Druckansicht
Ein Disziplinen-Mandala für die Bildwissenschaft - Kleine Provokation zu einem Neuen Fach -


Autor: Jörg R. J. Schirra
[erschienen in: IMAGE 1: Bildwissenschaft als interdisziplinäres Unternehmen - Eine Standortbestimmung]

Schlagwörter: Bildwissenschaft, Verhältnis ihre Teildisziplinen

Disziplinen: Philosophie, Wissenschaftstheorie


Von der Bildwissenschaft als einer Disziplin, die über die Grenzen von Kunstgeschichte oder Kunstwissenschaft hinausgeht und sich wissenschaftlich mit allen Aspekten des Umgehens mit Bildern und verwandten visuellen Repräsentations- und Zeichensystemen befaßt, wird erst seit etwa der Mitte der 1990'er Jahre gesprochen. In den folgenden Überlegungen geht es insbesondere um die Bildwissenschaft als den Versuch, ein Fachgebiet zu etablieren, in dem ein modernes Verständnis dessen, was eine etablierte Disziplin sein kann, verwirklicht sein soll. Zentrales Kriterium für in dem hier gemeinten Sinne "Neue" Disziplinen ist ihre Interdisziplinarität und die dadurch bedingte starke Methodenpluralität. Grundsätzlich muß daher die Frage geklärt werden, wie das Verhältnis der Teildisziplinen zueinander, insbesondere das Wechselspiel der jeweils eingesetzten Methoden betreffend, zu denken ist. Dem Forschungssujet der Bildwissenschaft entsprechend soll in dem Beitrag versucht werden, das Beziehungsgeflecht der beteiligten Elterndisziplinen (zumindest teilweise) in Form eines Bildes anzugeben.

1. Bildwissenschaft und Interdisziplinarität


Bis vor wenige Jahre hätten interessierte Wissenschaftler wie Laien, wäre der Ausdruck ‚Bildwissenschaft' gefallen, das vermutlich als eine etwas unkonventionelle Bezeichnung für Kunstgeschichte verstanden. Als von einer neuen, d. h. jungen Disziplin, die über die Grenzen der traditionellen Kunstgeschichte oder auch der neueren Kunstwissenschaft hinausgeht und sich wissenschaftlich mit allen Aspekten des Umgehens mit Bildern und verwandten visuellen Repräsentations- und Zeichensystemen befaßt, wird von einer Bildwissenschaft erst seit etwa der Mitte der 1990er Jahre gesprochen.


In den folgenden Überlegungen geht es mir allerdings insbesondere um die Bildwissenschaft als den Versuch, eine ”Neue” Disziplin zu etablieren, wobei der Ausdruck ‚neu' nun nicht nur in der Bedeutung von ‚jung' gemeint ist. Vielmehr soll in dieser Disziplin auch eine neuartige innere Struktur, d. h. ein modernes Verständnis dessen, was eine etablierte Disziplin sein kann, verwirklicht sein. Neu ist die Bildwissenschaft also in diesem Sinne gegenüber traditionellen Disziplinen - wie etwa Physik, Biologie, Psychologie: Kurz gefaßt kann man sich jene Disziplinen als methodisch homogene Ausgliederungen der Philosophie ihrer Entstehungszeiten denken. Zentrales Kriterium für in dem hier gemeinten Sinne ”Neue” Disziplinen, zu denen beispielsweise auch die Kognitionswissenschaft gezählt werden mag, ist ihre Interdisziplinarität und die dadurch bedingte starke Methodenpluralität.


Wie der Ausdruck es nahe legt, befindet sich eine solche moderne ”Inter-Disziplin” in einem abstrakten Sinne ”zwischen den Fachgebieten”: Sie ist aus verschiedenen Disziplinen zusammengewachsen. Genau genommen tragen jeweils nur Teile jener bereits vorab bestehenden ”Elterndisziplinen” zu ihr bei, sofern sie sich thematisch - in ihrem Forschungsgegenstand, nicht notwendig in den Methoden - ähneln. Das impliziert einerseits, daß es auch wesentliche Teile der Elterndisziplinen gibt, die nicht oder sehr wenig relevant sind und daher nicht oder bestenfalls marginal zur Inter-Disziplin beitragen. Zum anderen müssen ganz unterschiedliche methodische Zugänge zu dem gemeinsamen Thema miteinander in Einklang gebracht werden. Daher hängt die Konzeption eines interdisziplinären Faches in der Praxis ganz wesentlich an der funktionierenden Integration der (relevanten) Fachvertreter aus den diversen Elterndisziplinen: Sie sollen sich mit ihren jeweiligen Methoden wechselseitig ergänzen, ohne dabei aus ihrem angestammten wissenschaftlichen Umfeld gänzlich herausgelöst zu werden.


Grundsätzlich muß also eine im hier gemeinten Sinne Neue Disziplin die Frage klären, wie das Verhältnis der Teildisziplinen zueinander, insbesondere das Wechselspiel der jeweils eingesetzten Methoden betreffend, zu denken ist. Einfach ”zusammengewürfelt” wäre als Antwort sehr unbefriedigend: Dann bliebe die Position zwischen den Disziplinen (wie häufig genug in der Praxis zu erleben) für die beteiligten Wissenschaftler nur ein Sitz zwischen den Stühlen. Sicherlich kann eine befriedigende Antwort nicht generell, also für alle möglichen interdisziplinären Neugründungen gültig, gegeben werden, sondern nur in Form von Vorschlägen für je konkrete Einzelfälle - eben z. B. für die Bildwissenschaft. Es ist zu erwarten, daß jede Elterndisziplin (oder doch zumindest viele davon) eine je besondere Stellung mit nur ihr eigenen Aufgaben und ganz spezifischen Relationen zu den anderen beteiligten ”Geschwisterfächern” haben wird. Ein Rahmen für diese Beziehungen regelt das Zusammenspiel der Methoden für die Inter-Disziplin und bestimmt so das neue Fach ganz wesentlich.


Kommen wir daher nun zum Einzelfall Bildwissenschaft. Dem Forschungssujet dieses Faches entsprechend soll im folgenden versucht werden, das Beziehungsgeflecht der beteiligten Elterndisziplinen (zumindest teilweise) in Form eines Bildes anzugeben. Bevor wir dazu kommen, sollten zunächst einige fundamentale Unterscheidungen von Bildern kurz dargestellt werden: Wir werden sie benötigen, um besser zu verstehen, wie das intendierte Bild einzuordnen und zu lesen ist.


2. Eine sehr kleine Bild-Typologie


Prinzipiell unterscheidet man zwischen (im engeren Sinn) darstellenden Bildern und Strukturbildern (vgl. etwa [SACHS-HOMBACH 2003]). Tatsächlich wird mit beiden Sorten etwas dargestellt, aber jeweils auf verschiedene Weise: Knapp formuliert kann man sich oder andere mit Hilfe eines darstellenden Bildes auf visuelle Attribute einer räumlich-materiellen Szenerie aufmerksam machen (oder aufmerksam halten). Die bildliche Darstellung muß dabei nicht notwendig naturalistisch sein - auch die Schwarzweiß-Photographie liefert in der Regel darstellende Bilder in diesem engeren Sinn. Demgegenüber macht man sich oder andere durch Strukturbilder auf etwas normalerweise Nicht-Sichtbares oder gar Nicht-Räumliches aufmerksam, indem man gewissermaßen eine räumlich-visuelle Metapher einsetzt. Die bildliche Darstellung von Temperaturverteilungen etwa nutzt in der Regel eine räumliche Darstellungsbasis, die wie bei den im engeren Sinn darstellenden Bildern durch eine mehr oder weniger perspektivische Projektion auf die beiden Darstellungsdimensionen des Bildes reduziert werden muß: Das mag z. B. ein Haus oder ein Motor sein, deren Oberflächentemperaturen mit dem Bild gezeigt werden. Auf dieser Basis werden die an sich nicht-sichtbaren Temperaturwerte etwa auf die dimensional ähnlichen (linearen) Helligkeitswerte abgebildet. Andererseits liegt den nach Wahlen häufig in Zeitungen verbreiteten Wählerflußdiagrammen keine solche räumliche Darstellungsbasis zugrunde - wie die Farben sind auch die sichtbaren Positionen und geometrischen Formen in diesem Fall Metaphern für nicht-räumliche abstrakte Entitäten (z. B. soziale Gruppierungen).


Als dritte große Klasse werden reflexiv gebrauchte Bilder mit gutem Grund gesondert betrachtet. Während zwischen darstellenden Bildern und Strukturbildern ein semantischer Unterschied besteht, scheidet eine Unterscheidung auf der Ebene der Pragmatik die reflexiv gebrauchten Bilder von den nicht-reflexiv (d. h. ”direkt”) gebrauchten: Reflexiv werden sie benutzt, wenn mit ihnen (mehr oder minder exemplarisch) auf die Eigenarten von Bildern und des Umgehens mit ihnen aufmerksam gemacht wird. Das kann die perspektivische Projektion betreffen, oder die Eigenart vieler üblicherweise in darstellenden Bildern abgebildeten Gegenstände, als Individuen im Laufe der Zeit ganz verschiedene Erscheinungsformen annehmen zu können; Eigentümlichkeiten unserer Farbwahrnehmung können zum Thema reflexiven Bildgebrauchs werden oder die Gewohnheit, Werke der bildenden Kunst dadurch auszuzeichnen, daß man sie in einem Museum ausstellt. Dabei spielt der eigentliche Bildinhalt meist keine zentrale Rolle mehr, da er im reflexiven Gebrauch des Bildes nur als Exempel für das eine oder andere Phänomen im Bildumgang allgemein dient. Im Prinzip kann jedes darstellende Bild und jedes Strukturbild auch reflexiv gebraucht werden - dazu genügt es beispielsweise schon, das Bild in einem Artikel über Bilder als Beispiel zu zitieren. Die wichtigste Anwendung reflexiv gebrauchter Bilder stellt allerdings die bildende Kunst dar.


Auf Anhieb sollte sich das konstituierende Geflecht der Disziplinen für die Bildwissenschaft also in einem direkt gebrauchten Strukturbild vor Augen führen lassen: Die Elterndisziplinen werden als ”Objekte” im Bildraum kodiert; an ihren relativen Positionen und evt. auch ihren Formen (und, falls verwendet, Farbgebungen) lassen sich für den mit der zugrundeliegenden Metapher vertrauten Betrachter Eigenheiten ihrer Beziehungen zueinander ablesen.


* * *


Auf einer wesentlich detaillierteren Ebene der Klassifikation formen die im Buddhismus (aber auch anderen Religionen) häufig verwendeten sogenannten Mandalas eine uns im weiteren besonders interessierende Gruppe von Bildern: Mit jenem Sanskrit-Wort für ”Kreis” bezeichnet man laut ENCARTA [2001] ”ein kosmologisches Diagramm, das als Fixierpunkt bei der Meditation dient und ein Abbild des Universums darstellt.” Es handelt sich in der Regel um geometrisch/räumliche Konfigurationen von abstrakten Entitäten, die für mythische Episoden oder auch Weltkräfte und Gottheiten stehen. Meist sind Vielfache von vier Elementen in konzentrischen Kreisen symmetrisch um das Zentrum angeordnet (Abb. 1). Die meisten Mandalas verwenden eine zweidimensionale Geometrie zur Anordnung der Einzelteile. Es gibt allerdings auch Beispiele für in drei Dimensionen gestaltete Mandalas (Abb.2). Die Konfiguration der Elemente zeichnet die mythischen Relationen zwischen den Episoden oder Gottheiten nach. In der meditativ-versenkenden Betrachtung erlebt der Gläubige eine Erneuerung der dargestellten mythischen Episoden, er evoziert und bekräftigt auf diese Weise die seiner Religion innewohnende Weltsicht.



Offensichtlich handelt es sich bei Mandalas um eine Unterart der Strukturbilder, auch wenn neben abstrakt geometrischen Formen für die Einzelepisoden häufig im engeren Sinne darstellende Bildteile auftreten. Es ist die Anordnung der einzelnen Teile, die sich der Betrachter vor Augen führt (führen soll), und in der er Beziehungen ganz anderer Art kodiert versteht. Für den gegenwärtigen Zusammenhang sind Mandalas interessant, weil sie - als bildhafte Mythosform - einen stark normativen (bzw. Normen vorschlagenden) Charakter zeigen: So sollen bestimmte an den Mythos geknüpfte (durch ihn begründete) soziale Praktiken strukturiert sein. Die Realität sieht häufig genug anders aus.



3. Das Disziplinen-Mandala für die Bildwissenschaft


Analog zu einem religiösen Mandala ist das in Abbildung 3 wiedergegebene Disziplinen-Mandala für die Bildwissenschaft nicht einfach die Projektion einer bereits bestehenden wissenschaftlichen Praxis. Lesen wir es vielmehr als ”Beschwörung” eines Idealzustandes; oder noch genauer: als den Versuch eines Vorschlags für einen solchen - als ein Orientierungsschema für die praktische Umsetzung der Bildwissenschaft.



Im Gegensatz zu den meisten Mandalas ist die Anordnung im Bild tatsächlich dreidimensional zu lesen: Um ein Zentralgebilde, das die Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft darstellt, sind polar zwei schirmartige Gebilde - Philosophie und Computervisualistik (Informatik) - postiert; um die so definierte Mittelachse formen weitere Disziplinen (hier nur teilweise und beispielhaft angegeben) einen scheibenförmigen Schwarm, der durch einen Strahlenkranz auf die Achse bezogen ist. Zur Verdeutlichung dieser Anordnungen zeige ich in Abbildung 4 eine Ansicht ”von der Seite” - also senkrecht zur Polachse geblickt.



Was aber soll nun eigentlich in diesen Bildern zu sehen sein? Und, vor allem, warum in dieser Weise? Welche Besonderheiten der gezeigten Disziplinen oder Disziplinengruppen motivieren die angegebene Anordnung?


a) die Besonderheit der Kunstwissenschaft/Kunstgeschichte:

Der Doppeldisziplin Kunstgeschichte / Kunstwissenschaft kommt bei dem Unternehmen Bildwissenschaft sicher eine zentrale Rolle zu. Diese beiden eng miteinander verschränkten Fächer befassen sich thematisch zwar auch mit Achitektur, Skulptur u.s.f., doch stehen vor allem Bilder im Fokus ihres Interesses. Allerdings sind, zumindest dem ursprünglichen Anspruch nach, gar nicht alle Bilder, sondern nur die künstlerischen gemeint. Es hat durchaus verschiedentlich Versuche gegeben, die Disziplin generell auf alle Bildphänomene auszuweiten - ABY WARBURG ist hier sicher als prominentester Fürsprecher zu nennen - doch haben diese Versuche in der Vergangenheit den Kanon der Kunstgeschichte/-wissenschaft nur sehr zögerlich erweitern können [MITCHELL 1994, S. 13f.]. Erst in jüngerer Zeit verstärkt sich deutlich die Tendenz hin zu einer wesentlich umfassenderen, der Bildwissenschaft im hier vertretenen Sinn angenäherten Konzeption. Traditionell geht es der Kunstgeschichte/-wissenschaft zu einem großen Teil um das Interpretieren von Bildinhalten (sofern vorhanden) oder (insbesondere bei nicht-figurativer Kunst) von Ausdrucksintentionen bzw. Wirkungen, kurz gefaßt also: ”was da zu sehen ist”. Die grundsätzlichere Frage, auf welche Weise Bilder eigentlich den Bestand menschlicher Verhaltensweisen ergänzt haben (auch: wie es zu Wesen kommen kann, die Bilder verwenden, d.h. ”daß da etwas (anderes) zu sehen ist”), wird nur am Rande betrachtet. Einige Fachvertreter bestreiten sogar rundweg, daß es möglich sei, das Wesentliche am Bildgebrauch überhaupt in Sprache zu kleiden - was eine zentrale Voraussetzung für eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der entsprechenden Frage darstellt. Man solle sich daher bescheiden auf die hermeneutischen Bemühungen zum Bildinhalt, die traditionell den Kern der Kunstgeschichte ausmachten. Wenn überhaupt, dann könne das Charakteristische an Bildern nur wiederum bildhaft wiedergegeben werden - es zeige sich lediglich. Ich möchte dieser skeptischen Auffassung ihrer prinzipiell argumentationsfeindlichen Haltung wegen hier nicht weiter nachgehen.


Eine vielleicht etwas enge, systematisch aber durchaus reizvolle Charakterisierung von Kunstwissenschaft/-geschichte stellt die Erforschung des reflexiven Gebrauchs von Bildern ins Zentrum des Interesses jener Disziplinen. Wie oben erwähnt lassen sich nun aber prinzipiell alle Bilder reflexiv verwenden. Demnach befaßt sich die Kunstwissenschaft also zwar potentiell mit allen Bildern, aber nicht mit allen Gebrauchstypen. Gleichwohl können und sollten die Ergebnisse der Kunstwissenschaft/-geschichte ein wichtiger Bezugspunkt für jede andere Beschäftigung mit Bildern sein: Insofern jedes Bild auch reflexiv gebraucht werden kann, eröffnet seine kunstwissenschaftliche Analyse stets ebenfalls sinnvolle Elemente seines direkten Gebrauchs. Um dieser Besonderheit der Doppeldisziplin Kunstgeschichte/-wissenschaft Rechnung zu tragen, besetzt sie - gewissermaßen als Herz der Bildwissenschaft - im Mandala die zentrale Position.


b) die Besonderheit der Philosophie:

Bekanntlich hat es seit dem Entstehen der Philosophie in Europa meist eine starke Spannung zwischen den philosophischen Bemühungen und den Bildern gegeben. Die Abneigung der Philosophen ging aber in der Regel nicht so weit, Bilder schlicht zu ignorieren: Die negative Bewertung wurde vielmehr oft selbst Thema philosophischer Begründungsversuche, wobei dann in der Regel mehr oder weniger deutlich ausgearbeitete Bildtheorien als Nebenprodukt abfielen.


Kern philosophischer Bildtheorien ist das Bemühen, einen methodisch korrekt, rational begründbar eingeführten Bildbegriff zu formulieren. Im Gegensatz zu dem verbreiteten umgangssprachlichen Gebrauch, der bedauerlicherweise auch weit in die Wissenschaften hinein zu unklarer Ausdrucksweise führt, ist der Ausdruck ‚Begriff' nicht gleichbedeutend mit dem Ausdruck ‚Ausdruck'. Wenn jemand einen Begriff hat, kann er nicht nur einen Ausdruck aussprechen: Er kann dann vielmehr, so das moderne philosophische Verständnis, erklären, wie der Ausdruck richtig zu verwenden ist, was er bedeutet. In diesem Sinne bedeutet ‚einen bestimmten Begriff zu haben' nicht, nur Äußerungen mit verschiedenen Ausdrücken korrekt nach bestimmten Regeln aufeinander folgen lassen zu können (d.h. im weitesten Sinn argumentieren zu können), sondern auch, Äußerungen mit ganz anderen Typen von Handlungen in regelhafte Beziehungen setzen zu können, insbesondere mit solchen Handlungen, die etwas mit unter den Begriff fallenden Einzelgegenständen zu tun haben. Man mache sich klar, daß Begriffe etwas sind, durch das gesellschaftliche Unterscheidungspraktiken kontrolliert werden, die wesentlich bestimmen, wie jemand mit den Dingen seiner Umwelt interagiert, und auch, wie er mit seinen Mitmenschen und mit sich selbst umgeht.


Damit ist es ein essentielles Geschäft jeder Wissenschaft, möglichst gute Begriffe und Begriffssysteme für die jeweils betrachteten Phänomene vorzuschlagen und bestehende Vorschläge oder Unterscheidungsgewohnheiten kritisch zu überdenken. Allerdings bleibt nun nicht nur die Frage, auf welche Weise im Zweifelsfall entschieden werden kann, welche Begriffe ”gut” sind, d. h. welche Begriffe korrekt und für ein skeptisches Gegenüber nachvollziehbar für einen bestimmten Phänomenbereich eingeführt werden können (und sollten). Es stellt sich auch die Frage, was es eigentlich heißt, daß ein Begriff korrekt eingeführt ist, bzw. was man sich denn überhaupt unter einem Begriff vorzustellen habe. Genau diese Aufgaben sind zentrale Fragestellungen der Philosophie (vgl. etwa [ROS 1999]).


Bezogen auf die Einzelwissenschaften kommen philosophische Überlegungen daher vor allem dann ins Spiel, wenn die Methoden der jeweiligen Begriffsbildung hinterfragt werden. Der Stand der Argumentation und die alternativen Begriffsvorschläge in der Einzeldisziplin werden untersucht und gemäß den in der Philosophie erarbeiteten Standards für Begriffsbildung und Argumentation beurteilt. Unter Umständen ergeben sich dabei Vorschläge für begriffliche Differenzierungen, die Probleme in dem Fach aufzulösen helfen. ALBERT EINSTEINs Überlegungen zur korrekten Einführung des physikalischen Zeitbegriffs etwa sind typische Beispiele für philosophische Überlegungen im Rahmen der Physik.


Entsprechend ist es, mit anderen Worten, die Aufgabe der Philosophie im Rahmen der Bildwissenschaft, die durchaus sehr verschiedenen Vorschläge zur näheren Bestimmung des Bildbegriffs und die darum gesponnenen Argumentationen aus den Einzelwissenschaften, die sich gerade anschicken, zur Bildwissenschaft zusammenzuwachsen, kritisch zu überprüfen und Vorschläge dafür zu entwickeln, wie sich die Unterschiede in einem umfassenden Bildbegriff konstruktiv zusammenführen lassen könnten (vgl. [SACHS-HOMBACH 2003]).


Die Philosophie ist also weniger an Bildern als an Bildbegriffen interessiert. Es ist diese Besonderheit der Stellung der Philosophie im Projekt der Bildwissenschaft, die die Anordnung im Mandala als überwölbender Schirm - als Kopf der Bildwissenschaft gewissermaßen - motiviert.


c) die Besonderheit der Informatik (Computervisualistik):

Die Informatik hat als Themenbereich zunächst keine Verbindung zu Bildern, denn es geht in dieser Disziplin um Computer und um die Prinzipien der Datenverarbeitung, oder, wenn man es fachlich präziser fassen möchte, um abstrakte Datenstrukturen und ihre Implementierungen. Keines dieser Themen hat eine inhärente Beziehung zu Bildern. Man beschäftigt sich also, wenn man als Informatiker tätig wird, im Grunde genommen gar nicht mit Bildern.


Wie hat man es dann aber mit all den Computergraphikern und Bildverarbeitern zu halten, die doch offensichtlich gerade in ihrem Bereich ganz wesentlich und sehr intensiv mit Bildern umzugehen haben? Tatsächlich ist der Bezug zu Bildern für Computervisualisten nur indirekt: Es geht ihnen vor allem darum, Algorithmen und daraus abgeleitete Programmsysteme zu entwerfen, mit denen man Bilder erzeugen, analysieren oder sonst verarbeiten und manipulieren kann - und der Benutzer dieser Algorithmen ist im allgemeinen nicht der Informatiker selbst. Es handelt sich also um eine spezielle Anwendung dessen, was die Informatik im Kern ausmacht, und nur über das der Informatik äußerliche Anwendungsgebiet kommen dabei Bilder ins Spiel.


Schaut man etwas gründlicher (und mit philosophisch geschultem Blick), so wird klar, daß die Hauptaufgabe der angewandten Informatik darin besteht, begriffliche Strukturen aus einem Anwendungsgebiet in abstrakte Datenstrukturen zu transformieren. Diese Formalisierung zielt darauf ab, argumentative Zusammenhänge im Anwendungsgebiet zu automatisieren und exemplarisch vorführen zu können - genau das ist ein Algorithmus. So interessieren sich einige Computergraphiker beispielsweise dafür, wie mittels Computern in sogenannten immersiven Systemen Bilder auf eine Weise erzeugt und dargestellt werden können, daß die Benutzer eines solchen Systems sich ohne Anstrengung der Illusion hingeben können, sie würden sich sinnlich-körperlich nicht mehr am tatsächlichen Aufenthaltsort befinden sondern in einer ”künstlichen Realität”. Damit ein solches Programmsystem entwickelt werden kann, müssen die beteiligten Informatiker unter anderem auch einiges über die Psychologie der Bildwahrnehmung wissen. Dieses psychologische Wissen, das im Grunde genommen ein komplexes Geflecht von Argumentationen ist, durch die Psychologen verschiedene empirische Befunde miteinander in Beziehung setzen, fließt auf eine Weise in das Programm des immersiven Systems ein, daß mit der Benutzung ein Exempel gerade jener allgemein miteinander in Beziehung gesetzten empirischen Situationen erzeugt werden kann.


Der Ausdruck ‚Computervisualistik' wurde 1996 vorgeschlagen als übergreifende Bezeichnung für die Teile der Informatik, in denen Argumentationsstrukturen aus dem bildwissenschaftlichen Bereich formalisiert werden [SCHIRRA & STROTHOTTE 1999]. Erstmals wurden in der Folge Aspekte des Umgehens mit Bildern in der Informatik, die zuvor getrennten voneinander behandelt wurden, systematisch und mit Blick auf die Bildwissenschaft zusammengeführt [SCHIRRA 2003].


Daß Computervisualisten damit befaßt sind, die argumentativen Strukturen der anderen Bildwissenschaften in eine formale, implementierbare Form zu bringen, rückt sie in die Nähe der philosophischen Bildtheorie: Wie oben erwähnt ist es deren Aufgabe, die Korrektheit der Begriffsbildungen und der Argumentationen in den Einzeldisziplinen methodologisch zu überwachen. Auch dabei spielen Normierungen und Formalisierungen von Argumentationsverläufen, wie sie in den bildbezogenen Einzelwissenschaften verwendet und entwickelt werden, eine wichtige Rolle: Sie helfen dabei, die Entwicklung in den Fächern ”flüssig” zu halten. Demgegenüber verwendet die Informatik Formalisierungen der Argumentationsstrukturen eines Anwendungsfaches, um sie zu Algorithmen zu ”verfestigen” und in einer derart normierten Form automatisiert allen zur Verfügung zu stellen.


Diese Besonderheiten der Computervisualistik motivieren die symmetrisch der Philosophie gegenübergestellte Position und Form im Mandala: Umgedreht als Schale fängt sie die Ergebnisse der Geschwisterdisziplinen auf und ”verdaut sie” zu von allen nutzbaren technischen Artefakten - die Computervisualistik gewissermaßen als Bauch der Bildwissenschaft.


d) der Status der anderen beteiligten Disziplinen:

Generell können - jedenfalls nach gegenwärtigem Stand der Dinge - alle in dieser Gruppe zusammengefaßten Disziplinen unter die Humanwissenschaften im weiten Sinn gefaßt werden, da sie jeweils verschiedene Aspekte menschlicher Tätigkeiten oder Lebensumstände untersuchen oder (etwa in der Kunst) zu modifizieren versuchen. Bei diesen generell stark empirisch ausgerichteten Geschwisterdisziplinen, von denen im Mandala stellvertretend nur einige der wichtigsten erwähnt sind, spielt die Polarisierung in einen bildbezogenen Teil und einen mit Bildern nicht befaßten Teil eine wichtige Rolle: Denn nicht alles, was Menschen tun, hat etwas mit Bildern zu tun (jedenfalls nicht auf den ersten Blick). Bilder und ihr Gebrauch sind Untersuchungsgegenstand nur jeweils in einem Teilbereich - nennen wir das der Einfachheit halber die ”ikonophile” Fraktion der Disziplin. Werden Aspekte der menschlichen Existenz betrachtet, bei denen dem Umgehen mit Bildern wenig oder keine Relevanz beigemessen wird, ist kein unmittelbarer Bezug zur Bildwissenschaft gegeben. Allerdings besteht in der Regel ein fließender Übergang zwischen den beiden Extremen. Die Bildwissenschaft kann daher eine breitere Außenwirkung speziell über die Verflechtung der ikonophilen mit den anderen Anteilen dieser Disziplinen erzielen.


In der Politikwissenschaft herrscht beispielsweise eine recht deutliche Polarisierung: Traditionell wird sie meist als eine Wissenschaft verstanden, die sich vor allem mit dem Wort beschäftigt, das als primärer Zugang zu politischem Geschehen gilt. Forschung zur sogenannten ”visuellen Politik” tritt aber seit einigen Jahren zunehmend auf den Plan [HOFMANN 1999]. Dieser ikonophile Teil der Politikwissenschaft erforscht, kurz gesagt, die Rolle der Bilder in dem Bereich des menschlichen Verhaltens, den wir politisch nennen: Fachvertreter interessieren sich etwa für die beabsichtigten und die erzielten Wirkungen von Wahlkampfplakaten oder für die unterschwellige Rezeption von Inszenierungen politischer Systeme in Fernsehserien. Ihre Ergebnisse beanspruchen zurecht Gehör nicht nur bei den anderen Politikwissenschaftlern sondern auch bei den anderen Bildwissenschaftlern.


Mit Blick auf die Bildwissenschaft dient das Verwenden von Bildern im politischen Bereich, ganz grob formuliert, einerseits als ein spezielles Anwendungsgebiet, in dem bildwissenschaftliche Theorien empirischer Prüfung unterzogen werden können. Andererseits kann gegebenenfalls - wenn man denn optimistisch ist - langfristig mit einer Veränderung der bisher recht ”ikonophoben” Begriffsbildung in der Politikwissenschaft durch die Ergebnisse der Forschungen zur ”visuellen Politik” (und damit auch der Bildwissenschaft) gerechnet werden: Wenn sich auf diese Weise bestimmte politikwissenschaftlich relevante Fragen ”besser” (oder vielleicht sogar überhaupt erst) behandeln lassen, hat das ebenfalls Auswirkungen auf die Methoden, die für nicht unmittelbar mit Bildern in der Politik befaßte Themen eingesetzt werden.


Nehmen wir als ein zweites, anders gelagertes Beispiel die Psychologie: Ihre ikonophilen Anteile liegen vor allem in der Wahrnehmungspsychologie. Tatsächlich nimmt das Fach eine besonders wichtige Rolle für die Bildwissenschaft ein, da mit ihr das Sehen - als eine der Grundkomponenten für das Umgehen mit Bildern überhaupt - empirisch thematisiert wird. Das Faktum, daß es dabei nicht primär um Bilder, sondern um visuelle Wahrnehmung allgemein geht, führt gelegentlich zu Ungenauigkeiten, wenn etwa bei Wahrnehmungsexperimenten ohne große Reflexion Bilder statt echter Szenen verwendet werden - hier kann die Bildwissenschaft das Bewußtsein für die mit dem Unterschied verbundenen Interpretationsrisiken verdeutlichen helfen. Für die Zugehörigkeit der zwar mit visueller Wahrnehmung, aber nicht mit Bildern befaßten Teile der Psychologie zur Bildwissenschaft kann jedenfalls kein Zweifel bestehen.


Sehr viele andere Bereiche in der Psychologie bauen mehr oder weniger direkt und umfangreich auf die Strukturierung unserer Begriffe von der visuellen Wahrnehmung auf, wie sie die Wahrnehmungspsychologie liefert: etwa die Kognitionspsychologie, zu der letztlich auch die im engeren Sinne der Wahrnehmung von Bildern gewidmeten psychologischen Studien gehören; aber auch die Entwicklungspsychologie, oder die pädagogische Psychologie. Selbst Sprachpsychologen, an sich kaum mit Bildern befaßt, kommen hin und wieder mit Aspekten der visuellen Wahrnehmung in Berührung, etwa wenn das Sprechen über Räumliches oder die Verwendung von Raummetaphorik analysiert wird. Dabei zeigt sich häufig, daß auch die visuelle Wahrnehmung von Sprachkonzepten beeinflußt ist - ein Einfluß, der sich dann ebenfalls beim Umgang mit Bildern und also bildwissenschaftlich auswirken kann. Auch in der Psychologie führt also die Verzahnung von ikonophilem Bereich mit den anderen Anteilen insbesondere dazu, daß zunächst nicht berücksichtigte Phänomenbereiche für die Bildwissenschaft fruchtbar werden (und umgekehrt).


Sehen wir uns zuletzt noch die beiden einander benachbarten Fächer Kunst und Design etwas näher an. Genau genommen geht es hier einerseits vor allem um die Theorie des Designs, ein (zumindest personell gesehen) nur recht kleiner Bereich innerhalb der im Großen und Ganzen überaus praktisch orientierten ”angewandten Kunst”, in dem nach Regeln gesucht wird, die helfen, ”gute” Entwürfe zu gegebenen Aufgabenstellungen zu erarbeiten. Der Begriff der visuellen Argumentation - das methodische Übersetzen von Argumentationsstrukturen in bildliche Form - spielt für das Aufstellen solcher Regeln eine wichtige Rolle.


Zum anderen geht es darum, daß in den ansonsten ebenfalls im wesentlichen rein praktisch ausgerichteten bildenden Künsten Kreativität insbesondere durch bildliche Reflexionen des Bildgebrauchs (oder der Bildgebräuche) erreicht wird. Das ist gegenüber den anderen hier beteiligten Fächern eine Ausnahme, da bei dieser Art von Erforschung Bilder oder Bilderserien praktisch als piktorale bildwissenschaftliche Argumente auftreten. Daß das Erkunden kreativer Ausdruckmöglichkeiten - etwa über kunstwissenschaftliche Studien - der bildwissenschaftlichen Arbeit empirisches Material an die Hand gibt, steht jedenfalls außer Zweifel. Umgekehrt ist es sehr wahrscheinlich, daß Künstler auch Thesen einer allgemeinen Bildwissenschaft in reflexiv zu gebrauchenden Bildwerken exemplifizieren werden (und auf diese Weise eine Popularisierung der bildwissenschaftlichen Bemühungen - möglicherweise durchaus kritisch - unterstützen).


Es ist sicher wert, weitere Überlegungen anzustellen darüber, ob Kunst überhaupt auch als wissenschaftliche Disziplin zu zählen sei; oder ob nicht eigentlich die Kunstwissenschaft gerade diesen Platz einnimmt und Kunst daher als Komponente - nicht als Gegenstand, wohlgemerkt - der Bildwissenschaft obsolet wäre. Hier wurde Kunst aufgenommen, da immerhin nicht auszuschließen ist, daß die etablierte Praxis des wortbezogenen Argumentierens in den Wissenschaften mit Hilfe von piktoralen Argumentationen auf eine Weise ergänzt werden kann, die derzeit noch nicht klar ist, so daß künstlerische Betätigung dann tatsächlich auch als eine Form des wissenschaftlichen Arbeitens betrachtet werden könnte.


Bleiben wir zum Abschluß auch diesmal in der bisher verwendeten Körpermetapher: Die hier betrachteten stark empirisch ausgerichteten Teildisziplinen bilden gewissermaßen die Hände und Augen der Bildwissenschaft, also das, was den Zugang zur umgebenden Welt ermöglicht. Denn ihnen ist in ganz besonderem Maße die Beziehung zwischen bildwissenschaftlicher (interner) Theorie und deren (externer) Anwendung zur Aufgabe gestellt. Aufgrund dieser Besonderheit wurden die ikonophilen Fraktionen dieser Fächer im Mandala durch nach außen geöffnete Ellipsen symbolisiert, die zu einem Ring um das Zentrum zwischen den beiden Polschirmen angeordnet sind. Sie strahlen auf das nicht zur Bildwissenschaft gehörende disziplinäre Umfeld aus und nehmen von dort Impulse auf.


e) über einige Disziplinen, die nicht beteiligt sind:

Warum werden keine naturwissenschaftlichen Disziplinen erwähnt? Immerhin kommen auch etwa in der Physik und der Medizin Bilder in wachsendem Maße zur Verwendung. Sollten diese Fächer nicht ebenfalls als Teildisziplinen zur Bildwissenschaft beitragen? Nun richtet sich das Forschungsinteresse jener Fachgebiete weder auf Bilder noch auf den Bildbegriff oder irgendeine andere Abstraktion unseres Umgehens mit Bildern. Tatsächlich verwenden sie Bilder lediglich, etwa in der Physik zur Darstellung, d.h. zum Vermitteln von Ergebnissen - also etwas, was durchaus in den Bereich fällt, der wissenschaftlich unter anderem von der Psychologie, der Pädagogik, dem Design und der Medientheorie recht eigentlich abgedeckt wird. Eine gesonderte physikalische Studie zu solchem Gebrauch von Bildern wäre absurd. Ein anderes, aber ähnlich gelagertes Beispiel bieten die diagnostischen Bilder in der Medizin, vom klassischen Röntgenbild über Ultraschallschnittbilder bis hin zu den neuesten Arten von Positronenemissionstomogrammen (PET): Stets ist das Bild nur ein Mittel zur (möglichst effizienten) Präsentation medizinisch relevanter Sachverhalte, bei dessen sinnvollem Gebrauch neben medizinischen und physikalischen selbstverständlich auch bildwissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen sind. Im Gegensatz etwa zur Politikwissenschaft stellt dabei die Medizin ein reines Anwendungsgebiet der Bildwissenschaft dar: Zwar stellt es wie jene konkrete Rahmenbedingungen für bildtheoretische Überlegungen bereit. Umgekehrt aber sind im engeren Sinne medizinische Erkenntnisse für die Bildwissenschaft weitgehend irrelevant, da das Umgehen mit Bildern üblicherweise überhaupt kein Thema der Medizin ist, sondern höchstens eine ihrer Methoden.


Auch hier gilt natürlich, daß zwischen der Disziplin und ihren Grenzen einerseits, etwa der Medizin, und den Interessen und den Tätigkeiten eines Wissenschaftlers der Disziplin andererseits, etwa einer bildwissenschaftlich interessierten Radiologin, deutlich unterschieden werden sollte. Selbstverständlich können und werden Naturwissenschaftler zur bildwissenschaftlichen Forschung beitragen - es ist ihr Fach, das, da es Bilder nicht zum Untersuchungsgegenstand hat, nicht beitragen kann. Die starren Grenzen der Disziplinen sollen als ein abstraktes Gerüst dienen, und wie die meisten Gerüste ist es ihre Funktion, durch Starrheit die Bewegungsfreiheit von Menschen zu erhöhen.


Die Linguistik ist gelegentlich ebenfalls als eine Disziplin mit bildwissenschaftlichen Teilen genannt worden: Immerhin wird von (sprachlichen) Metaphern auch als von sprachlichen Bildern geredet. Da es sich bei einer solchen Ausdrucksweise aber selbst um eine metaphorische Verwendung des Bildbegriffs zu handeln scheint, also um eine partielle Bedeutungsübertragung dessen, was wir im eigentlichen Sinn als Bild bezeichnen, auf ein ganz anderes Gebiet, dürfte es eher sinnvoll sein, die Beziehung zwischen Bildwissenschaft und Linguistik als eine transdisziplinäre Kooperation zu betrachten: Es wäre linguistisch zu prüfen, welche Aspekte des von der Bildwissenschaft vorgelegten Bildbegriffs die Verwendung als Metapher für Metaphern in der Sprache motiviert haben. Und bildwissenschaftlich wäre zu fragen, wie diese linguistische Übertragung historisch die Entwicklung des Bildbegriffs beeinflußt hat.


4. Abschließende Bemerkungen


Das im vorigen Abschnitt vorgestellte Mandala ergänzt die von SACHS-HOMBACH [2003, siehe auch sein Beitrag in dieser Ausgabe] vorgeschlagene Einführung der Bildwissenschaft als Theorierahmen: Ein solcher Rahmen destilliert aus den in den Einzelwissenschaften entwickelten speziellen Bildbegriffen eine abstraktere Fassung, die als übergeordnete Arbeitshypothese auf kohärente Weise Anknüpfungspunkte für alle Beteiligten eröffnet. SACHS-HOMBACHs Vorschlag, den Begriff des wahrnehmungsnahen Zeichens als Zentralkategorie der allgemeinen Bildwissenschaft zu verwenden, verweist übrigens auf eine weitere Achse im Mandala neben der dort dominanten Achse ”Reflexion - Ingenieurwissenschaft” und ihrem empirischen Mittelfeld. Ein Zeichen ist wahrnehmungsnah, wenn die Zeichenverwender beim Ermitteln seines Inhalts Gebrauch machen von Wahrnehmungsfähigkeiten, die sie auch einsetzten, wenn sie diesen Inhalt selbst (d. h. ohne Vermittlung durch ein Zeichen) wahrnehmen würden.


Das trifft zumindest auf darstellende Bilder direkt zu: Daß Bilder ganz allgemein Zeichen (in einem recht weiten Sinn) sind, erkennt man daran, daß man sich oder andere mit ihrer Hilfe aufmerksam macht auf etwas anderes (den Bildinhalt), was in der Regel nicht zugleich anwesend ist. Trotzdem scheint dieser Inhalt bei Bildern - im Gegensatz insbesondere zu sprachlichen Zeichen - auf eine Art und Weise zugänglich, die dem Sehen des Inhalts, wäre er denn anwesend, ähnelt. Bei Strukturbildern tritt hier eine zweite Zeichenebene dazu: Da der eigentliche Inhalt definitionsgemäß nicht gesehen werden kann, treten räumlich-visuelle Stellvertreter dazwischen, für die dann allerdings wieder der wahrnehmungsnahe Zugang gilt. ”Das Bild sieht dem Abgebildeten ähnlich” heißt es umgangssprachlich ungenau. Die allgemeine Charakterisierung der Bilder als Zeichen mit einer besonderen Beziehung zur (visuellen) Wahrnehmung motiviert eine im Mandala nicht hervorgehobene Auszeichnung von Semiotik und Psychologie als die einander gegenüberliegenden Pole einer weiteren für das Festlegen des Gegenstandsbereichs wichtigen Achse. Beide Disziplinen liefern konstituierende Merkmalsräume, die für alle Bilder relevant sind. Das gilt für die anderen Fächer im Ring bestenfalls sehr eingeschränkt: Sie widmen sich eher jeweils bestimmten Aspekten oder Ausprägungen jener allgemeinen Merkmalsräume.


* * *


Mandalas sind Strukturbilder von Mythen. Eine besondere Form des Mythos ist der Schöpfungsmythos. Mit dem im vorigen Abschnitt vorgestellten Disziplinen-Mandala für die Bildwissenschaft mag sich ein Betrachter entsprechend einen Gründungsmythos der Bildwissenschaft und die dazugehörenden rationalen Begründungen vor Augen führen. Als weniger rationale Ausschmückung des Gründungsmythos mag es darüber hinaus als ein glücklicher Zufall gelten, daß in den Jahren um den Jahrtausendwechsel Vertreter der beiden für den interdisziplinären Ansatz in der hier vorgestellten Form wichtigen methodischen Klammern - die philosophische Bildtheorie und die Computervisualistik - in Magdeburg zusammenfanden und gerade aus der Kooperation von Kopf und Bauch wichtige Impulse zur Gründung der Inter-Disziplin Bildwissenschaft (und letztlich auch dieses e-journals) stammen (vgl. [SACHS-HOMBACH & SCHIRRA 2002]).


Ob man es als sinnvoller erachtet, Bildwissenschaft als eine im oben erwähnten Sinne traditionelle, also monodisziplinäre Wissenschaft zu etablieren, indem man die Kunstwissenschaft/-geschichte entsprechend ausweitet (und so letztlich ganz klassisch ein Fach als Ausgliederung der Philosophie gründet), oder, wie hier vorgeschlagen, als eine modern-interdisziplinäre Unternehmung, in dem Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte allerdings einen zentralen Platz einnehmen, mag (von forschungsstrategischen - also vor allem finanziellen - Interessen abgesehen) eine Geschmacksfrage sein, beides sogar schließlich zu ganz ähnlichen Resultaten führen. Die Ansätze im Sinn der ersten Alternative, etwa von BOEHM [1994] oder von BELTING [2001], lassen durchaus das Potential erkennen, auf lange Sicht eine Integration der bislang in den anderen beteiligten Disziplinen erarbeiteten bildwissenschaftlichen Ergebnisse zu einer umfassenden Kunstgeschichte/-wissenschaft als allgemeiner Bildwissenschaft auch zu erreichen.


Was wäre ein entscheidender Vorteil des interdisziplinären Modells? Nun, anstatt auf die erfahrungsgemäß langsam mahlenden Integrationsmühlen der Kunstgeschichte/-wissenschaft zu setzen, ermutigt es alle derzeit wissenschaftlich zu Bildern und dem Umgehen mit ihnen arbeitenden Wissenschaftler, sich unabhängig von ihrer Stammdisziplin zusammenzutun, ihre Arbeit zu ”kon-zentrieren” - eine zentripetale Bewegung, die zielgerichteter verlaufen kann als eine gegen das disziplinäre Beharrungsvermögen gerichtete zentrifugale Ausweitung einer einzelnen Disziplin. Daß der Impuls dazu von den beiden aus kunstgeschichtlicher Perspektive eher peripheren Polen Philosophie und Informatik ausgeht, hat seinen Grund womöglich gerade in dem Faktum, daß diese beiden Disziplinen sich im wesentlichen damit befassen, die Ergebnisse der vielen einzelnen Bildwissenschaften methodologisch zu klären, methodisch zu ordnen und in einer einheitlichen (nämlich algorithmisierten) Form Vielen zur Verfügung zu stellen - ein deutlicher strategischer Vorteil, wie mir scheint.


Literatur


Belting, Hans: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München: W. Fink, 2001.


Bischoff, Norbert: Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. München: Piper, 1996.


Boehm, Gottfried (Hrsg.): Was ist ein Bild? München: Fink, 1994.


Hofmann, Willhelm: Die Sichtbarkeit der Macht: Überlegungen zum Paradigmenwechsel von der ”logozentrische” zur ”ikonozentrischen” Politik. In: ders. (Hrgs.): Die Sichtbarkeit der Macht. Theoretische und empirische Untersuchungen zur visuellen Politik. Baden-Baden: Nomos, 7-11.


Jung, Carl Gustaf & M.-L. v. Franz & J. L. Henderson & J. Jacobi & A. Jaffé: Der Mensch und seine Symbole. Olten: Walter-Verlag, 1979.


Mitchell, W. J. Thomas: Picture Theory. Chicago: University Press, 1994.


Ros, Arno: Was ist Philosophy? In: Richard Raatzsch (Hrsg.): Philosophieren über Philosophie. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 1999, 36-58). (ebenso: Magdeburger Wissenschaftsjournal 1(2):19-26, 1996.) (www.uni-magdeburg.de/iphi/ar/content/t97a.htm)


Ros, Arno: Begründung und Begriff. Wandlungen im Verständnis begrifflicher Argumentationen. (3 Bände) Hamburg: Meiner, 1989/90.


Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Herbert von Harlem, 2003


Sach-Hombach, Klaus & Schirra, J.R.J.: Von der interdisziplinären Grundlagenforschung zur computervisualistischen Anwendung. Die Magdeburger Bemühungen um eine allgemeine Wissenschaft vom Bild. Magdeburger Wissenschaftsjournal 7(1):27-38, 2002. (www.uni-magdeburg.de/MWJ/MWJ2002/sachs.pdf)


Schirra, J.R.J.: Variations and Application Conditions of the Data Type ”Image”. The Foundation of Computational Visualistics. Habilitationsschrift, Fakultät für Informatik, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, 2003. (www.jrjs.de/Work/Projects/Habilitation/index.html)


Schirra, J.R.J.: Computervisualistik. In: Sachs-Hombach, K. (Hrsg.): Bildwissenschaften und Bildwissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2005 (im Druck). (www.jrjs.de/Work/Papers/P04/P04-1/index.html)


Schirra, J.R.J., Strothotte, Th.: Von Bildern und neuen Ingenieuren: Aspekte eines Studiengangs Computervisualistik. In: Dress, A. & Jäger, G. (Hrsg.): Visualisierungen in Mathematik, Technik und Kunst. Grundlagen und Anwendungen. Wiesbaden: Vieweg, 1999, 189-205. (http://www.computervisualistik.de/~schirra/Work/Papers/P98/P98-1/index.html)