Virtualität

Aus GIB - Glossar der Bildphilosophie
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Unterpunkt zu: Medientheorien: Übersicht


Etymologie und Wortbe­deutung

Der Ausdruck ‘Virtualität’ leitet sich vom latei­nischen ‘virtus’ ab (vgl. [Stowas­ser et al. 1998a]Stowasser, J. M. & Petschenig, M. & Skutsch, Fr. (1998a).
Sto­wasser. La­tei­nisch-​Deutsches Schul­wörter­buch.
In , 574.

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: S. 554); ‘virtus’ gibt in und nach der latei­nischen Bibel­über­setzung die griechi­schen Wörter ‘dyna­mis’ (δύνα­μις) bzw. ‘dyna­tos’ (δυνα­τός) wieder (vgl. [Gemoll & Vretska 2006a]Gemoll, Wilhelm & Vretska, Karl (2006a).
Gemoll. Griechisch-​deutsches Schulwör­terbuch und Handwör­terbuch. München: Olden­bourg Schul­buch­verlag.

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: S. 239-​240) und fügt den Grundbe­deutun­gen von​ »Tugend«,​ »Mannheit«,​ »Tüchtig­keit«,​ »Sittlich­keit«​ und​ »Tapfer­keit«​ noch den Aspekt der​ »Kraft«,​ des​ »Vermö­gens«,​ hinzu (vgl. [Oko­lowitz 2006a]Okolowitz, Herbert (2006).
Vir­tuali­tät bei G.W. Leibniz. Eine Retro­spekti­ve..

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: S. 35f.; vgl. [Roth 2000a]Roth, Peter (2000).
Virtua­lis als Sprachschöp­fung mittel­alter­licher Theolo­gen.
In Die Anwe­senheit des Abwe­senden. Theolo­gische Annä­herun­gen an Begriff und Phäno­mene von Virtua­lität, 33-42.

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: S. 33f.).
Im modernen Verständnis bezieht sich Virtu­ali­tät auf das Feld der Möglich­keit. In dieser Perspek­tive kommen dem Adjek­tiv ‘virtu­ell’ folgen­de Bedeu­tungen zu: »entspre­chend seiner Anla­ge als Möglich­keit vorhan­den«, »die Möglich­keit zu etwas in sich begrei­fend« ([Duden 2013a]Duden (2013a).
Homepage. Mann­heim: Duden­verlag.

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) und »nicht echt, nicht in Wirklich­keit vorhan­den, aber echt erschei­nend« ([Duden 2013a]Duden (2013a).
Homepage. Mann­heim: Duden­verlag.

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).


Begriffsstruktur

Bei Bergson allerdings – wie schon zuvor bei Leibniz und später erneut bei De­leuze – findet sich die Abgren­zung des Virtu­ellen vom Mögli­chen, denn „das so verstan­dene Mögli­che gehört in keinem Grad zum Virtu­ellen“ ([Bergson 1948a]Bergson, Henri (1948).
Das Mög­liche und das Wirk­liche.
In Denken und Schöpfe­risches Werden. Aufsät­ze und Vorträ­ge, 110-125.

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: S. 122). Clara Völker erklärt diese Aussage in ihrer Ideen­geschich­te der Virtu­ali­tät folgen­derma­ßen:
Während das Mögliche zeitlich nach dem Wirkli­chen entsteht, [...] ist das Virtu­elle zeitlich vor dem Wirkli­chen exis­tent, [...] und tritt nur durch etwas Aktu­elles in Erschei­nung ([Völker 2010a]Völker, Clara (2010).
Mobi­le Medien. Zur Gene­alo­gie des Mobil­funks und zur Ideen­geschich­te von Virtu­ali­tät. Biele­feld: Tran­script.

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: S. 210).

Dies zeigt, dass der Versuch, Reali­tät und Virtu­ali­tät durch Begrif­fe wie​ »Poten­tiali­tät«,​ »Möglich­keit«,​ »Wirklich­keit«,​ »dyna­mis«​ oder​ »ener­geia«​ klar vonein­ander abzu­grenzen, kaum durchzu­halten ist. Eine simple Zweitei­lung ist schon in der Philo­sophie des Aris­tote­les proble­matisch, dessen Begriffe der dyna­mis (Vermö­gen) und ener­geia (wirkli­che Tätig­keit) als die Baustei­ne der Wirklich­keit sich nicht gegen­über­stehen, sondern zusam­menge­dacht werden müssen.

In der Verbindung der Konzepte​ »Reali­tät«​ und​ »Virtu­ali­tät«​ kommt dem Begriff der virtu­ellen Reali­tät (siehe auch ⊳ Cyber­space) schließ­lich eine technik­basier­te Eigen­bedeu­tung zu, als

virtuelle Realität (vom Compu­ter simu­lierte Wirklich­keit, künstli­che Welt, in die sich jemand mithil­fe der entspre­chenden techni­schen Ausrüs­tung scheinbar hinein­verset­zen kann; nach englisch virtual reality) ([Duden 2013a]Duden (2013a).
Homepage. Mann­heim: Duden­verlag.

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).


Mentale Virtualität und Theorie der Subjek­tivi­tät

Im modernen Kontext der Konstitution von Subjek­tivi­tät und deren Ana­lyse gewinnt der Begriff der Virtu­ali­tät eine komple­xe Bedeu­tungs­ebe­ne hinzu. Gemäß der Selbst­modell-​Theorie der Subjek­tivi­tät gehört Virtu­ali­tät zum menta­len Para­digma der Konsti­tution von Selbst­bewusst­sein, da „so etwas wie Selbste in der Welt“ ([Metzin­ger 2000a]Metzinger, Thomas (2000).
Philo­sophi­sche Perspek­tiven auf das Selbstbe­wusstsein: Die Selbst­modell-​Theorie der Subjek­tivi­tät.
In Psycho­logie des Selbst, Zitiert aus der über­arbei­teten On­line-​Version.

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: S. 1) nicht exis­tieren. Es exis­tieren nur das erleb­te Ichge­fühl und vari­able Inhal­te des Selbstbe­wusstseins, die quasi virtuell in menta­len Model­len orga­nisiert sind. Die onto­logi­sche Vorhan­denheit des Ich bzw. der alltags­psycho­logi­sche Zusam­menhang des Ich lässt sich als phäno­mena­les „Selbst“ klassi­fizie­ren, als „der im subjek­tiven Erle­ben unmit­telbar gege­bene Inhalt des Selbstbe­wusstseins“ ([Metzin­ger 2000a]Metzinger, Thomas (2000).
Philo­sophi­sche Perspek­tiven auf das Selbstbe­wusstsein: Die Selbst­modell-​Theorie der Subjek­tivi­tät.
In Psycho­logie des Selbst, Zitiert aus der über­arbei­teten On­line-​Version.

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: S. 6). Die Selbstmo­delle fungie­ren als virtu­elle Ele­mente und der Besitz von „immer besse­ren Selbst­model­len als einer neuen Art von „virtu­ellen Orga­nen“ ermög­lichte – diesen Punkt darf man nicht über­sehen – über­haupt erst die Bildung von Gesell­schaften“ ([Metzin­ger 2000a]Metzinger, Thomas (2000).
Philo­sophi­sche Perspek­tiven auf das Selbstbe­wusstsein: Die Selbst­modell-​Theorie der Subjek­tivi­tät.
In Psycho­logie des Selbst, Zitiert aus der über­arbei­teten On­line-​Version.

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: S. 6).

Das Selbstmodell ist kein greifbares und wirkli­ches Selbst, sondern eine Reprä­senta­tion der Gesamt­heit aller Kausal­bezie­hungen, die zwischen dem Subjekt und dessen Umwelt herrschen. Somit wird der phäno­mena­le Raum, in welchem sich das Subjekt bewegt, als ein virtu­eller Raum versteh­bar, da in ihm

eine Möglichkeit – die beste Hypo­these, die es im Moment gibt – unhin­tergeh­bar als eine Wirklich­keit – eine Aktu­ali­tät – darge­stellt wird“ ([Metzin­ger 2000a]Metzinger, Thomas (2000).
Philo­sophi­sche Perspek­tiven auf das Selbstbe­wusstsein: Die Selbst­modell-​Theorie der Subjek­tivi­tät.
In Psycho­logie des Selbst, Zitiert aus der über­arbei­teten On­line-​Version.

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: S. 22).

In dieser Perspektive zeigt sich Virtu­ali­tät in menta­ler statt techni­scher Fundie­rung:

Die zeitgenössische Begeisterung für das Vordrin­gen des Menschen in künstli­che virtu­elle Welten über­sieht, dass wir uns immer schon in einem biolo­gisch gene­rierten Pheno­space befin­den: Inner­halb einer durch menta­le Simu­lation erzeug­ten virtu­ellen Reali­tät“ ([Metzin­ger 2000a]Metzinger, Thomas (2000).
Philo­sophi­sche Perspek­tiven auf das Selbstbe­wusstsein: Die Selbst­modell-​Theorie der Subjek­tivi­tät.
In Psycho­logie des Selbst, Zitiert aus der über­arbei­teten On­line-​Version.

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: S. 243).


Virtuelle Realität als techni­sches Konstrukt (Bildan­sätze)

Niklas Luhmann ist es, der Ende des 20. Jahrhun­derts Virtu­ali­tät und moder­ne Medien­techno­logien zusam­mendenkt und das Medium als „reine Virtu­ali­tät“ ([Luhmann 1993a]Luhmann, Niklas (1993).
Die Form der Schrift.
In Schrift, 349-366.

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: S. 356) bezeich­net – als pure Poten­tiali­tät und Möglich­keit. Während Luhmann sein Verständ­nis von Virtu­ali­tät noch an jedes belie­bige Medium koppelt, weitet sich durch die Entwick­lung moder­ner mobi­ler Medien eine Sicht­weise aus, die Virtu­ali­tät immer stärker mit den digi­talen Medien in Verbin­dung bringt. Durch Vaihin­gers Aufsatz «Virtu­ali­tät und Reali­tät – Die Fiktio­nali­sierung der Wirklich­keit und die unend­liche Infor­mation» (1997) kommt es schließlich zu einer Verwechs­lung bzw. Vermi­schung der Begriff­lichkei­ten​ »Virtu­ali­tät«,​ »Simu­lation«​ und​ »Virtu­eller Reali­tät«​ und somit zu einer Beschrän­kung des Begriffs auf die digi­talen Medien. Aus dieser Perspek­tive wird Virtu­ali­tät als eine neue konstru­ierte Wirklich­keit ange­sehen, die der Reali­tät entge­gensteht.
In dieser technischer Orientierung wird Virtu­ali­tät als virtu­elle Reali­tät beschreib­bar, eine „Objekt­welt, die Wirklich­keit zu sein verspricht, ohne sie sein zu müssen“ ([Vaihin­ger 1997a]Vaihinger, Dirk (1997).
Vir­tuali­tät und Reali­tät – Die Fikti­ona­lisie­rung der Wirklich­keit und die unend­liche Infor­mation.
In Künstli­che Para­diese, virtu­elle Reali­täten. Künstli­che Räume in Lite­ratur-, Sozial-, und Natur­wissen­schaften, 19-43.

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: S. 21), die in Abhän­gigkeit von den Ele­menten​ »Bild«,​ »Raum«​ und​ »Inter­akti­vität«​ konsti­tuiert wird. Gene­rell werden Konstruk­te wie Compu­terspie­le, online games oder chatrooms zu den beson­ders popu­lären Ausprä­gungen virtu­eller Reali­täten gezählt, da hier eine Konzep­tion von bildlich vermit­teltem Raum (Anwe­senheits­raum) wirksam ist, „der nicht exis­tiert, aber dennoch in unse­re Reali­tät hinein­wirkt – also virtu­ell ist“ ([Schwinge­ler 2008a]Schwingeler, Stephan (2008).
Die Raum­maschi­ne. Raum und Perspek­tive im Compu­terspiel. Boizen­burg: Werner Hüls­busch.

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: S. 11). Virtu­elle Reali­tät bzw. virtu­elle Räume sind demnach davon abhän­gig, dass sie einer­seits über eine bildli­che Darstel­lungsfunk­tion verfü­gen, darü­ber hinaus aber „als Räume leibli­cher Anwe­senheit erfah­ren werden können“ ([Böhme 2004a]Böhme, Gernot (2004).
Der Raum leibli­cher Anwe­senheit und der Raum als Medium von Darstel­lung.
In Perfor­mati­vität und Medi­ali­tät.

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: S. 139).
Die Möglichkeit, den Darstellungs­raum in einer Art und Weise zu modi­fizie­ren, dass er leibli­che Anwe­senheit virtu­ell erfahr­bar macht, wird durch techni­sche Ele­mente ermög­licht, die eine akti­ve Rezi­pienten-​Handlung struktu­rieren. In erster Linie sind virtu­elle Räume als Kommu­nika­tions-​Räume konsti­tuiert, in denen durch Textnach­richten und Sprachbot­schaften eine sozi­ale Inter­aktion ermög­licht wird. Zudem fördern (und fordern) vor allem Compu­terspie­le und on­line games die akti­ve und sich geogra­phisch orien­tieren­de Bewe­gung inner­halb der Spielwel­ten mittels Spielcha­rakter oder Ava­tar. Da sich der |Bild-​Raum des Spielvor­gangs an die jewei­lige und indi­vidu­ell vermit­telte Kame­ra​-Perspek­tive anpasst, verfügt der Spieler über eine arbi­träre Perspek­tive, „im Spiel lenkt der Blick die Kame­ra“ ([Schwinge­ler 2008a]Schwingeler, Stephan (2008).
Die Raum­maschi­ne. Raum und Perspek­tive im Compu­terspiel. Boizen­burg: Werner Hüls­busch.

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: S. 142). Durch diese freie Perspek­tivwahl wird das Bild zum
Bildraum und Ereig­nisfeld. Der Betrach­ter wird zum User. Der darge­stellte Raum und der Raum der leibli­chen Anwe­senheit werden mitein­ander verschränkt ([Schwinge­ler 2008a]Schwingeler, Stephan (2008).
Die Raum­maschi­ne. Raum und Perspek­tive im Compu­terspiel. Boizen­burg: Werner Hüls­busch.

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: S. 147).
Eine spezifischere Form virtu­eller Reali­tät, die sich von spielty­pischen Zielvor­gaben und fest struktu­rierten Inhal­ten löst, lässt sich an der 3D-​Onlinewelt «Second Life» des US-​ame­rika­nischen Unter­nehmens Linden Lab nachwei­sen. «Second Life» zeichnet sich durch quasi unbe­grenzte Inter­akti­vität aus, da keine spielty­pischen Grenzen und Zielvor­gaben exis­tieren. Diese beson­dere Offen­heit konsti­tuiert ein Handlungs­poten­tial, welches aus dem tradi­tionel­len gamer eines Spiels einen resi­dent einer virtu­ellen Welt macht und die immer­sive Bindung des Rezi­pienten erhöht. Dabei darf der Ausdruck ‘virtu­elle Welt’ nicht in einem engen Sinn verstan­den werden, denn die resi­dents behan­deln «Second Life» „very much as an actual, not a virtual, place“ ([Heider 2009a]Heider, Don (2009).
Living Virtu­ally. Re­search­ing New Worlds. New York: Peter Lang Publish­ing.

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: S. 134). Die Parti­zipa­tionsmög­lichkei­ten sind dement­sprechend komplex und gestützt durch ein dichtes Netz virtu­eller Infra­struktu­ren, die Iden­titäts­bildung, Kultur- und Subkul­turbil­dung, flexib­le Geschlech­terorien­tierung, Lander­werb, Bildungs­struktu­ren, Vergnü­gungs- und Luxus­bedürf­nisse, Kommu­nika­tionspro­zesse, Produk­tionspro­zesse, kommer­zielle Transak­tionen (inklu­sive einer eige­nen Währung, den L$ = Linden-​Dollars), Besteu­erung, Marken­eta­blierung und poli­tische Maßnah­men ermög­lichen. Die komple­xen Struktu­ren inner­halb von «Second Life» konsti­tuieren ein “zweites Leben” für den Rezi­pienten: „Virtual worlds have real conse­quences“ ([Heider 2009a]Heider, Don (2009).
Living Virtu­ally. Re­search­ing New Worlds. New York: Peter Lang Publish­ing.

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: S. 23). Demnach sind alle poten­tiell erleb­baren Ele­mente und Situ­atio­nen
as “real” as anything we might expe­rience in our day-​to-​day “real” lives. Virtual objects can hold the same meaning for people as real objects. Rela­tion­ships formed in a virtual world […] can have emo­tional impact on people quite simi­lar to the impact of rela­tion­ships in the flesh ([Heider 2009a]Heider, Don (2009).
Living Virtu­ally. Re­search­ing New Worlds. New York: Peter Lang Publish­ing.

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: S. 134).


Virtualität und Fiktion

Eine Fiktion ist die Darstellung eines Sachver­halts ohne über­prüfba­re Refe­renz zu einem real stattge­funde­nen Ereig­nis, d.h. ohne notwen­digen Wirklich­keitsbe­zug. Nach Aris­tote­les ist es nicht Aufga­be der Fiktion, das mitzu­teilen, was wirklich gesche­hen ist, sondern vielmehr nachah­mend darzu­stellen,

was gesche­hen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrschein­lichkeit oder Notwen­digkeit Mögli­che ([Aris­tote­les 1997a]Aris­tote­les (1997).
Poetik. Grie­chisch/​Deutsch. Stutt­gart: Reclam.

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: S. 29).
Die Fiktion kann folglich nicht von der Reali­tät losge­löst ange­sehen werden, da sie sich nachah­mend auf diese bezieht. Fikti­onale Inhal­te entste­hen unter mime­tischem Rückgriff auf die reale Welt als Bezugs­welt (vgl. [Böcking 2008a]Böcking, Saskia (2008a).
Grenzen der Fiktion? Von Suspen­sion of Dis­belief zu einer Tole­ranzthe­orie für die Filmre­zeption. Köln: Halem.

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: S. 27) und deren Wahrschein­lichkei­ten, was die Fiktion in die Nähe des Begriffs des Virtu­ellen rückt.

Mimesis – als Merkmal der Fiktion – ist jedoch nicht als Nachah­mung der aktu­ellen, real exis­tieren­den Wirklich­keit anzu­sehen, sondern als Darstel­lung bzw. Simu­lation einer mögli­chen Wirklich­keit oder Welt. Dieser Bezug auf mögli­che Welten ist notwen­dig, da wir es bei Roma­nen, Filmen oder virtu­ellen Umge­bungen nicht notwen­diger­weise mit der realen Wirklich­keit zu tun haben, wie wir sie tatsäch­lich leben, sondern ledig­lich mit einer mögli­chen Welt. Und diese Welt muss nicht den Geset­zen unse­rer Lebens­welt gehor­chen – man denke an die Reali­tätssys­teme von Science-​Fiction- und Fanta­sy-​Filmen oder Spielen:

Denn die virtuellen Dinge verhalten sich nach Geset­zen, die nicht unbe­dingt die sind, die aus der Wirklich­keit bekannt sind ([Wiesing 2005a]Wiesing, Lambert (2005).
Arti­fiziel­le Präsenz. Studien zur Philo­sophie des Bildes. Frank­furt/M.: Suhr­kamp.

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: S. 121).
Der fiktionale Text ist dabei in einem doppel­ten Sinne als virtu­ell anzu­sehen. Eco bezeich­net den Text als „eine Maschi­ne, um mögli­che Welten zu produ­zieren“ ([Eco 1998b]Eco, Umberto (1998b).
Lector in fabula. Die Mit­arbeit der Inter­preta­tion in erzäh­lenden Texten. München: dtv.

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: S. 219), da dessen inten­tiona­ler Gegen­stand – im Gegen­satz zu realen Gegen­ständen – nicht vollstän­dig und allum­fassend bestimmt ist und somit eine Vielzahl an Leer- und Unbe­stimmtheits­stellen enthält, d.h. verschie­dene Möglich­keiten der Aktu­ali­sierung in sich trägt[1]. Diese werden wiede­rum allein in der Vorstel­lung des Rezi­pienten vollzo­gen und sind daher eben­falls als virtu­ell anzu­sehen. Der geschrie­bene Text ist unbe­stimmt, lücken­haft und abstrakt, erst durch das Lesen und die Über­führung in die Ima­gina­tion des Lesers werden Szenen, Figu­ren und Ereig­nisse in einem Akt der Simu­lation konkre­tisiert und mitein­ander zu einem mögli­chen Ganzen verbun­den. Ryan subsu­miert unter das Konzept der mögli­chen textu­ellen Welt daher auch das Merkmal des „con­nected set of objects and indi­viduals“ ([Ryan 2001a]Ryan, Marie-Laure (2001a).
Nar­ra­tive as Virtual Real­ity. Immer­sion and Inter­activ­ity in Liter­ature and Elec­tronic Media. Balti­more, London: The Johns Hopkins Uni­ver­sity Press.

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: S. 91).

Eine mögliche Welt ist demnach die Darstel­lung eines Zustan­des, der eine Alter­nati­ve zum aktu­ellen Zustand bildet. Johnson-​Laird wendet diesen Begriff jedoch nicht nur auf die aktu­ellen menta­len Reprä­senta­te an, welche die real exis­tieren­de Welt abbil­den, sondern auch auf die menta­len Simu­latio­nen von Weltzu­ständen, die eben­falls mögli­che Weltzu­stände abbil­den, wie z.B. Hypo­thesen über den weite­ren Verlauf eines Tages oder eben Vorstel­lungen über die fikti­ve Welt eines Romans oder Filmes.

Ebenso sind digitale virtuelle Reali­täten als mögli­che Welten – als Simu­latio­nen bzw. Nachah­mungen einer Welt – und damit als fikti­onale Welten zu denken. Sie sind als Reali­täten ande­rer Art zu verste­hen, die neben unse­rer realen Reali­tät exis­tieren. Fikti­onen wie Virtu­ali­täten sind weder wahr noch falsch (⊳ Inter­akti­ons-, Selbst- und Sachbe­zug: Abschnitt «Wahrhaf­tigkeit und Wahr­heit») – sie sind ledig­lich möglich bzw. wahrschein­lich. Aller­dings will die virtu­elle Wirklich­keit keine fikti­onale Wirklich­keit reprä­sentie­ren, sondern sie will dem Beobach­ter die Reali­tät der Fiktion präsen­tieren. Während eine Fiktion immer den Bezug zu der Perspek­tive desje­nigen voraus­setzt, der sie geschaf­fen hat, ist die virtu­elle Reali­tät unab­hängig von der Perspek­tive, desje­nigen, der sie geschaf­fen hat (vgl. [Esposito 1998a]Esposito, Elena (1998a).
Fik­tion und Virtu­ali­tät.
In Me­dien, Compu­ter, Reali­tät. Wirklich­keitsvor­stellun­gen und Neue Medien, 269-296.

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: S. 288).
Anmerkungen
  1. Wenn in ei­nem Text bei­spiels­wei­se steht ‘Der di­cke Mann setzt sich auf ei­nen Stuhl’, kön­nen so­wohl Mann als auch Stuhl ver­schie­den­ar­tig vor­ge­stellt und da­mit mit di­ver­sen ima­gi­nier­ten Prä­di­ka­ten aus­ge­stat­tet wer­den, die vom Text nicht kon­kret vor­ge­schrie­ben sind und folg­lich al­le­samt als mög­lich er­ach­tet wer­den kön­nen, so­fern sie nicht den Vor­ga­ben des Tex­tes wi­der­spre­chen (vgl. [Schirra 1995a]Schirra, Jörg R.J. (1995).
    Under­standing Radio Broad­casts On Soccer. The Concept »Mental Image« and Its Use in Spatial Reasoning.
    In Bilder im Geiste: Zur kogni­tiven und erkennt­nistheo­reti­schen Funktion pikto­rialer Reprä­senta­tionen, 107-136.

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    ).
    Dieses Prinzip der imaginativen Ergän­zung von Leer­stellen lässt sich im Übri­gen auch auf Bilder anwen­den (vgl. [Ingar­den 1962a]Ingarden, Roman (1962).
    Unter­suchun­gen zur Onto­logie der Kunst. Musik­werk – Bild – Archi­tektur – Film. Tü­bingen: Max Nie­meyer.

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    ; [Huber 2004a]Huber, Hans Dieter (2004).
    Bild Beob­achter Milieu. Entwurf einer allge­meinen Bildwis­senschaft. Ostfil­dern: Hatje Cantz.

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    ; [Kemp 1985a]Kemp, Wolfgang (1985).
    Verständ­lichkeit und Spannung. Über Leer­stellen in der Male­rei des 19. Jahr­hun­derts.
    In Der Betrach­ter ist im Bild. Kunstwis­senschaft und Rezep­tionsäs­thetik, 253-​278.

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    ).
Literatur                             [Sammlung]

[Aris­tote­les 1997a]: Aris­tote­les (1997). Poetik. Grie­chisch/​Deutsch. Stutt­gart: Reclam.

[Bergson 1948a]: Bergson, Henri (1948). Das Mög­liche und das Wirk­liche. In: Bergson, H. (Hg.): Denken und Schöpfe­risches Werden. Aufsät­ze und Vorträ­ge. Meisen­heim am Glan: Hain, S. 110-125. [Böcking 2008a]: Böcking, Saskia (2008a). Grenzen der Fiktion? Von Suspen­sion of Dis­belief zu einer Tole­ranzthe­orie für die Filmre­zeption. Köln: Halem. [Böhme 2004a]: Böhme, Gernot (2004). Der Raum leibli­cher Anwe­senheit und der Raum als Medium von Darstel­lung. In: Krämer, S. (Hg.): Perfor­mati­vität und Medi­ali­tät. München: Wil­helm Fink. [Duden 2013a]: Duden (2013a). Homepage. Mann­heim: Duden­verlag. [Eco 1998b]: Eco, Umberto (1998b). Lector in fabula. Die Mit­arbeit der Inter­preta­tion in erzäh­lenden Texten. München: dtv. [Esposito 1998a]: Esposito, Elena (1998a). Fik­tion und Virtu­ali­tät. In: Krämer, S. (Hg.): Me­dien, Compu­ter, Reali­tät. Wirklich­keitsvor­stellun­gen und Neue Medien. Frank­furt/M.: Suhr­kamp, S. 269-296. [Gemoll & Vretska 2006a]: Gemoll, Wilhelm & Vretska, Karl (2006a). Gemoll. Griechisch-​deutsches Schulwör­terbuch und Handwör­terbuch. München: Olden­bourg Schul­buch­verlag. [Heider 2009a]: Heider, Don (2009). Living Virtu­ally. Re­search­ing New Worlds. New York: Peter Lang Publish­ing. [Huber 2004a]: Huber, Hans Dieter (2004). Bild Beob­achter Milieu. Entwurf einer allge­meinen Bildwis­senschaft. Ostfil­dern: Hatje Cantz. [Ingar­den 1962a]: Ingarden, Roman (1962). Unter­suchun­gen zur Onto­logie der Kunst. Musik­werk – Bild – Archi­tektur – Film. Tü­bingen: Max Nie­meyer. [Kemp 1985a]: Kemp, Wolfgang (1985). Verständ­lichkeit und Spannung. Über Leer­stellen in der Male­rei des 19. Jahr­hun­derts. In: Kemp, W. (Hg.): Der Betrach­ter ist im Bild. Kunstwis­senschaft und Rezep­tionsäs­thetik. Köln: DuMont, S. 253-​278. [Luhmann 1993a]: Luhmann, Niklas (1993). Die Form der Schrift. In: Gumbrecht, H. U. & Pfeiffer, K. L. (Hg.): Schrift. München: Fink, S. 349-366. [Metzin­ger 2000a]: Metzinger, Thomas (2000). Philo­sophi­sche Perspek­tiven auf das Selbstbe­wusstsein: Die Selbst­modell-​Theorie der Subjek­tivi­tät. In: Greve, W. (Hg.): Psycho­logie des Selbst. Wein­heim: Beltz PVU, Zitiert aus der über­arbei­teten On­line-​Version. [Oko­lowitz 2006a]: Okolowitz, Herbert (2006). Vir­tuali­tät bei G.W. Leibniz. Eine Retro­spekti­ve.
Disser­tations­schrift, Uni­versi­tät Augs­burg.
link: deposit.ddb.de/cgi-bin/dokserv?idn=98278726X.
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Hilfe: Nicht angezeigte Literaturangaben

Ausgabe 1: 2013

Lektorat:

Seitenbearbeitungen durch: Patrick Kruse [27], Joerg R.J. Schirra [24], Lars Grabbe [24], Dimitri Liebsch [18] und Franziska Kurz [4] — (Hinweis)

Zitierhinweis:

[Kruse & Grabbe 2013g-c]Vergleiche vollständigen Eintrag
in Literatursammlung
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Kruse, Patrick & Grabbe, Lars (2013). Virtualität. (Ausg. 1). In: Schirra, J.R.J.; Halawa, M. & Liebsch, D. (Hg.): Glossar der Bildphilosophie. (2012-2024).
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