Virtualität
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Etymologie und WortbedeutungDer Ausdruck ‘Virtualität’ leitet sich vom lateinischen ‘virtus’ ab (vgl. [Stowasser et al. 1998a]Stowasser, J. M. & Petschenig, M. & Skutsch, Fr. (1998a).Stowasser. Lateinisch-Deutsches Schulwörterbuch. In , 574. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 554); ‘virtus’ gibt in und nach der lateinischen Bibelübersetzung die griechischen Wörter ‘dynamis’ (δύναμις) bzw. ‘dynatos’ (δυνατός) wieder (vgl. [Gemoll & Vretska 2006a]Gemoll, Wilhelm; Vretska, Karl (2006a). Gemoll. Griechisch-deutsches Schulwörterbuch und Handwörterbuch. München: Oldenbourg Schulbuchverlag. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 239-240) und fügt den Grundbedeutungen von »Tugend«, »Mannheit«, »Tüchtigkeit«, »Sittlichkeit« und »Tapferkeit« noch den Aspekt der »Kraft«, des »Vermögens«, hinzu (vgl. [Okolowitz 2006a]Okolowitz, Herbert (2006). Virtualität bei G.W. Leibniz. Eine Retrospektive.. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 35f.; vgl. [Roth 2000a]Roth, Peter (2000). Virtualis als Sprachschöpfung mittelalterlicher Theologen. In Die Anwesenheit des Abwesenden. Theologische Annäherungen an Begriff und Phänomene von Virtualität, 33-42. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 33f.). Homepage. Mannheim: Dudenverlag. Eintrag in Sammlung zeigen) und »nicht echt, nicht in Wirklichkeit vorhanden, aber echt erscheinend« ([Duden 2013a]Duden (2013a). Homepage. Mannheim: Dudenverlag. Eintrag in Sammlung zeigen). BegriffsstrukturBei Bergson allerdings – wie schon zuvor bei Leibniz und später erneut bei Deleuze – findet sich die Abgrenzung des Virtuellen vom Möglichen, denn „das so verstandene Mögliche gehört in keinem Grad zum Virtuellen“ ([Bergson 1948a]Bergson, Henri (1948).Das Mögliche und das Wirkliche. In Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, 110-125. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 122). Clara Völker erklärt diese Aussage in ihrer Ideengeschichte der Virtualität folgendermaßen: „Während das Mögliche zeitlich nach dem Wirklichen entsteht, [...] ist das Virtuelle zeitlich vor dem Wirklichen existent, [...] und tritt nur durch etwas Aktuelles in Erscheinung“ ([Völker 2010a]Völker, Clara (2010). Mobile Medien. Zur Genealogie des Mobilfunks und zur Ideengeschichte von Virtualität. Bielefeld: Transcript. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 210). Dies zeigt, dass der Versuch, Realität und Virtualität durch Begriffe wie Potentialität, Möglichkeit, Wirklichkeit, dynamis oder energeia klar voneinander abzugrenzen, kaum durchzuhalten ist. Eine simple Zweiteilung ist schon in der Philosophie des Aristoteles problematisch, dessen Begriffe der dynamis (Vermögen) und energeia (wirkliche Tätigkeit) als die Bausteine der Wirklichkeit sich nicht gegenüberstehen, sondern zusammengedacht werden müssen. Homepage. Mannheim: Dudenverlag. Eintrag in Sammlung zeigen). Mentale Virtualität und Theorie der SubjektivitätIm modernen Kontext der Konstitution von Subjektivität und deren Analyse gewinnt der Begriff der Virtualität eine komplexe Bedeutungsebene hinzu. Gemäß der Selbstmodell-Theorie der Subjektivität gehört Virtualität zum mentalen Paradigma der Konstitution von Selbstbewusstsein, da „so etwas wie Selbste in der Welt“ ([Metzinger 2000a]Metzinger, Thomas (2000).Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 1) nicht existieren. Es existieren nur das erlebte Ichgefühl und variable Inhalte des Selbstbewusstseins, die quasi virtuell in mentalen Modellen organisiert sind. Die ontologische Vorhandenheit des Ich bzw. der alltagspsychologische Zusammenhang des Ich lässt sich als phänomenales „Selbst“ klassifizieren, als „der im subjektiven Erleben unmittelbar gegebene Inhalt des Selbstbewusstseins“ ([Metzinger 2000a]Metzinger, Thomas (2000). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 6). Die Selbstmodelle fungieren als virtuelle Elemente und der Besitz von „immer besseren Selbstmodellen als einer neuen Art von „virtuellen Organen“ ermöglichte – diesen Punkt darf man nicht übersehen – überhaupt erst die Bildung von Gesellschaften“ ([Metzinger 2000a]Metzinger, Thomas (2000). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 6). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 22). In dieser Perspektive zeigt sich Virtualität in mentaler statt technischer Fundierung: „Die zeitgenössische Begeisterung für das Vordringen des Menschen in künstliche virtuelle Welten übersieht, dass wir uns immer schon in einem biologisch generierten „Phenospace“ befinden: Innerhalb einer durch mentale Simulation erzeugten virtuellen Realität“ ([Metzinger 2000a]Metzinger, Thomas (2000). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In Psychologie des Selbst, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 243).
Virtuelle Realität als technisches Konstrukt (Bildansätze)Niklas Luhmann ist es, der Ende des 20. Jahrhunderts Virtualität und moderne Medientechnologien zusammendenkt und das Medium als „reine Virtualität“ ([Luhmann 1993a]Luhmann, Niklas (1993).Die Form der Schrift. In Schrift, 349-366. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 356) bezeichnet – als pure Potentialität und Möglichkeit. Während Luhmann sein Verständnis von Virtualität noch an jedes beliebige Medium koppelt, weitet sich durch die Entwicklung moderner mobiler Medien eine Sichtweise aus, die Virtualität immer stärker mit den digitalen Medien in Verbindung bringt. Durch Vaihingers Aufsatz «Virtualität und Realität – Die Fiktionalisierung der Wirklichkeit und die unendliche Information» (1997) kommt es schließlich zu einer Verwechslung bzw. Vermischung der Begrifflichkeiten »Virtualität«, »Simulation« und »Virtueller Realität« und somit zu einer Beschränkung des Begriffs auf die digitalen Medien. Aus dieser Perspektive wird Virtualität als eine neue konstruierte Wirklichkeit angesehen, die der Realität entgegensteht. Virtualität und Realität – Die Fiktionalisierung der Wirklichkeit und die unendliche Information. In Künstliche Paradiese, Virtuelle Realitäten. Künstliche Räume in Literatur-, Sozial-, und Naturwissenschaften, 19-43. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 21), die in Abhängigkeit von den Elementen Bild, Raum und Interaktivität konstituiert wird. Generell werden Konstrukte wie Computerspiele, online games oder chatrooms zu den besonders populären Ausprägungen virtueller Realitäten gezählt, da hier eine Konzeption von bildlich vermitteltem Raum (Anwesenheitsraum) wirksam ist, „der nicht existiert, aber dennoch in unsere Realität hineinwirkt – also virtuell ist“ ([Schwingeler 2008a]Schwingeler, Stephan (2008). Die Raummaschine. Raum und Perspektive im Computerspiel. Boizenburg: Werner Hülsbusch, (Reihe Game Studies). Eintrag in Sammlung zeigen: S. 11). Virtuelle Realität bzw. virtuelle Räume sind demnach davon abhängig, dass sie einerseits über eine bildliche Darstellungsfunktion verfügen, darüber hinaus aber „als Räume leiblicher Anwesenheit erfahren werden können“ ([Böhme 2004a]Böhme, Gernot (2004). Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung. In Performativität und Medialität. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 139). Die Raummaschine. Raum und Perspektive im Computerspiel. Boizenburg: Werner Hülsbusch, (Reihe Game Studies). Eintrag in Sammlung zeigen: S. 142). Durch diese freie Perspektivwahl wird das Bild zum „Bildraum und Ereignisfeld. Der Betrachter wird zum User. Der dargestellte Raum und der Raum der leiblichen Anwesenheit werden miteinander verschränkt“ ([Schwingeler 2008a]Schwingeler, Stephan (2008). Die Raummaschine. Raum und Perspektive im Computerspiel. Boizenburg: Werner Hülsbusch, (Reihe Game Studies). Eintrag in Sammlung zeigen: S. 147). Living Virtually. Researching New Worlds. New York: Peter Lang Publishing, (Digital Formations vol. 47). Eintrag in Sammlung zeigen: S. 134). Die Partizipationsmöglichkeiten sind dementsprechend komplex und gestützt durch ein dichtes Netz virtueller Infrastrukturen, die Identitätsbildung, Kultur- und Subkulturbildung, flexible Geschlechterorientierung, Landerwerb, Bildungsstrukturen, Vergnügungs- und Luxusbedürfnisse, Kommunikationsprozesse, Produktionsprozesse, kommerzielle Transaktionen (inklusive einer eigenen Währung, den L$ = Linden-Dollars), Besteuerung, Markenetablierung und politische Maßnahmen ermöglichen. Die komplexen Strukturen innerhalb von «Second Life» konstituieren ein “zweites Leben” für den Rezipienten: „Virtual worlds have real consequences“ ([Heider 2009a]Heider, Don (2009). Living Virtually. Researching New Worlds. New York: Peter Lang Publishing, (Digital Formations vol. 47). Eintrag in Sammlung zeigen: S. 23), demnach sind alle potentiell erlebbaren Elemente und Situationen „as “real” as anything we might experience in our day-to-day “real” lives. Virtual objects can hold the same meaning for people as real objects. Relationships formed in a virtual world […] can have emotional impact on people quite similar to the impact of relationships in the flesh” ([Heider 2009a]Heider, Don (2009). Living Virtually. Researching New Worlds. New York: Peter Lang Publishing, (Digital Formations vol. 47). Eintrag in Sammlung zeigen: S. 134).
Virtualität und FiktionEine Fiktion ist die Darstellung eines Sachverhalts ohne überprüfbare Referenz zu einem real stattgefundenen Ereignis, d.h. ohne notwendigen Wirklichkeitsbezug. Nach Aristoteles ist es nicht Aufgabe der Fiktion, das mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr nachahmend darzustellen, „was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche“ ([Aristoteles 1997a]Aristoteles (1997).Poetik. Stuttgart: Philipp Reclam jun.. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 29). Die Fiktion kann folglich nicht von der Realität losgelöst angesehen werden, da sie sich nachahmend auf diese bezieht. Fiktionale Inhalte entstehen unter mimetischem Rückgriff auf die reale Welt als Bezugswelt (vgl. [Böcking 2008a]Böcking, Saskia (2008a). Grenzen der Fiktion? Von Suspension of Disbelief zu einer Toleranztheorie für die Filmrezeption. Köln: Herbert von Halem. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 27) und deren Wahrscheinlichkeiten, was die Fiktion in die Nähe des Begriffs des Virtuellen rückt. Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 121). Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München: dtv. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 219), da dessen intentionaler Gegenstand – im Gegensatz zu realen Gegenständen – nicht vollständig und allumfassend bestimmt ist und somit eine Vielzahl an Leer- und Unbestimmtheitsstellen enthält, d.h. verschiedene Möglichkeiten der Aktualisierung in sich trägt[1]. Diese werden wiederum allein in der Vorstellung des Rezipienten vollzogen und sind daher ebenfalls als virtuell anzusehen. Der geschriebene Text ist unbestimmt, lückenhaft und abstrakt, erst durch das Lesen und die Überführung in die Imagination des Lesers werden Szenen, Figuren und Ereignisse in einem Akt der Simulation konkretisiert und miteinander zu einem möglichen Ganzen verbunden. Ryan subsumiert unter das Konzept der möglichen textuellen Welt daher auch das Merkmal des „connected set of objects and individuals“ ([Ryan 2001a]Ryan, Marie-Laure (2001a). Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore & London: The Johns Hopkins University Press. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 91). Eine mögliche Welt ist demnach die Darstellung eines Zustandes, der eine Alternative zum aktuellen Zustand bildet. Johnson-Laird wendet diesen Begriff jedoch nicht nur auf die aktuellen mentale Repräsentate an, welche die real existierende Welt abbilden, sondern auch auf die mentalen Simulationen von Weltzuständen, die ebenfalls mögliche Weltzustände abbilden, wie z.B. Hypothesen über den weiteren Verlauf eines Tages oder eben Vorstellungen über die fiktive Welt eines Romans oder Filmes. Fiktion und Virtualität. In Medien, Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, 269-296. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 288).
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Anmerkungen
[Aristoteles 1997a]: Aristoteles (1997). Poetik. Stuttgart: Philipp Reclam jun..
[Bergson 1948a]: Bergson, Henri (1948). Das Mögliche und das Wirkliche. In: Bergson, H. (Hg.): Denken und Schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Meisenheim am Glan: Hain, S. 110-125.
[Böcking 2008a]: Böcking, Saskia (2008a). Grenzen der Fiktion? Von Suspension of Disbelief zu einer Toleranztheorie für die Filmrezeption. Köln: Herbert von Halem.
[Böhme 2004a]: Böhme, Gernot (2004). Der Raum leiblicher Anwesenheit und der Raum als Medium von Darstellung. In: Krämer, S. (Hg.): Performativität und Medialität. München: Wilhelm Fink.
[Duden 2013a]: Duden (2013a). Homepage. Mannheim: Dudenverlag.
[Eco 1998b]: Eco, Umberto (1998b). Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München: dtv.
[Esposito 1998a]: Esposito, Elena (1998a). Fiktion und Virtualität. In: Krämer, S. (Hg.): Medien, Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 269-296.
[Gemoll & Vretska 2006a]: Gemoll, Wilhelm; Vretska, Karl (2006a). Gemoll. Griechisch-deutsches Schulwörterbuch und Handwörterbuch. München: Oldenbourg Schulbuchverlag.
[Heider 2009a]: Heider, Don (2009). Living Virtually. Researching New Worlds. New York: Peter Lang Publishing, (Digital Formations vol. 47).
[Huber 2004a]: Huber, Hans Dieter (2004). Bild Beobachter Milieu. Entwurf einer allgemeinen Bildwissenschaft. Ostfildern: Hatje Cantz.
[Ingarden 1962a]: Ingarden Roman (1962). Untersuchungen zur Ontologie der Kunst. Musikwerk – Bild – Architektur – Film. Tübingen: Max Niemeyer.
[Kemp 1985a]: Kemp, Wolfgang (1985). Verständlichkeit und Spannung. Über Leerstellen in der Malerei des 19. Jahrhunderts. In: Kemp, W. (Hg.): Der Betrachter ist im Bild. Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik. Köln: DuMont, S. 253-278.
[Luhmann 1993a]: Luhmann, Niklas (1993). Die Form der Schrift. In: Gumbrecht, H. U. & Pfeiffer, K. L. (Hg.): Schrift. München: Fink, S. 349-366.
[Metzinger 2000a]: Metzinger, Thomas (2000). Philosophische Perspektiven auf das Selbstbewusstsein: Die Selbstmodell-Theorie der Subjektivität. In: Greve, W. (Hg.): Psychologie des Selbst. Weinheim: Beltz PVU, Zitiert aus der überarbeiteten Online-Version.
[Okolowitz 2006a]: Okolowitz, Herbert (2006). Virtualität bei G.W. Leibniz. Eine Retrospektive. Verantwortlich: Seitenbearbeitungen durch: Patrick Kruse [27], Joerg R.J. Schirra [24], Lars Grabbe [24], Dimitri Liebsch [18] und Franziska Kurz [4] — (Hinweis) |