München: Fink. [Witte 2005a]: Witte, Georg (2005). Textflächen und Flächentexte. Das Schriftsehen der literarischen Avantgarden. In: Grube, G.; Kogge, W. & Krämer, S. (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München: Fink, S. 375-396. [Witte 2011a]: Witte, Georg (2011). Das ,Zusammen-Begreifen’ des Blicks: Vers und Schrift. In: Krämer, S.; Cancik-Kirschbaum, E. & Totzke, R. (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin: Akademie Verlag, S. 265-286.


Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Verantwortlich:

Totzke, Rainer

Mosbach, Doris

Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [27], Elisabeth Birk [21], Rainer Totzke [10] und Christoph Martin [8] — (Hinweis)