Sehendes Sehen
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»Sehendes Sehen«Der Ausdruck ‘sehendes Sehen’ wurde geprägt von Max Imdahl (1925-1988), einem deutschen Kunsthistoriker, der zeitweise auch als bildender Künstler tätig war. Für Imdahls Methode der Werkanalyse, von ihm als ‘Ikonik’ bezeichnet, spielt der Begriff des »sehenden Sehens« im Zusammenhang mit Imdahls Auffassung eines »wiedererkennenden Sehens« eine grundlegende Rolle. Im Folgenden soll ein Überblick gegeben werden über die folgenden Aspekte: Imdahls Entwicklung des Begriffes »sehendes Sehen«, Bezug zur »Ikonik«, Imdahls Bezugnahme auf und Kritik an Autoren wie Fiedler oder Panofsky, Rezeption von Imdahls Methode, mögliche Anknüpfungspunkte für die aktuelle bildwissenschaftliche Forschung.
Imdahls Entwicklung des Begriffes »sehendes Sehen«Imdahl entwickelt und konturiert den Begriff des »sehenden Sehens« durch Bezugnahme auf sein Verständnis von einem »wiedererkennenden Sehen« (erstmals in einem Aufsatz von 1974; vgl. [Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996).Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen). Ausgangspunkt ist für Imdahl dabei die Annahme einer »prinzipiell möglichen Unterscheidung« ([Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996). Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 304) zwischen den beiden Weisen zu Sehen. Für Imdahls weiterführende Überlegungen, einmal im Zusammenhang mit – für ihn immer zentralen – konkreten Bildanalysen und dann im Besonderen grundlegend zur Ikonik, ist ihm die genaue Bestimmung des variablen Verhältnisses zwischen den beiden Sichtweisen von besonderem Interesse. Dabei steht das »wiedererkennende Sehen« – in Bezugnahme auf das normale, „zur Gewohnheit gewordene(n) Gegenstandssehen“ – für eine Haltung, die eine Einlösung des „im Sehenden schon vorgefaßte[n] Konzept[es]“ ([Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996). Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 304) mit sich bringt. Im Unterschied dazu wäre dann für ein »sehendes Sehen« charakteristisch, sich bei der Bildbetrachtung eben nicht auf schon vorgegebene Konzepte zu beziehen, sondern Teile einer Bildkonstruktion als „optisch autonome, immanent geregelte“ ([Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996). Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 304) zu begreifen. Beispielgebend für die Darstellung einer derartigen Bildkonstruktion führt Imdahl etwa die Malerei Cézannes an, wobei hier die „Wechselbeziehung zwischen optisch autonomer Bildkonstruktion und Gegenstand bedingt [ist] in einer Abwandlung jener normalen Verbindung zwischen sehendem und wiedererkennenden Sehen“, wie sie im normalen Gegenstandsehen zu beobachten wäre, wobei hierbei die Bildkonstruktion „in eben dieser Umwertung zugleich mit dem Gegenstande verbunden“ ([Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996). Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 304) bliebe. Wie bereits erwähnt, ist es ein zentrales Anliegen Imdahls, seine Analysemethoden immer am konkreten Werk zu entwickeln und zu überprüfen. Erkennbar ist diese Haltung auch am Titel des Aufsatzes von 1974, der eben die Namen der zu besprechenden Künstler an den Beginn stellt, und nicht etwa das für die Analyse zugrundeliegende Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. Exemplarisch für Imdahls Anwendung seiner Überlegungen, nachfolgend eine Passage zum Vergleich der Werke Cézannes und Bracques:
»Erkennendes Sehen« und »Ikonik«, Bezüge zu und Kritik an Fiedler und PanofskyDas »sehende Sehen« im Sinne Imdahls steht für eine Sichtweise, die sich von der Praxis, das betrachtete Objekt Begriffen unterzuordnen, grundlegend distanziert. In der Kritik an einer solchen Praxis sieht sich Imdahl den Auffassungen Konrad Fiedlers (1841-1895) nahestehend, der es scharf verurteilt, „die Anschauung als Mittel, zum Begriff zu gelangen“ ([Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996).Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 55, 312), aufzufassen. In dieser Kritik sieht Imdahl den „Ausgangspunkt der Fiedlerschen Lehre“ ([Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996). Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 55). Eingefordert wäre hier,
Thematisch werden damit – aus heutiger Sicht formuliert – grundlegende Fragen zur Natur nicht-propositionaler Erkenntnisformen, in Bezug auf die Wahrnehmung von Kunstwerken. Auf dieser erkenntnistheoretischen Ebene dürften auch Anknüpfungspunkte zu aktuellen bildwissenschaftlichen Debatten zu finden sein, dazu später mehr. Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 42-113), aber für die Formulierung seiner »Ikonik«, distanziert er sich zu einem späteren Zeitpunkt in entscheidenden Punkten wiederum grundlegend, nämlich bezogen auf Fiedlers „Definitionen von Form und Komposition“ ([Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996). Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 92). Seine Kritik trifft in diesen Punkten und im selben Zusammenhang auch Panofsky. Beide Autoren diskutiert Imdahl in den Passagen, die seine „ikonische Betrachtungsweise“, die »Ikonik«, begründen, im Kapitel «Ikonographie – Ikonologie – Ikonik» seines Buches über Giotto ([Imdahl 1996b]Imdahl, Max (1996). Giotto. Arenafresken. München: Fink. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 84-98). Imdahls Kritik an Panofskys ikonographisch-ikonologischer Interpretationsmethode ist dabei genau genommen, bei aller diplomatischen Bezugnahme in den vorhergehenden Passagen, grundlegend, da laut Imdahl „[b]eide Interpretationen (...) jeweils einseitig, (...) die der Malerei mögliche Bildleistung [verfehlen]“ ([Imdahl 1996b]Imdahl, Max (1996). Giotto. Arenafresken. München: Fink. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 91.).[1] Diese mögliche Bildleistung sieht Imdahl gegeben im Zusammenwirken von sehendem und wiedererkennendem Sehen, dem »erkennenden Sehen«:
Erst im vermittelten Verhältnis von sehendem und wiedererkennendem Sehen sieht Imdahl also seine ikonische Betrachtungsweise realisiert:
Rezeption von Imdahls MethodikAffirmativ etwa [Boehm 1995a]Boehm, Gottfried (1995).Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache. In Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, 23-40. Eintrag in Sammlung zeigen in dem von ihm herausgegebenen Band «Was ist ein Bild», durch Abdruck des Beitrages von Imdahl «Ikonik. Bilder und ihre Anschauung» ([Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996). Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 300-324). Im selben Band auch mit direkter Bezugnahme und weiterführenden Überlegungen Waldenfels mit seinem Aufsatz «Ordnungen des Sichtbaren» ([Waldenfels 1994a]Waldenfels, Bernhard (1994). Ordnungen des Sichtbaren. Zum Gedenken an Max Imdahl. In Was ist ein Bild?, 233-252. Eintrag in Sammlung zeigen), speziell der Teil «Kunsttheoretisches Vorspiel: Sehendes und wiedererkennendes Sehen» (234-237).[2]. Gottfried Boehm bietet eine Einführung zum Band «Reflexion, Theorie, Methode» ([Imdahl 1996c]Imdahl, Max (1996). Reflexion, Theorie, Methode. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 7-41), wobei er dort Imdahls Unterscheidung von sehendem und wiedererkennendem Sehen auf dem Weg zur Ikonik als „die wohl wichtigste, im übrigen auch die erfolgreichste Etappe“ einstuft ([Imdahl 1996a]Imdahl, Max (1996). Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode, 300-380. Eintrag in Sammlung zeigen: S. 92-29). Zur Kritik an Imdahls Geschichtsauffassung siehe etwa [Rosenberg 2006a]Rosenberg, Raphael (2006 (1996)). Ikonik und Geschichte. Zur Frage der historischen Angemessenheit von Max Imdahls Kunstbetrachtung.. Eintrag in Sammlung zeigen. Kritisch und sehr differenziert zum Verhältnis Imdahl/Panofsky: [Thürlemann 2009a]Thürlemann, Felix (2009). Ikonographie, Ikonologie, Ikonik: Max Imdahl liest Erwin Panofsky. In Bildtheorien: Anthropologische und kulturelle Grundlagen des Visualistic Turn, 214-234. Eintrag in Sammlung zeigen. Einmal aus analytischer Sicht, aber dann Imdahl kritisch bewertend: [Steinbrenner 1997a]Steinbrenner, Jakob (1997). Doppelbilder: Manet und Imdahl. In Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften, 73-97. Eintrag in Sammlung zeigen. Naheliegend aus analytischer Sicht ist dabei die Verbindung von »Ikonik« zu Goodmans Begriff der Exemplifikation. |
Anmerkungen
[Boehm 1995a]: Boehm, Gottfried (1995). Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache. In: Boehm, G. & Pfotenhauer, H. (Hg.): Beschreibungskunst, Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München: Fink, S. 23-40.
[Imdahl 1996a]: Imdahl, Max (1996). Cézanne – Bracque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildautonomie und Gegenstandssehen. In: Boehm, G. (Hg.): Max Imdahl, Gesammelte Schriften, Band 3: Reflexion – Theorie – Methode. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 300-380.
[Imdahl 1996b]: Imdahl, Max (1996). Giotto. Arenafresken. München: Fink.
[Imdahl 1996c]: Imdahl, Max (1996). Reflexion, Theorie, Methode. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
[Rosenberg 2006a]: Rosenberg, Raphael (2006 (1996)). Ikonik und Geschichte. Zur Frage der historischen Angemessenheit von Max Imdahls Kunstbetrachtung. Ausgabe 1: 2013 Verantwortlich: Lektorat: Seitenbearbeitungen durch: Joerg R.J. Schirra [23] und Eva Schürmann [1] — (Hinweis) |